No: 114

  • Sammy Harkham

EDITORIAL

STRAPAZIN 114

Die vorliegende Ausgabe von STRAPAZIN ist keine Themennummer sondern eine gemischte Nummer, eine Sammlung einiger meiner LieblingszeichnerInnen und Neuentdeckungen. Da ist zum Beispiel Sammy Harkham, dessen reduzierte Bilder und die stets präsente Melancholie in seinem Strich mich schon immer stark beeindruckten. Die Geschichte „Poor Sailor“ erschien zum ersten Mal in der stilbildenden Anthologie Kramers Ergot – die Sammy einst gründete und dessen Herausgeber er noch immer ist, – dann auch als Buch bei der amerikanischen Gingko Press. Nun endlich wurden auch Verleger in Europa auf Sammy aufmerksam; so erschienen 2013 Sammlungen seiner besten Comicsgeschichten bei den renommierten Verlagen Coconino Press (Italien) und Cornélius (Frankreich).

Marion Fayolle fiel mir durch ihre schön gezeichneten, wortlosen, dadurch aber nicht minder erzählfreudigen und bewegten Kurzgeschichten auf. Ich hoffe, bald noch mehr von ihr zu sehen.

Wer unverlangt Comicgeschichten an STRAPAZIN schickt, hat es schwer, von der Redaktion beachtet zu werden, weil wir meistens themengebundene Hefte publizieren und die verantwortlichen Redaktoren bereits genau wissen, wen sie abdrucken wollen. Matthieu Chiara hatte Glück, seine Einsendung wurde berücksichtigt, ganz einfach darum, weil mir seine ziemlich abstruse Story sofort gefallen hat.

Als Liebhaberin düsterer Geschichten kam ich nicht umhin, Stefan Baldaufs Comic in dieses Heft zu integrieren.

Ingo Giezendanner ist ja eigentlich nicht direkt der Welt des Comic verhaftet, aber genau er ist einer dieser Künstler, der die überflüssige aber oft zitierte Grenze zwischen Kunst und Comic problemlos hin und her überquert. Ich mag seine präzise Beobachtungsgabe, mit der er unscheinbare Situationen, Orte und Personen rund um die Erde in wortlosen Zeichnungen festhält.

Auf Kevin Lucberts Geschichte stiess ich bei der Lektüre von Mon Lapin, das einst einfach Lapin hiess, und wusste gleich, dass ich die Story in diesem Heft haben wollte. Auch hier: die gemischten Nummern bieten jeweils gute Gelegenheiten, neue Zeichnerinnen und Zeichner einer breiteren Leserschaft vorzustellen.

Anja Luginbühl


Biografien

Stefan Baldauf
*1969 in Baden, Kanton Aargau.
Ausbildung zum Grafiker. Lebt und arbeitet als Zeichner, Maler und Barkeeper in Zürich. Veröffent-lichungen von Bildergeschichten und Illustra-tionen in Woz, Die Zeit, Weltwoche, Züritipp, Du.

Matthieu Chiara
*1983 in Nice. Studierte an der École des Arts Décoratifs in Strasbourg, wo er 2013 mit Auszeichnung abschloss. Ebenfalls 2013 erhielt er den dritten Preis der jungen Talente in Angoulême und konnte in Vignette publizieren. Während Aufenthalten in Thailand und Spanien begann Chiara mit Kupfer- und Zinkstichen zu experimentieren, unterdessen ein wichtiger Teil seiner grafischen Arbeit. Noch dieses Jahr soll ein Buch erscheinen, das Lokalnachrichten zum Thema hat.
matthieuchiara.eklablog.com

Marion Fayolle
*1988 in Valence. Schloss 2011 die École des Arts Décoratifs in Strasbourg ab. Ihr erstes Comicalbum (ohne Worte), „L’homme en pièces“, erschien im selben Jahr. Es folgten Buchillustrationen und weitere Comicbücher, von denen es „La tendresse des pierres“ in die offizielle Auswahl des Comicfestivals Angoulême schaffte. Fayolle arbeitet auch als Illustratorin für verschiedene Magazine und Zeitungen und ist Mitherausgeberin des Comicmagazins Nyctalope. Sie lebt und arbeitet in Lyon.
nyctalope.magazine.free.fr

Ingo Giezendanner alias GRRRR
*1975 in Basel. Bereist die Welt und dokumentiert jeweils seine nähere Umgebung mit Stift auf Papier. Aus diesen Zeichnungen entwickeln sich Bilderbücher, Wandbilder, Videoclips oder installative Arbeiten. Diese Tage erscheint sein neues Buch „GRR54: Grrrringo“ bei Ediciones De A Poco in der Dominikanischen Republik. Zudem publiziert er alle seine Bildergeschichten und Stadtzeichnungen auf seiner Website.
GRRRR.net

Sammy Harkham
*1980 in Los Angeles. Lebt in Los Angeles und Sydney, Australien. Er ist Herausgeber der Comic-Anthologie Kramers Ergot, und zeichnet die Serie „Crickets“.
www.sammyharkham.com

Kevin Lucbert
*1985 in Paris. 2008 schloss er an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs de Paris (ENSAD) ab, heute lebt und arbeitet er in Berlin und Paris. Er ist Mitglied eines Künstlerkollektivs, nimmt regelmässig an Performances und Ausstellungen teil und leitet Zeichen-Workshops. Er veröffentlichte in verschiedenen Ausgaben von Mon Lapin (L’Association), auf Deutsch erschien 2013 „Einordnen“ (Mückenschwein-verlag).
www.kevinlucbert.com
kevinlucbert.tumblr.com


Illustratione: Stephan Schmitz

DAS GESCHRIEBENE WORT

von Wolfgang Bortlik

Weltkrieg, Feenminister und Schatzinsel
Vielleicht erscheint inmitten düstrer Feuer
der Teufel selbst in der Gestalt des Schweines.
Vielleicht geschieht etwas ganz ungeheuer
Blödsinniges, Brutales, Hundsgemeines.


So prophetisch schrieb ziemlich genau vor hundert Jahren, im März 1914, der expressionistische Dichter Alfred Lichtenstein. Ein knappes halbes Jahr später begann der Erste Weltkrieg und Lichtenstein selbst wie auch Kollegen hüben und drüben verbluteten in den Schützengräben. Die europäische Hochkultur, der Internationalismus der Künste war zack bumm zusammengebrochen.

Der Schock über diese „Urkatastrophe“ sitzt offensichtlich auch heute immer noch tief. Dass zu diesem Jubiläum schon ein Jahr vorher jede Menge Literatur und historische Abhandlungen über den Ersten Weltkrieg erschienen sind, ist nicht nur mit vorauseilender Geschäftstüchtigkeit zu erklären. Nach wie vor kann einen die Frage schon sehr umtreiben, wie es 1914 möglich war, dass die grossen Kulturnationen, Horte der Zivilisation, aufeinander losgingen wie räudige Köter?

Allerdings muss man den Begriff der Kultur etwas tiefer hängen. Man hat sie wohl einfach überschätzt, diese ästhetisierende Schicht, die sich international gab und künstlerisch Grossartiges schuf. Die Mehrheit der Bevölkerung folgte nicht den Künsten, sondern dem Militär und den Monarchien der europäischen Nationen. Da gab es ein Bürgertum und eine Arbeiterbewegung, deren Selbstbewusstsein immer noch sehr schwach ausgebildet war und die beim Anblick einer Uniform sofort Gehorsam signalisierte. Das Proletariat vergass blitzartig, dass es kein Heimatland hat und marschierte – mit wenigen Ausnahmen – brav auf die Schlachtfelder.

Schaut man sich nur mal die Bilder vom Weltkrieg an, sieht man groteske Pickelhaubenschnäuze, verblödete Monarchen, Herrenreiter und andere prächtige Exemplare der Männerwelt, die das 20. Jahrhundert von Anfang an versaut haben. Es kommt einem so vor, als müsste das Böse, das Stumpfe noch einmal aus den Menschen heraus, damit dann endlich Ruhe und Frieden einkehren. Aber die Menschheit lernt nicht aus der Geschichte, auch hundert Jahre später ist immer noch keine Ruhe. „Elender Krieg“ beispielsweise, die Graphic Novel von Jacques Tardi, ist sowohl ein bildnerisches wie auch historisches Meisterwerk über den mittlerweile allgemein so genannten „Grossen Krieg“.

Schreckliche und entlarvende Bilder des Ersten Weltkriegs gibt es auch in einem Buch mit dem Titel „Die letzten Tage der Menschheit“ zu sehen. Die Bilder und Texte spannen den Bogen von der Kriegsbegeisterung im August 1914 bis hin zum bitteren Ende des Krieges, von der Kriegshetze in den Medien bis zu den trostlosen, zerstörten Schlachtenlandschaften. Der Titel ist von Karl Kraus, der so sein dokumentarisches Theaterstück über den Ersten Weltkrieg genannt hat. Auch dieses gewaltige Drama, 800 Seiten, fünf Akte mit 220 Szenen, ist wieder aufgelegt worden. Etwa ein Drittel des Inhalts ist dokumentarisch, Zeitungsartikel, Gerichtsurteile, Marschbefehle. Kraus schreibt im Vorwort: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Mehr muss man eigentlich nicht lesen über das Völkerschlachten.

Die Frage, welche die meisten der zum Jubiläum erschienenen Bücher über den Ersten Weltkrieg antreibt, nämlich, wer den ganzen Schlamassel eigentlich angezettelt hat, diese Frage ist eigentlich gar nicht so interessant. Schlussendlich hat jede Nation begeistert mitgemacht. Auch Literaten und andere Künstler liessen sich zur Propaganda einspannen oder an die Front schicken, wo sie prompt verreckten, etwa Charles Peguy, Wilfred Owen, August Macke, Guillaume Apollinaire, der oben zitierte Lichtenstein, um nur ein paar bekanntere Namen zu nennen.

Ein grosser Sprung vom Krieg zwischen den Menschen hin zum Krieg zwischen Elfen und Menschen: Vor geraumer Zeit gab es einen verwunderten Aufruhr in der literarischen Welt, weil ein offensichtlich 16-jähriger Zürcher Autor mit einem englisch geschriebenen Fantasy-Roman namens „The Peculiar“ zum Bestsellerautor in den USA geworden war. Besagter Autor heisst Stefan Bachmann, ist 1993 geboren, lebt in Adliswil, besucht das Konservatorium und will offensichtlich Filmkomponist werden. Jetzt ist der 2012 herausgekommene Roman als „Die Seltsamen“ in Deutsch erschienen. Die Handlung spielt in einem idealisierten England. Die Menschen nutzen Dampf und Mechanik, die Elfen ihre Magie, wenn das zusammenkommt, nennt man das Steampunk. In diesem Roman, der von guten Ideen nur so überquillt, sind mechanische Vögel die Geheimnisträger in der Auseinandersetzung zwischen Menschen und Elfen. Die Handlung ist einfach und logisch, aber die Spannung wird durch ein bisschen schludrig beschriebenes Personal gemindert. Wenn man sich jedoch beim Lesen bewusst wird, dass so etwas ein 16-Jähriger geschrieben hat, dann ist man schon verwundert bewundernd. Held des Romans ist der Mischling Barthy – Mutter Mensch, Vater Fee –, der seine Schwester sucht. Offensichtlich verschwinden diverse Mischlingskinder, weil sie als Pforte zum Feenreich dienen können. Den finsteren Machenschaften eines Feenministers und seiner künstlichen Kreaturen kommt auch der tollpatschige Politiker Mr. Jelliby auf die Spur. Leider hört der Roman weder im Guten noch im Bösen auf, aber die Fortsetzung ist schon geschrieben und wird im Herbst erscheinen.

Nichts mit einem Weltkrieg, eher mit dem individuellen Fight, und einiges mit Fantasy hat normalerweise der amerikanische Autor Joe R. Lansdale zu tun. Lange hat er, 1951 in Texas geboren, schreiben müssen, um hierzulande einigermassen bekannt zu werden. Vielerlei Preise sind ihm zuerkannt worden, alle im Bereich von Horror, Fantasy und populärer Geschichte. Und da kriegt das seriöse Feuilleton normalerweise ja den Horror und schweigt grosszügig. Das ist selbstverständlich dumm, denn Lansdale hat grosse Verdienste für ein ganzes Genre vorzuweisen. Er kommt einfach auf grandiose Ideen, er erzählt zügig und trotz aller Härte ist immer noch viel schwarzer Humor im Spiel. Dabei überschreitet er alle Grenzen und schafft so eine ganz neue Kombination von Crime, Horror, Fantasy und Science Fiction.

2007 erschien sein Roman „Lost Echoes“, der vor Kurzem als „Blutiges Echo“ in Deutsch herausgekommen ist. Harold Wilkes, der junge und etwas tumbe Held, hat eine grosse Fähigkeit: Wenn er an den Ort eines gewaltsamen Todes kommt, dann reagiert ein Teil seines Hirnes sozusagen als Filmprojektor und spielt ihm in seinem Kopf sofort die damaligen tödlichen Ereignisse vor. Das kann einen selbstverständlich ziemlich nerven, wenn man sich in ein Auto setzt und sich plötzlich mitten in einem tödlichen Unfall befindet. Harold flüchtet in den Alkohol, der seine Fähigkeiten betäubt. Sein Saufkumpan ist der ehemalige Kampfsportler Tad, der sich die Schuld am Tod seiner Familie gibt. Die beiden Unglückseligen geraten in allerhand Kalamitäten, als Harolds Jugendfreundin Kayla den Mord an ihrem Vater aufklären will. Harold stimmt zu und spielt ein letztes Mal das Medium. Lansdales unterschwellige politische Botschaften und Konzeptionen der Selbstverteidigung sind nicht immer was für differenziertere Weltanschauungen, aber spannend sind seine Romane allemal.

Im Zusammenhang mit dem Titelbild und dem Haupt-Comic in dieser Ausgabe des STRAPAZIN vielleicht zum Schluss noch ein Buch über Seefahrt und Piraterie: Viele kennen sicherlich Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“, wo eingehend geschildert wird, wie der naive Jim Hawkins sich mit dem durchtriebenen, einbeinigen Schiffskoch und Oberpiraten Long John Silver auseinandersetzt. Jetzt gibt es eine Fortsetzung der Geschichte, in welcher der Sohn von Jim Hawkins, Jim jr., sich mit Silvers Tochter Natty zusammentut, um den Rest des Schatzes, der einst zurückgelassen wurde, von der Insel zu holen. Dort aber haben die drei damals zurückgelassenen Piraten ein Schreckensregime errichtet und es kommt zu allerhand tödlichen Auseinandersetzungen. Es passiert mir selten, dass ich nach der Lektüre voller Überzeugung sage, dass der Roman totaler Mist ist, aber eine halbe Stunde später denke, nein, das Buch ist eigentlich eher merkwürdig oder vielleicht sogar grossartig. Das ist nun hier der Fall. Sir Andrew Motion, der Autor dieser „Schatzinsel“-Fortsetzung, weckt jedenfalls sofort Argwohn. Er war von 1999 bis 2009 der Poet Laureate des Vereinigten Königreichs, also der lorbeergekrönte Hofdichter seiner Majestät Elisabeth II. In dieser Zeit hat er wohl nicht geübt, Action-szenen zu schreiben. Seine Kampfbeschreibungen, aber auch der Aufbau von Spannung in „Silver“ sind eher höfisch und verinnerlicht, durchreflektiert und träumerisch. Besser kann ich das nicht ausdrücken. Dieser Roman ist jedenfalls das absolute Gegenteil von Action-Literatur, obwohl ständig das Böse gegen das Gute bzw. das Gute gegen das Böse kämpft. Aber immer mit ziemlich stumpfen Waffen – oder so.

BOOKLIST

Anton Holzer (Hg.): „Die letzten Tage der Menschheit“.
Der Erste Weltkrieg in Bildern. Mit Texten von Karl Kraus.
Primus Verlag, 144 S., Euro 29.90 / sFr. 40.-

Karl Kraus: „Die letzten Tage der Menschheit“.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franz Schuh.
Verlag Jung & Jung, 808 S., Euro 28 / sFr. 38.-

Stefan Bachmann: „Die Seltsamen“.
Diogenes Verlag, 367 S., Euro 16.90 / sFr. 24.90

Joe R. Lansdale: „Blutiges Echo“.
Golkonda Verlag, 308 S., Euro 16.90/ sFr. 24.40

Andrew Motion: „Silver“.
Rückkehr zur Schatzinsel.
Mare Verlag, 477 S., Euro 22 / sFr. 31.50

 

 


Illustrationen: Sammy Harkham

DAS MAGAZIN

Joann Sfar: Vampir

Das Land der Phantome

Der Golem und der Baummann, Professor Bell und der Geist Eliphas, die Mandragora-Liane und Michael Douffon, Humpty-Dumpty und die Katze des Rabbiners und natürlich der Grosse Vampir: Fast alle Protagonisten aus dem umfangreichen Werk Joann Sfars tummeln sich in „Vampir“, einem opulent gestalteten Band um den depressiven Blutsauger mit Liebeskummer. Hier findet quasi eine Bestandsaufnahme eines sich stets erweiternden Figuren- und Motivkosmos statt, der mit dem Zeichner wächst und altert, wie er im Nachwort erläutert: „Ich liebe es, diese Figuren weiter zu erforschen und sie mit mir altern zu lassen. Je weiter es geht, desto sentimentaler werden sie.“ Und in der Tat: Es liegt eine Melancholie über den Geschichten, eine Trauer über eine aus dem Ruder gelaufene Welt, kleine und grosse Schicksalsschläge. Der jüdische Buchhändler Elija, der nach dem Mord an seiner Frau und Tochter mit einem friedfertigen Golem zusammenlebt, fasst zusammen: „Wir sind alle sehr unglücklich. Deine Frau ist weg. Meine Tochter ist tot. Der Vampir weiss noch nicht mal, was er hat. Und der Golem da ist so dämlich, dass er’s nicht mal schafft, traurig zu sein.“ Doch trotz aller Traurigkeit bleibt Sfars Werk voll subtilem Humor und besticht durch seine Leichtigkeit des Spiels mit Zitaten aus der Kulturgeschichte, dem Werk Kafkas und jüdischer Symbolik; ein Humor, schwebend wie der Vampir, und doch schwer beladen wie die jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wie kaum ein anderer Zeichner gelingt es Sfar, eine Balance zu finden zwischen historischen Bezügen und einer phantastischen Welt, bevölkert von Geistern, Phantomen und Vampiren, die sich jedoch mit den gleichen Problemen herumzuschlagen haben wie die Menschen. Auch dort existieren Vorurteile, Antisemitismus, Mord und Hass. Die Protagonisten Sfars, allesamt beladen mit Komplexen und Problemen, Ängsten und Hoffnungen, suchen Gesellschaft und Liebe, Freundschaft und Geborgenheit in einer düsteren Welt. Dass sie finden, was sie suchen und brauchen, wünscht man ihnen mit jeder Seite, die man verschlingt. Dass dazu wenig Hoffnung besteht, weiss man ebenso – die Bildwelten Sfars lassen nur einen Vorschein des Glückes zu, solange die Welt ist, wie sie ist.

Dass Joann Sfars Werk in seiner Virtuosität in Themen und Stil einzigartig ist, hat mittlerweile auch die Kunstwelt bemerkt und dem Zeichner im Kunsthaus Dresden von Januar bis März 2014 die erste Einzelausstellung in Deutschland gewidmet. Dort treffen die Figuren aus dem Vampir auf die Klezmer-Gruppe und Chagall, den algerischen Rabbi sowie Desmodus, den kleinen Vampir, um gemeinsam die Zwänge des Comics und der Schwerkraft zu überwinden und sich, im Raum schwebend, auf die Suche nach einer besseren Welt zu begeben.

Jonas Engelmann

Joann Sfar: „Vampir“.
avant-verlag, 216 S., Hardcover, farbig,
Euro 29.95 / sFr. 48.90

Reinhard Kleist & Tobias O. Meissner: Berlinoir

Vampire über Berlin

Berlin, vermutlich irgendwann im letzten Jahrhundert. Die Stadt wird von Vampiren beherrscht. Als Nahrung dient ihnen das Blut der Menschen, denen es in fabrikähnlichen Anlagen abgezapft wird. Lediglich eine kleine Gruppe Aufständischer lehnt sich dagegen auf und versucht immer wieder, Attentate auf die Führungsriege der Vampire zu verüben. Einer ihrer wichtigsten Kämpfer ist Niall, welcher der Nachfolger des alten Anführers werden soll. Doch sein Schicksal erfährt eine dramatische Wendung, als er sich während eines Anschlags auf einen hochrangigen Vampir in dessen Begleiterin Hellen verliebt.

„Berlinoir“ ist eine dreiteilige Comic-Serie des Zeichners Reinhard Kleist (u. a. „Cash“, „Castro“, „Der Boxer“) und des Autors und Lyrikers Tobias O. Meissner, der vor allem durch seine Fantasy-Romane bekannt wurde. Ursprünglich erschien die Trilogie zwischen 2003 und 2008 bei Edition 52, jetzt hat Carlsen eine Gesamtausgabe herausgebracht, für die Kolorierung und Lettering noch einmal überarbeitet wurden. Man könnte Carlsen vorwerfen, damit an das durch die „Twilight“-Filme ausgelöste Vampir-Revival anknüpfen zu wollen, aber die düstere Vision von Kleist und Meissner dürfte sich an eine andere Zielgruppe richten. „Berlinoir“ ist zwar eine Fantasy-Erzählung, aber gleichzeitig auch ein Thriller und eine Politparabel. Die Geschichte spielt in einem fiktiven Berlin, eben „Berlinoir“, das zeitlich nicht genauer bestimmt wird. Doch Handlung und Bilder sind randvoll mit Anspielungen auf die deutsche Geschichte, wobei hier verschiedene Zeitebenen miteinander verschmolzen werden: Die Blutfabriken erinnern an Konzentrationslager, es kommt zum Mauerbau und -fall, und die ausschweifenden Parties lassen einen an die Goldenen Zwanziger-Jahre denken. An einigen Stellen wird auch ein gewisser augenzwinkernder Humor spürbar, etwa wenn der Berliner Bär hier mit Vampirzähnen dargestellt wird.

Kleist hat die Geschichte in schattenreichen, teils atemberaubenden Bildern umgesetzt. Besonders beeindrucken die detailreichen Darstellungen der Stadt als Labyrinth aus Wolkenkratzern, die immer wieder auf Fritz Langs „Metropolis“ verweisen. Herausragend sind auch die zahlreichen Action-Szenen, die völlig ohne lautmalerische Darstellung von Geräuschen auskommen und dadurch eine besondere Hypnotik entwickeln. Zusammen mit der hoch spannenden Handlung erzeugt „Berlinoir“ so einen dunklen Sog, der einen unweigerlich mit sich zieht.

Jan Westenfelder

Reinhard Kleist & Tobias O. Meissner: „Berlinoir“.
Carlsen, 148 S., Hardcover, farbig,
Euro 24.90 / sFr. 35.50

Henning Wagenbreth: Plastic Dog

Analog ist besser

Kann sich noch jemand an die ersten Palm-Computer erinnern? An die sogenannten Handheld-Computer, Palm-Pilots, auf denen man mit einem Plastikstift schreiben konnte? Inzwischen ist Palm auch in das Smartphone-Business eingestiegen, und ihre ersten Modelle gehören längst zu Fossilen der schnelllebigen Computer-Evolution. 2004 hat Henning Wagenbreth die Comic-Serie „Plastic Dog“ sowohl als Druckversion für die Wochenzeitung Die Zeit als auch zum Download über seine Website für Taschencomputer (wie u.a. von Palm) entwickelt. Erstmals wurde von Wagenbreth der Palmcomputer und seine grobpixelige Bildschirmauflösung (160 x 160 Pixel) für visuelle Experimente genutzt, anfänglich schwarzweiss, später auch bunt. Eine absolute Innovation im Comic. Die neuen, aber zugleich auch sehr begrenzten Möglichkeiten, visuelle Ideen auf dem Taschencomputer umzusetzen, inspirierten Wagenbreth zudem dazu, elektronische Comics zu entwerfen.

Protagonist des Comics ist der gleichnamige „Plastic Dog“, ein digitaler Wiedergänger von mythischen Hunden wie Kerberos, der das Tor zur griechischen Unterwelt bewacht, oder des ägyptischen Totengottes Anubis. „Plastic Dog“ ist Antiheld und Superheld in einer Kreatur und bewegt sich wie seine Vorbilder zwischen den Welten, im Besonderen der digitalen und analogen Welt sowie der Vergangenheit und Zukunft. Es überrascht einem beim Lesen allein schon, wie zeitlos aktuell Wagenbreths Geschichten sind, welche die digitale Welt zum Thema haben, wenn es z. B. um die Personenüberwachung via Internet geht. Noch weitaus mehr erstaunt, wie seine Comic-Serie weiterlebt und welche Transformationen sie durchgemacht hat. Zunächst entstand sie in einer Auftragsarbeit als Urform des Comics, als Comic-Strip einer Zeitung, zeitgleich gab es die Downloadversion als erster digitaler Comic und jetzt als Printversion. Wobei letztere sicherlich diejenige ist, welche die digitale Version überleben wird. Analog ist besser…

Matthias Schneider

Henning Wagenbreth: „Plastic Dog“.
Metrolit Verlag, 32 S., Hardcover, farbig,
Euro 19.99 / sFr. 28.90

Hubert/Kerascoët: Schönheit

Objekt der Begierden

„Schönheit“ beginnt wie ein klassisches Märchen: Morue ist ein hässliches Mädchen, das bei seiner bösen Patin aufwächst. Als sie an einem Tümpel ihr Schicksal beklagt, fällt eine Träne auf eine Kröte – und diese Träne erlöst eine verwunschene Fee. Was sich Morue als Dank wünsche, fragt die Fee. „Schönheit“, antwortet Morue. Fortan ist Morue in den Augen ihrer Betrachter eine atemberaubende Schönheit. Mit diesem Feenzauber durchdringen Hubert und das Zeichner-Tandem Kerascoët die Welt der Märchen: Auf den folgenden 150 Seiten spielen in weiteren Nebenrollen Fürsten und Könige mit, schmeichelnde Höflinge und missgünstige Aristokratinnen sowie böse Feen – und natürlich endet „Schönheit“ mit einer (besser gesagt: mit einer zwei- oder gar dreifachen) Moral.

Allerdings bürstet Hubert die Welt der Märchen gegen den Strich. Im Gegensatz etwa zu Aschenbrödels Ballkleid bringt die Schönheit Morue nicht das ungetrübte Glück an eines netten Fürsten Seite ein, bis der Tod sie scheidet. Die Schönheit macht ihr Leben nur kompliziert, vor allem als ihr die angeblich gute Fee einflüstert, mit ihrer Schönheit dürfe sie sich mit keinem Geringeren als einem König zufriedengeben. Das ist der eine kritische Punkt. Eine weitere Problematik ist, dass Morue von allen Männern – ob Bauern, Soldaten oder Königen – begehrt wird. Die Männer sind für sie zum Äussersten bereit. In der Folge stürzen sie das Land in Krieg und Elend, während die selbstverliebte Morue in ihrer höfischen Idylle jeglichen Bezug zum Leben ihrer Untertanen verliert.

Es ist überaus raffiniert, wie Hubert mit den altbekannten Versatzstücken spielt, um eine sehr zeitgemässe Geschichte über Schein und Sein und unseren Schönheitskult zu erzählen. Dazu passend sind die Zeichnungen von Kerascoët: Der französischen Tradition verpflichtet und mit Märchenhaftem spielend, verknüpfen sie dank ihres Strichs und der plakativen Farben eine gewisse Nostalgie mit resoluter Modernität. Lange findet die Schöne in dieser immer wieder überraschende Haken schlagenden Geschichte keinen Ausweg aus ihrem Albtraum – wie sie sich dann aber schliesslich vom Objekt der männlichen Begierden zum Subjekt emanzipiert und ihr Schicksal (und das ihres Landes) selbstbewusst in ihre Hände nimmt, ist ebenso clever wie wunderbar. Märchenhaft eben.

Christian Gasser

Hubert/Kerascoët: „Schönheit“.
Reprodukt Verlag, 152 S., Hardcover, farbig,
Euro 36 / sFr. 49.90

Joe Sacco: Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme

Das Ende der Illusionen

Vor etwas mehr als zehn Jahren führte ich mit Joe Sacco ein längeres Interview*, in dem mir der Zeichner gestand, seit seiner Kindheit von Kriegsgeschichten fasziniert zu sein. Aufgewachsen in Australien, las er Comics wie Sgt. Rock (USA) oder Battle (UK), die ihn dazu brachten, sich als Erwachsener mit der Geschichte des Ersten Weltkriegs zu beschäftigen, des „Kriegs, der alle Kriege beenden sollte“. Zwar handeln Saccos Comics oft vom Krieg – man denke an seine Werke „Palästina“ oder „Bosnien“ – doch ging es darin um Konflikte des späten 20. Jahrhunderts.

Mit seinem neusten Buch „Der Erste Weltkrieg: die Schlacht an der Somme“ beschäftigt er sich zum ersten Mal mit dem blutigen Konflikt, der vor hundert Jahren das europäische Gefüge zum Einsturz brachte. Das Resultat ist ein ganz aussergewöhnlicher Bilderbogen. Obwohl sich Sacco eigentlich nicht als Comic-Zeichner oder Illustrator versteht, sondern die Bezeichnung Journalist vorzieht, ist „Der Erste Weltkrieg“ ein wunderbares Beispiel zeichnerischer Erzählkunst. Sacco entrollt in diesem Leporello, das ausgefaltet über 7 Meter lang ist, mit chronologischer Präzision den ersten Tag der unglaublich blutigen Schlacht an der Somme, angefangen mit General Haigs Spaziergängen im Park des Schlosses, das ihm als Hauptquartier diente, bis zu den Leichenbergen, die auf ihre Bestattung in Massengräbern warten.

Dazwischen tobt die Schlacht, die Granaten explodieren in beinahe impressionistischem Stil, und Seite um Seite breitet sich das Gemetzel aus, das sinnlose Massaker, für immer eingefroren in der Zeit. Die mittleren Seiten des Buches bilden das eigentliche Herzstück, hier schwelgt Sacco in Landschaftsbildern und detaillierten Schilderungen der Soldaten und ihrer Ausrüstung, der Wagen, der Schützengräben, des Stacheldrahts, der Kanonen, Züge, Pferde und natürlich vor allem der Sterbenden, von denen mehr in namenlosen Gräbern irgendwo in den Feldern Frankreichs liegen als auf offiziellen Soldatenfriedhöfen.

„Der Erste Weltkrieg“ lehnt sich ganz offensichtlich an den Teppich von Bayeux an; ist also kein Comic im strengen Sinne, sondern vielmehr ein beeindruckendes Beispiel zeichnerischen Erzählens – wunderschön, erschreckend, poetisch, meditativ und immer zutiefst deprimierend. So genial das Buch jenen kurzen historischen Moment einfängt, so eindringlich stellt es die Frage, die bis heute schmerzlich relevant bleibt: Warum bloss betreiben wir Menschen einen derart riesigen Aufwand, um uns gegenseitig abzuschlachten? Sacco beschreibt in seinem Essay, der neben einem ausführlichen Vorwort des Historikers Adam Hochschild Teil des Buches ist, das Töten an der Somme folgendermassen: „Man war am Punkt angelangt, an dem sich niemand mehr Illusionen über das Wesen des modernen Kriegs machen konnte.“

Saccos Werk ist mehr als nur ein Buch über den Ersten Weltkrieg, mehr als eine fantasievoll gestaltete Graphic Novel, es ist auch und vor allem ein Stück grandiose Kunst.

Mark David Nevins

Joe Sacco: „Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme“.
Edition Moderne, Leporello mit 24 Blättern im Schuber, s/w ,
Euro 35 / sFr. 49.-

*Das komplette Interview erschien 2002 im International Journal of Comic Art, Vol. 4, Nr. 2 (in Auszügen im STRAPAZIN Nr. 66).

Dean Motter u. a.: Mister X

So viel zu tun, und so wenig Zeit

Mitte der 1980er-Jahre herrschte eine Aufbruchsstimmung in der Comic-Szene, die Underground und Mainstream für eine kurze Zeit auf ähnliche Weise erfasste: Alan Moore, Frank Miller und andere stellten im Mainstream verrückte Dinge an, während in Art Spiegelmans Comic-Magazin Raw so ziemlich jeder, der damals im Underground an der Erweiterung und Verfeinerung der Comic-Sprache arbeitete, veröffentlichte.

Kurz bevor 1986 die beiden bahnbrechenden Superhelden-Comics „Watchmen“ von Allan Moore und „Batman“ von Frank Miller das Genre nachhaltig dekonstruierten, hatte bereits Dean Motter die Postmoderne in den Comic getragen, und das mit Hilfe einiger damals noch unbekannter Comic-Autoren, die schon bald einen grossen Einfluss auf die Comic-Szene ausüben sollten: 1985 erschien die von Motter konzipierte Serie um den drogensüchtigen Architekten Walter Eichmann alias „Mister X“, dessen Zukunftsvision einer Stadt zum Albtraum mutiert ist. Eigentlich sollte die am Reissbrett geplante Stadt zum Wohle der Menschheit sein. Doch als sich Eichmann aus dem Projekt zurückzieht, weil es ihm über den Kopf wächst, macht sein Partner mit einem neuen Team weiter. Dabei werden viele Details von Eichmann wegrationalisiert. Die Folge ist eine extreme Schieflage in der Psychoarchitektur der Stadt – zahlreiche Selbstmorde, Gewaltverbrechen und andere Delikte künden vom Scheitern des Projektes. Als Eichmann davon erfährt, will er zurück in die Stadt, um die Entgleisungen zu korrigieren. Behilflich sind ihm die von ihm geplanten Geheimgänge, die alle wichtigen Gebäude miteinander verbinden. Und eine von ihm selbst entworfene Droge, die ihn tage- und wochenlang wach hält. Denn, wie er regelmässig stöhnt: „So viel zu tun, und so wenig Zeit“. Doch die Droge zollt ihren Tribut, und die korrupten Machtgefüge in der Stadt sind komplex und verwirrend.

Gezeichnet wurde die Serie von damals noch wenig bekannten Erneuerern des Comics wie Seth oder den Hernandez Brothers (Kurzgeschichten kamen ausserdem von Dave McKean, Bill Sienkiewicz oder Neil Gaiman). Cooles New-Wave-Design paart sich mit Film-Noir-Referenzen, Selbstreferentialität und trockener Humor charakterisieren die einflussreiche Serie, die nun erstmals auf Deutsch in einem dicken Hardcover-Band erscheint. Der Superheld hat bei Motter keine Superkräfte, sondern nur eine Droge, die ihn über weite Strecken wie einen Junkie wirken lässt. Alleine die Geheimgänge sind seine exklusive Waffe gegen die Korruption. Doch die sind ebenso verwirrend wie die wahre Identität des Antihelden, dessen Backstory sich mehr als einmal in der Geschichte ändert. So wie die Story werden auch die Zeichnungen von Seth, welcher den Grossteil der Serie bewältigt hat, immer dunkler und mysteriöser. Ein einflussreiches und auch heute noch faszinierendes Werk voller Humor, Abgründe und kultureller Referenzen.

Christian Meyer

Dean Motter u. a.: „Mister X“.
Verlag Schreiber & Leser, 384 S., Hardcover, farbig,
Euro 39.80 / sFr. 59.90

Blexbolex: Ein Märchen

Es war einmal…

Blexbolex überrascht erneut! Der französische Illustrator und Buchkünstler hat nach „Leute“ und „Jahreszeiten“ mit seiner aktuellen Publikation „Ein Märchen“ ein weiteres illustriertes Wunderwerk geschaffen. Kongenial experimentiert der Wahlleipziger auf der erzählerischen und visuellen Ebene mit tradierten Elementen des Märchens. Für die aussergewöhnliche Erzählweise wurde Blexbolex von dem Comic-Künstler Laurent „Le Lièvre de Mars“ inspiriert. Blexbolex beginnt mit einer alltäglichen Schilderung des Schulweges eines Kindes. Diese wird mehrmals erzählt, wobei die vorhergehende Version aufgegriffen wird, und dann um fantastische Motive erweitert wird. Während die erste Version rein beschreibend ist, jeweils mit einer Illustration zu „Die Schule“, „Der Weg“ und „Das Zuhause“, werden die folgenden Versionen – insgesamt 7 an der Zahl – immer fantastischer und märchenhafter. Eine bunte Welt des Märchens tut sich dem Leser auf. Die Geschichte wird um bekannte Figuren wie „Der Fremde“, „Die Hexe“, „Die Prinzessin“ sowie „Die Räuber“ und „Der Finsterling“ ergänzt. Der Weg von der Schule nach Hause wird zum Märchen-abenteuer, in dem sich Gut und Böse ein Stelldichein geben. Es wird verwunschen und geraubt, gejagt und geliebt, gerettet und geheiratet, ganz so wie im richtigen Märchen. Automatisch fühlt man sich an seine eigene Kindheit erinnert, als der Heimweg von der Schule einer unendlichen Reise glich, in der Tag für Tag fantastische Abenteuer erlebt wurden. Neben den farbenprächtigen Illustrationen ist es die märchenhafte Erzählweise, die diese Publikation zu einem ganz besonderen Leseereignis macht. Darüber hinaus hat Blexbolex auch für „Ein Märchen“ eine originäre visuelle Sprache geschaffen, die sowohl von der Ligne claire als auch von Josef Ladas Illustrationen inspiriert ist, wie man etwa an der wunderbaren Reminiszenz der „Räuber“-Figuren erkennen kann. Eindrücklicher und schöner kann nicht gezeigt werden, wie die Fantasie die Welt verändern kann. Ein Meisterwerk der Illustrations- und Buchkunst, das Blexbolex mit „Ein Märchen“ geschaffen hat.

Matthias Schneider

Blexbolex: „Ein Märchen“.
Jacoby & Stuart, 240 S., Hardcover, farbig,
Euro 19.95 / sFr. 28.50

Gipi: unastoria


Zurück zu den Comics

Böse Zungen behaupten, seine Misserfolge als Filmemacher hätten ihn zum Comic zurückgebracht. Doch Kritiker haben sich mehrheitlich positiv über die Filme „L’ultimo terrestre“ oder „Smettere di fumare fumando“ des italienischen Autoren Gipi geäussert. Die cineastischen Eskapaden haben ihn vermutlich von der Schreib- und Zeichnungsblockade, die ihn seit 2008 plagte, befreit. Nach LMVDM („La mia vita disegnata male“), einem biografischen, wilden Gekritzel ohne roten Faden, ist Gipi mit „unastoria“ wieder auf bestem Weg zur alten Form.

Erzählt wird die Geschichte des erfolgreichen Schriftstellers Silvano Landi (oder Gipi?), der – inzwischen auf die Fünfzig zugehend – nach der Trennung von seiner Frau langsam den Verstand verliert und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Von zwei Bildern ist er besessen: von einer Tankstelle und einem blätterlosen Baum (das Cover dieses Buches). Beide Visionen hält er ununterbrochen auf Papier fest. Ebenso ist er von den Briefen seines Urgrossvaters Mauro fasziniert, welche dieser von der Front des Ersten Weltkriegs an Frau und Kind schreibt. Die Geschichte von Silvano und Mauro verschmelzen im Verlauf der Erzählung zu einer Geschichte. Beide Stränge handeln von der Schönheit der Natur, vom Empfinden von Schönheit und Glück sowie von der Vergänglichkeit: Das zunehmende Alter (der Baum) und der Zeitpunkt, an dem alles in die Brüche geht (die Tankstelle, an der die Tochter ihn aussetzt), machen Silvano zu schaffen, während sich Mauro im Schützengraben – im Schatten des einzigen Baumes in einer vom Krieg verwüsteten Landschaft – nach seiner Familie und der idyllischen Natur seiner Heimat sehnt.

Wie gewohnt, vermischt Gipi gekrakelte Schwarzweiss-Zeichnungen mit bunten Aquarellbildern und verleiht mit diesen formalen Gegensätzen seiner Erzählung mehr Dramatik. Die trostlose Kriegslandschaft und die einfachen Worte Mauros von der Front an seine Frau erzeugen eine Poesie, die an den italienischen Kriegsdichter Giuseppe Ungaretti erinnert. Mit „eine Geschichte“ kann Gipi zwar seine vertrauten Leser nicht überraschen – die Themen Weltkrieg, Familie, biografische Nabelschau, Selbstreferenz des Erzählers sind auch hier vorhanden – doch scheint er langsam, aber sicher seine Stimme wieder gefunden zu haben.

Giovanni Peduto

Gipi: „unastoria“.
Coconino Press, 128 S., Softcover, farbig,
Euro 18

David Cantolla, Juan Díaz-Faes: Scheitern als Erfolg. Kung-Fu für Unternehmer

Philosophie für Firmengründer

Wir schreiben das Jahr 2001. Soeben ist das spanische Internet-Unternehmen Teknoland in der „Dotcom-Blase“ pleite gegangen. Wie viele IT-Firmen dieser Zeit kann das hoffnungsvoll gestartete Jungunternehmen die überhöhten Gewinnerwartungen nicht mehr erfüllen und muss sein Geschäft einstellen. Eben noch hochgejubelt, stehen die Firmengründer Luis Cifuentes und David Cantolla über Nacht vor dem Ruin. Finanzkräftige Freunde finden sie in ihrer Situation keine mehr. Nach einem letzten Dinner, das er sich und seiner Frau gönnt, hält Cantolla gerade noch 5 Euro in der Hand. Doch David Cantolla ist Unternehmer mit Leib und Seele: Der Aufprall und seine Nachwirkungen mögen noch so hart sein, Cantolla macht weiter: „Wieder bei null anfangen“, sagt er sich. Auf dem Weg zurück lässt er sich von den Kung-Fu-Sprüchen des (fiktiven) Meisters Yan leiten: „Wenn du lächelst, will die Welt an deiner Seite sein.“

Diese Anleihen bei fernöstlichen Weisheiten sind kein Gegensatz zur Hektik der Börsen; schliesslich steht „Kung-Fu“ wörtlich für eine Fähigkeit, die man durch harte Arbeit erlangt. Das drückt sehr genau Cantollas Einstellung aus. Auch der Panda, der im Comic regelmässig mit gutem Rat aufwartet, steht sinnbildlich für ein Wissen, das Träume zum Leben erweckt. Genau davon, wie man seinen Traum weiterlebt, handelt die spanische Graphic Novel „Scheitern als Erfolg. Kung-Fu für Unternehmer“. Cantolla selbst ist als Schöpfer der international preisgekrönten Kinder-TV-Zeichentrickserien „Pocoyo“ und „Jelly Jam“ zum Erfolg zurückgekehrt.

Der ruhige Strich von Zeichner Juan Díaz-Faes hebt sich dabei auffallend von der glatten Ästhetik des Internets ab. Witz und Pointe stecken bei ihm im Detail, wie sich an der Sequenz ermessen lässt, als die Firmengründer bange die Minuten zählen und bis zuletzt hoffen, dass jemand in letzter Sekunde doch noch die Firma rettet.

Indem sie die Höhen und Tiefen der frühen Internet-Pioniere aus Cantollas eigener Erfahrung schildern und den Niedergang seiner damaligen Firma vom bitteren Ende her aufrollen, gelingen Cantolla und Díaz-Faes etwas, worum sich Sach-Comics oft vergeblich bemühen: Sie lassen die Leser förmlich spüren, wie die Hoffnungen und Handlungen einzelner Menschen eine ganze Wirtschaft beleben, aber auch zum Absturz bringen können. Wer die grosse Kapitalismuskritik erwartet, wird bei „Scheitern als Erfolg“ nur bedingt fündig. Eher schon kann man diese Graphic Novel als pfiffige Philosophie für Unternehmensgründer verstehen.

Florian Meyer

David Cantolla, Juan Díaz-Faes: „Scheitern als Erfolg. Kung-Fu für Unternehmer“.
Egmont Verlag, 280 S., Softcover, zweifarbig,
Euro 24.99 / sFr. 36.60

Kurz und Gut

Von Christian Meyer

Quentin Tarantino ist nicht nur ein ausgewiesener Fan von B-Movies, er liebt auch Comics. Besonders Western-Comics haben es ihm seit Kindertagen angetan. Da ist es nur eine logische Folge, dass er nach seinem Western-Epos „Django Unchained“ auch eine Comic-Adaption eingefädelt hat. Für die einzelnen Kapitel des so humorvollen wie blutigen Sklavendramas hat er sich unterschiedliche Zeichner geholt, die sich aber nicht allzu sehr im Stil unterscheiden, sondern alle mehr oder weniger einem klassischen Realismus verpflichtet sind. Der Clou an der Sache: Da bei der Verfilmung des Drehbuchs aus Kostengründen einige Szenen gestrichen wurden, die im Comic aber zu finden sind, ist die Comic-Adaption so etwas wie das ausformulierte Storybook.

Quentin Tarantino u. a.: „Django Unchained“.
Eichborn, 272 S., Hardcover, farbig, Euro 19.99 / sFr. 32.90

Mit „Das schwarze Dossier“ werden die fehlenden Komponenten zur Geschichte aus den 1950er-Jahren der „Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen“ von Alan Moore und Kevin O‘Neill nachgereicht. Wiederum so dick wie die ersten beiden Bände, erzählen die Autoren hier, wie Mina und Allan anhand eines geheimen Buches die Geschichte der Liga nachvollziehen, sich zugleich aber ihrer Feinde beim Geheimdienst erwehren müssen. Das Dossier besteht aus Texten, Comics, Postkarten, Plänen und vielen anderen Dokumenten, die beinahe wie Faksimiles in den Comic eingebunden sind. Das Ganze endet in 3-D – die passende Brille liegt gleich bei. Wie immer umwerfend gut und detailverliebt umgesetzt.

Alan Moore & Kevin O‘Neill: „Das schwarze Dossier“.
Panini, 212 S., Softcover, farbig und s/w, Euro 29.90 / sFr. 35.50

„Der arabische Frühling“ von Jean-Pierre Filiu und Cyrille Pomes versucht sich daran, die historischen Hintergründe und die zeitliche Abfolge der Ereignisse leicht verständlich und pointiert aufzuarbeiten. Es ist ein Sach-Comic, der es schafft, ohne narratives Korsett, aber mit Hilfe eindringlicher Zeichnungen, sowohl die Fakten als auch die bewegenden Momente der Ereignisse zu vermitteln. Dabei ist vor allem das Zusammenspiel von Bild und Text gelungen: teilweise gegenseitig ergänzend, teilweise aber auch kommentierend oder gar widersprüchlich, wenn etwa offizielle Statements neben Bildern stehen, die eine andere Wahrheit sprechen.

Jean-Pierre Filiu & Cyrille Pomes: „Der arabische Frühling“.
Carlsen, 112 S., Hardcover, farbig, Euro 15.90 / sFr. 22.90


Vor ungefähr zehn Jahren hat „Didi & Stulle“-Erfinder Fil für die Zeitung Jungle World den Strip „Mädchenworld“ erfunden. Leider hielt die Zusammenarbeit nicht allzu lange. Doch nun erscheint die damals unbeendete Reihe endlich als Buch und zudem mit einem ordentlichen Ende: Gemma fliegt vom Ponyhof, flüchtet sich in eine fabelhafte Fantasiewelt und erlebt aberwitzige Abenteuer. Nicht nur für Fil-Fans ein Muss.

Fil: „Mädchenworld“.
Zitty, 132 S., Hardcover, farbig, Euro 14.90 / sFr. 21.90

Schon 1988, also lange vor dem aktuellen Graphic-Novel-Boom, unternahm Ron Mann den Versuch, mit der Dokumentation „Comic Book Confidential“ die Geschichte des Comic-Heftes nachzuzeichnen. Der Film startet bei den frühen Superhelden-Comics und Mad, um über Will Eisner, die Underground-Comix der 60er-Jahre von Crumb oder Gilbert Shelton, Art Spiegelmans Maus und Frauen-Comics zu den 80er-Jahre-Ikonen Frank Miller, Charles Burns oder den Hernandez Brothers zu gelangen. Neben zahlreichen Interviews und Bildbeispielen lässt sich Mann auch ästhetisch sehr auf sein Thema ein und imitiert Erzähltechniken des Comics auf eine Art, die auch heute noch frisch und unterhaltsam ist. Der Film erscheint erstmals in Deutschland auf DVD und enthält als Bonus reichlich Interviewmaterial.

Ron Mann: „Comic Book Confidential“.
Salzgeber, 85 Min., Euro 19.99 / sFr. 29.90

Zeitgleich mit dem deutschsprachigen Start der Verfilmung von „Blau ist eine warme Farbe“ erschien auch die deutsche Ausgabe von Julie Marohs Liebesdrama um zwei junge Frauen. Im Gegensatz zum Film erzählt Maroh im Rückblick, in der Gegenwart ist die eine der beiden Protagonistinnen bereits tot. Das erfährt man gleich auf der ersten Seite, und es verstärkt die Tragik dieser gefühlvollen Coming-of-Age-Romanze.

Julie Maroh: „Blau ist eine warme Farbe“.
Splitter, 160 S., Hardcover, farbig, Euro 19.80 / sFr. 28.50

„Sandburg“ von Frederik Peeters und Pierre Oscar Lévy ist eine fantastische Novelle im Sinne von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe. Eine Gruppe Urlauber entdeckt eine Frauenleiche am Strand. In der Zwangsgemeinschaft verdächtigt man sich gegenseitig. Zudem halten unerklärliche Kräfte die einzelnen Mitglieder am Ort, und schon bald stellen diese merkwürdige Veränderungen an sich fest. „Sandburg“ ist nicht nur gruselig, sondern dringt bis in existentielle Bereiche vor.
Mit hohem Gruselfaktor kennt sich auch Thomas Ott aus. „Dark Country“ ist ein Comic-Szenario, das bereits verfilmt wurde, bevor Ott den Auftrag für den Comic bekam. Den Film hat er nie gesehen, seine üblicherweise wortlosen Darstellungen auf Schabkarton müssen den Vergleich aber keineswegs scheuen. Eindrücklich wirkt Otts Noir-Horror um eine tödliche Hochzeitsnacht allemal.

Frederik Peeters & Pierre Oscar Lévy: „Sandburg“.
Reprodukt, 105 S., Softcover, s/w, Euro 18 / sFr. 23.50

Thomas Ott: „Dark Country“.
Edition Moderne, 56 S., Hardcover, s/w, Euro 19.80 / sFr. 28.-


Jacques Tardi hat sich schon öfter mit dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt. Nun verfolgt er im ersten von zwei Teilen in „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“ das Schicksal seines Vaters im Zweiten Weltkrieg. Der jugendliche Tardi ist in der Geschichte omnipräsent, stets im Dialog mit seinem Vater. Die detaillierten Beschreibungen orientieren sich an persönlichen Notizen, die der Vater in den 1980er-Jahren verfasste. Aufzeichnungen, die gleichsam das Schicksal von Zehntausenden Kriegsgefangener widerspiegeln.

Jacques Tardi: „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“.
Edition Moderne, 200 S., Hardcover, s/w, Euro 35 / sFr. 49.-

Um Zeitgeschichte handelt es sich auch bei „Das Schweigen unserer Freunde“. Mark Long, Jim Demonakos und Nate Powell erzählen von den Rassenunruhen im Süden der USA im Jahr 1968 – und von der Freundschaft zweier Familien. Die eine ist weiss, die andere schwarz, und weder die Schwarzen noch die Weissen sehen das gerne. Die Geschichte ist schwungvoll erzählt und transportiert die nervöse, von Rassismus geprägte Anspannung in Houston.

Long, Demonakus & Powell: „Das Schweigen unserer Freunde“.
Ehapa, 216 S., Softcover, s/w, Euro 14.99 / sFr. 23.90

Mit „Liongos Lied“ erscheint der zweite und letzte Teil von Benjamin Flaos „Kililana Song“. Flao entfaltet mit seinen prächtigen Farbzeichnungen eine spannende Geschichte um den Alltag an der Küste Kenias, die Auswüchse des Tourismus, Drogenhandel und Geistergeschichten. Im Zentrum steht der Junge Naim, der in Lamu lebt, einer Stadt, die zum Weltkulturerbe gehört.

Benjamin Flao: „Kililana Song“.
Schreiber & Leser, 136 S., Hardcover, farbig, Euro 24.80 / sFr. 37.90

Comic-Ignoranten gibt es in Frankreich nicht so viele wie in Deutschland. Dennoch muss Étienne Davodeau mit seinem Winzer-Freund Richard ein Abkommen schliessen, um ihn in die Kunst der Comics einführen zu dürfen: Im Gegenzug muss sich Étienne mit der Winzererei beschäftigen. Schnell erkennen die beiden allerlei Parallelen zwischen ihren Professionen. „Die Ignoranten“ erzählt in detaillierten Schwarzweiss-Zeichnungen von einer Annäherung, von der Leidenschaft und der Gabe der Neugier.

Étienne Davodeau: „Die Ignoranten“.
Ehapa, 272 S., Hardcover, s/w, Euro 29.99 / sFr. 42.90

Sach-Comics erfahren zurzeit eine Renaissance. Neben biografischen Comics und Reportagen sind thematische Sach-Comics noch eine Seltenheit. Mit „Economix“ haben sich Michael Goodwin und Dan E. Burr vorgenommen, per Comic zu erklären, „wie unsere Wirtschaft funktioniert (oder auch nicht)“. Ähnlich wie bei Scott McClouds berühmten Comics über das Medium Comic führt eine Figur durch das Buch und erläutert textreich, aber im klassischen Comic-Aufbau das Thema kritisch und fundiert. Die Bilder veranschaulichen, kommentieren oder ergänzen den Textblock. Über 300 Seiten kann das zwischendurch auch mal ermüden, bei leichter Verwirrung hilft das Glossar.

Michael Goodwin & Dan E. Burr: „Economix“.
Jacoby & Stuart, 304 S., Softcover, s/w, Euro 19.95 / sFr. 28.50

Mit dem sechsten Band endet „Koma“, die aussergewöhnliche Serie von Pierre Wazem und Frederik Peeters, wieder „Am Anfang“, so der Titel des Abschlussbandes. „Koma“ zeichnet sich durch seinen Kontrast zwischen den lieblichen Zeichnungen und der immer böser, aber auch philosophischer werdenden Handlung um die Kraft und die Macht der Fantasie aus.

Frederik Peeters & Pierre Wazem: „Koma“.
Reprodukt, 6 Bände je 48 S., Softcover, farbig, je Euro 12 / sFr. 17.90