No: 118

  • Cover: A. Akishin, L. Nüssli, M. Stutz

 

EDITORIAL

Pas de deux

Pas de deux ist der Titel dieses Heftes – und auch der eines mehrschichtigen Comic-Pojekts. Je drei Zeichnerinnen und Zeichner aus Russland und der Schweiz wurden dazu eingeladen, sich für einen interkulturellen Austausch zu treffen. Bei Pas de deux handelt es sich um eine Kooperation von ­Fumetto – Internationales Comix-Festival Luzern – und STRAPAZIN, beide mit Hauptsitz in der Schweiz, und Boomfest, International Comics Festival
in St. ­Petersburg, Russland.
In Pas de deux tanzen jeweils drei Paare, Olga Lavren­tyeva mit Pierre Wazem, Lika Nüssli mit Viktoria Lomasko und Julia Marti /Milva Stutz  mit Askold Akishin durch ein ganzes Jahr. Der Auftakt fand 2014 in St. Petersburg am Boomfest statt. Es ging darum, sich kennen zu lernen und sich im Paartanz auf ein Thema zu einigen. Seither arbeiten die drei Tandems an ihren jeweils sehr unterschiedlichen Austauschprojekten. Die Kunstschaffenden verschiedener Generationen berichten über ihr Leben, reflektieren aktuelle Ereignisse, erklären einander und dem Publikum ihre Welt und decken ihre Vorstellungen, die sie von ihrem Gegenüber haben, auf. Die Ergebnisse werden als Ausstellung im März 2015 am Fumetto präsentiert und dann im September 2015 am Boomfest in St. Petersburg gezeigt.  Diese Ausgabe von STRAPAZIN gibt einen ersten Einblick in diese Arbeiten und dient als Katalog zur betreffenden Ausstellung am Fumetto. Eine zweite Spezialausgabe mit einem Überblick über die Schweizer Comic-Szene folgt anschliessend am Boomfest in russischer Sprache.  Für dieses STRAPAZIN haben wir ergänzend je drei weitere Zeich­nerinnen und Zeichner aus der Schweiz und aus Russland für einen Beitrag zum Thema „Austausch“ angefragt. So sind nochmals sechs facettenreiche Beiträge entstanden, die wir ab Seite 44 einander gegenüberstellen.

Talaya Schmid
David Basler
Jana Jakoubek

Heftvernissage und Ausstellung am Fumetto
Hochschule Luzern – Design & Kunst, Kapelle
7. – 15. März, 10.00 – 20.00 Uhr

Ausstellungspatronat:
Pro Helvetia – Swiss Made in Russia

www.fumetto.ch
www.boomfest.ru/en

18+

Victoria Lomasko

Im Zusammenhang mit der Serie 18+ höre ich oft die Frage, was eine heterosexuelle Künstlerin dazu bringt, lesbische Paare zu zeichnen. Darauf gibt es mehrere Antworten, am besten trifft es wohl: Viel stärker noch als diese andere Sexualität beeindruckt mich an Lesbenclubs die Abgrenzung eines weiblichen Umfelds, in dem die Rolle des Mannes aus dem Zentrum des weiblichen Universums verdrängt und auf null reduziert wird. Mich fasziniert die Möglichkeit, vielschichtige psychologische Verbindungen unter Frauen aufzuzeigen. In der Kunst, vor allem in der russischen, gibt es nur sehr wenige Arbeiten aus dieser Perspektive. In der Öffentlichkeit wird Anziehung zwischen Frauen so gut wie gar nicht zum Ausdruck gebracht. Während ich in halbgeschlossenen Lesbenclubs massenhaft Skizzen machte, war ich einer neuen visuellen Sprache auf der Spur – Gesten und Körpersprache sind bei Lesbenpärchen anders als bei Heterosexuellen.

Lebte ich in einem anderen Land, würde ich mich wohl auf diese Suche nach neuen Ausdrucksformen beschränken. Aber in Russland ist das Thema LGBT automatisch mit politischen und sozialen Fragen verbunden. Als ich 2013 in der Jury des LGBT*-Filmfestivals Side by Side arbeitete, hatte ich natürlich eine Vorstellung von der Hetze gegen die LGBT-Community, doch wurde mir erst während des Festivals klar, dass es auch innerhalb der LGBT-Szene Abstufungen der Verschlossenheit gibt und vor allem Lesben noch unsichtbarer und stärker stigmatisiert sind als Schwule. Daher lege ich Wert darauf, dass die Personen in meiner Serie in direkter Rede zu Wort kommen.

Gleichzeitig mit den Skizzen in Clubs begann ich, Portraits lesbischer Paare und Familien zu machen, mit deren wörtlichen Zitaten. Meine zentralen Fragen an sie sind: „Was hat sich für euch nach dem
gesetzlichen Verbot homosexueller Propaganda verändert?“** und „Wie trägt die Gesellschaft
zur Stigmatisierung verschiedener sozialer Gruppen bei, unter anderem aufgrund der sexuellen Orientierung?“
*
LGBT: les­bian gay bisexual transgender
**
2013 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, das die Propaganda unkonventioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen verbietet. Jegliche Information über LGBT muss mit dem Zeichen 18+ versehen sein.

„Was hat sich für euch nach dem gesetzlichen Verbot homosexueller Propaganda verändert?“

„Mit fünfzehn war meine einzige Informationsquelle ein Artikel über eine ehemalige Gefängnisinsassin, die in der Wohnung ihrer Lebensgefährtin festgenommen wurde. Das Wort „Lebensgefährtin“ wurde zum Indiz dafür, dass solche Beziehungen möglich sind.“

„Als Jugendliche machte ich kein Coming-out vor Freundinnen. Eine Lesbe zu sein, bedeutete für mich, ein Monster zu sein. Ich hatte Angst, sie würden sich vor mir fürchten.“

„In der Arbeit sitze ich mit Kopfhörern beim Mittagessen, um Gespräche zu vermeiden.“

„Wenn bei der Arbeit jemand auf das Thema „Familie“ zu sprechen kommt, fühle ich mich immer wie auf einer Zeitbombe.“

„Ich flüchte vor solchen Gesprächen, sage, ich hätte keine Zeit oder gehe eine rauchen.“

„Wenn ich Arbeit suche, gebe ich im Lebenslauf oder bei „Familienstand“ immer an, dass ich mit einer Frau zusammenlebe. Ich will gleich wissen, ob das Team homophob ist oder nicht.

„Verheiratete Hausmütterchen bemitleideten mich.“

„Gibt es ein Stigma? Wissen wir nicht. Wir haben nur beschränkt Kontakt, nur mit Leuten, die das verstehen.“

„Unser Bekanntenkreis sind andere Lesben und Feministinnen.“

„Ich bin mit anderen Aktivisten befreundet, solchen, die mich so akzeptieren, wie ich bin, und die mich nicht bewerten: „die Ärmste“.“

„In Russland läuft die Meinung der Mehrheit darauf hinaus, die anderen zu marginalisieren.“

„Ich glaube, bekennende heterosexuelle Feministin zu sein, ist noch schwerer, als heimlich als Lesbe zu leben.“

„Für Männer sind Lesben schöne, langhaarige Mädchen, die sich küssen.“

„Eine Butch, die sich wie ein Mann verhält, quetscht ihnen die Eier immer noch weniger ein, als klasse, schöne Frauen, deren Sexappeal Frauen gilt. Die Erkenntnis, dass sie uns am Arsch vorbeigehen, setzt den Typen hundertmal mehr zu.“

„Wie trägt die Gesellschaft zur Stigmatisierung verschiedener sozialer Gruppen bei, unter anderem aufgrund der sexuellen Orientierung?“

„Bis 2012 war die Lesbenszene absolut unsichtbar. Irgendwie hatte das sogar was – die Mädels küssten sich auf offener Straße, und niemand dachte sich was dabei. Jetzt wird gegen alle gleich Verdacht geschöpft.“

„Wir lernen im Club keine Leute kennen. Wir gehen nur hin, um unverhohlen Händchen zu halten.“

„Seit dem homophoben Gesetz verdächtige ich die Leute auf der Straße und in der U-Bahn, dass sie mich verdächtigen.“

„Früher konnte man Scheißegalistin sein, aber jetzt ist das zu heikel. Es ist unfassbar, dass diese Leute und wir in derselben Wirklichkeit leben. Wir überlegen, nach Kanada auszuwandern.“

„Nach dem homophoben Gesetz sah man uns in der U-Bahn misstrauisch an. Aber jetzt herrscht die Krise, und allen ist es wurscht.“

„Die Leute haben Angst, dass sie ihnen die Kinder wegnehmen, für Homo- und Transsexuelle ist das wirklich eine ernste Gefahr.“

„Wir werden nicht aus Russland hinausrennen wie die Ratten.“

 

Fuck the religion !
Fuck the police !
Fuck everything !

Verbotene Kunst & ­verbotene Lebensformen

Meine Partnerin ist Viktoria Lomasko aus Moskau. Sie arbeitet als Reportage-Zeichnerin und hat unter anderem die Gerichtsprozesse Verbotene Kunst und Pussy Riot zeichnerisch begleitet und damit dazu beigetragen, dass die involvierten Personen überhaupt von der Weltpresse wahrgenommen wurden. Wer aufmerksam Milo Raus Film über die Moskauer Prozesse im Kino gesehen hat, konnte sie dort mit Zeichenstift und Skizzenbuch entdecken. Unser erstes Treffen im Frühstückskeller des Hotels gestaltet sich nicht ganz einfach. Zum einen spricht sie kaum englisch und zum andern spüre ich auch ihre sture Art, die mir allerdings den Lebensbedingungen hier angepasst erscheint. Sie ist mit einem ganz bestimmten Ziel nach St. Petersburg gekommen. Sie will ans Queer-Festival, das ebenfalls gerade läuft, um in der LGBT-Bewegung (les­bian gay bisexual transgender) vor Ort zu recherchieren. Mir bleibt nicht viel anderes übrig, als mich diesem Thema anzuschliessen. Ehrlich gesagt, hätte mich auch nichts anderes so brennend interessiert. Von Vika bekomme ich den Kontakt zu Gulya Sultanova, einer Aktivistin in der LGBT-Bewegung und Organisatorin des Filmfestivals Side by Side. Hastig verzehrt Vika noch ein paar gebratene Kartoffeln und verschwindet dann mit knappem Gruss.  Zusammen mit Jana Jakoubek, der Art-Direktorin des Fumetto Comix-Festivals, suche ich anschliessend Gulyas Büro auf. Wir sind nur kurz da, ständig klingeln Telefone und Leute stolpern herein für irgendwelche eiligen Mitteilungen. Das Queer-Festival wurde von rechter Seite schon zu Beginn gestört und attackiert. Seit 2013 das neue „Gesetz gegen schwule Propaganda“, das Homosexualität aus der Öffentlichkeit verbannen will, verabschiedet wurde, machen die Anhänger des russischen Politikers Vitaly Milonov und klerikale Gruppen keinen Hehl aus ihrem gewalttätigen Vorgehen. Die Eröffnung des Festivals wurde von einem falschen Bombenalarm unterbrochen. ­Polizisten und Sicherheitsleute haben die friedlichen Veranstaltungsbesucher in Räume gedrängt und mit Gas herumgesprüht. Viele mussten sich übergeben. Ab jetzt wird nur noch per SMS über Ort und Zeit zukünftiger Veranstaltungen informiert. Trotzdem ist es ein sehr herzliches Treffen mit Gulya, die eine unglaublich optimistische Kämpferin ist. Ob ihr eigenes queeres Film-Festival, auf Russisch Bok o Bok (deutsch: Hüfte an Hüfte), im November stattfinden wird, steht noch in den Sternen.  Ich besuche erst mal wieder Comic-Ausstellungen, an denen ich mich etwas heimischer fühle. Dabei laufe ich mir in dieser riesigen Stadt die Füsse platt. Zur Manifesta, eine europäische Biennale für zeitgenössische Kunst, schaffe ich es auch. Da bin ich aber enttäuscht über die Absperrung zu Maria Lassnigs Ausstellung. Wundern tut mich das nicht, die provokativen Malereien der Wiener Künstlerin sind wohl der Zensur zum Opfer gefallen. Ich bekomme eine SMS und suche danach den Ort der queeren Lesung auf. Vor dem Gebäude befindet sich bereits eine Einsatztruppe der Polizei, und der Eingang ist flankiert von fiesen Typen in schwarzen Anzügen. Ich rede mir gut zu und gehe rein. Im Saal ist eine aufgeregte und fröhliche Atmosphäre. Die bunte Menge an Leuten steckt mich mit ihrer Aufbruchsstimmung an. Eine Autorin hält eine mindestens stündige Rede, auf Russisch ! Ich verstehe natürlich kein Wort, aber ihre Intensität und expressive Rede beeindrucken auch mich. Zum Glück hab ich mein Skizzenbuch dabei. Vika ist nicht da. Sie treffe ich erst wieder am nächsten Morgen beim Frühstück. Ich habe mich um ein paar Worte auf Russisch bemüht, und sie freut sich, dass ich die Lesung besucht habe. Das Eis scheint angebrochen. Am Abend besuche ich eine Diskussion über Kunst und Zensur. Manifesta-Veranstalter, Queer-Festival-Leute, Künstler und auch Vika sind da in einer Runde. Zufällig sitzt eine deutsche Übersetzerin hinter mir, so bekomme ich diesmal einiges mit. Am Schluss tritt eine junge Frau auf die Bühne: „Ich habe ein Update zu machen. Draussen warten unsere Freunde, wir müssen zuerst abklären, was los ist. Bitte verlasst das Gebäude nur in Gruppen, das ist eine Überlebensstrategie.“ Sie sagt das mit einem Lachen im Gesicht.  An diesem Abend gehe ich mit Vika und ihren Freunden zum Essen in eine der vielen Kantinen. Weitere Aktivistinnen aus Moskau sind angereist. Sie erzählen mir von Auseinandersetzungen innerhalb linker Gruppierungen an der Friedensdemo für die Ukraine in Moskau. Es gibt so vieles, das ich hier nicht verstehe. Ich bin froh und beschämt, dass ich in der Schweiz lebe. Später gehen wir in den Infinity Club. Mit Konzerten und DJs ist das der Höhepunkt des Queer-Festivals. „W zhopu religiju ! W zhopu poliziu ! W zhopu wsjo ! Fuck the reli­gion ! Fuck the police ! Fuck everything !“ So eröffnet die zweite Band ihre Vorstellung. Klar sind auch hier wieder die unangenehmen Aufpasser in allen Ecken. Davon lassen wir uns nicht stören, vorerst. Vika und ich zeichnen gemeinsam auf der Tanzfläche in unsere Skizzenbücher, was um uns herum passiert. Das habe ich so noch nie gemacht. Spassibo Vika.  Ich tauche dann doch nochmals am Boomfest auf. Einige interessante Comic-Lesungen sind angesagt. Aisha Franz buche ich gleich für Wortlaut – die St. Galler Literaturtage. Mit Dima, Dimitry Yakolev, dem Kurator vom Boomfest, rede ich über die Ausstellung in einem Jahr. Er meint, dass er keine Lust habe, sich der Zensur zu beugen. Im Notfall müsse man gross 18+ (die Veranstaltung ist für unter 18-Jährige verboten) überallhin kleben. Eines ist klar, auch seine Arbeit und das ­Boomfest sind bedroht.

Lika Nüssli

Verbotene Kunst – eine Moskauer Ausstellung:
ein Buch von Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew,
Verlag Matthes & Seitz, Berlin.
Ein Artikel von Viktoria Lomasko über russische und sozialpolitische Illustrationen und Comics finden Sie auf dem STRAPAZIN-Blog oder unter:
therussianreader.wordpress.com/2014/12/11/lomasko-socially-engaged-graphic-art-russia

 

Interview
Lika Nüssli und Viktoria Lomasko

Begegnung
VL Ich habe Lika am jährlich stattfindenden Boomfest in Sankt Petersburg getroffen. Wir haben das Thema ­Homo-, Bi- und Transsexualität (LGBT) gewählt. Parallel zum Boomfest lief in der Stadt gerade das QueerFest (Festival der Queer-Kultur). Wir besuchten Veranstaltungen, redeten mit LGBT-AktivistInnen und zeichneten. Im Vorjahr hatte ich in der Jury des LGBT-Filmfestivals Side by Side gearbeitet. Es gab täglich Versuche von Homophoben, das Festival zu sprengen, andauernd Drohungen und Beschimpfungen. Ich erzählte Lika die Lage der Homo-, Bi- und Trans­sexuellen in Russland und stellte ihr meine Bekannten aus der Szene vor. Nach dem Boomfest kommunizierten wir per E-Mail weiter. Ich nehme an, meine Zeichnungen versteht Lika besser als mein grottenschlechtes Englisch.  Wir sind beide Künstlerinnen, und es reizt uns, die verschiedensten Erfahrungen von Frauen mit feministischem Anspruch darzustellen. In unseren Arbeiten gibt es mehr Heldinnen als Helden. Unser persönlicher Background ist sehr unterschiedlich – was die politische und soziale Lage betrifft, sind unsere Länder komplett verschieden. Mich fasziniert, dass Lika an der Grenze zwischen Comics und Gegenwartskunst arbeitet, ihre grossformatigen Grafik-Fresken gefallen mir sehr gut. Bei uns in Russland wird Grafik immer gleich präsentiert : hübsch eingerahmt und aufgereiht. Die Fotos von Likas Ausstellungen auf ihrer Website haben mich dazu inspiriert, über neue Präsentationsformen für grafische Arbeiten und eine komplexere Organisation des Raums nachzudenken.

LN Viktorias Dringlichkeit, den Fokus ihrer Arbeit auf Missstände zu richten, erfüllt diese Arbeit mit Sinn, und so sehe ich auch in meiner Arbeit wieder mehr Sinn und Anliegen.

VL Zwischen Lika und mir ist ein freundschaftlicher, offener Dialog entstanden. Aber bei andern, die in Russland „die weite, geheimnisvolle russische Seele“ suchen, bekommt man manchmal Lust, ihnen diese „russische Seele“ und andere Klischees vorzuführen. Während für viele Europäer Russland der Osten ist, bedeutet für uns der Osten der Kaukasus und ­Zentralasien. Da ich mehrmals als Objekt für orientale Stimmungen herhalten musste, kann ich nun besser über meinen eigenen ­Orientalismus gegenüber diesen Regionen reflektieren.

LN Ja, ich hab mich sehr westlich gefühlt – im positiven wie im negativen Sinne.  Mir fällt nun auf, dass wir auch hier nicht so fortschrittlich sind, wie wir meinen. Mein kritischer Blick ­wurde geschärft.

VL Vorurteile entstehen, wenn man eine fremde Meinung fraglos übernimmt. Die meisten Vorur­teile entspringen offener und verdeckter medialer Propaganda. Mein Grundsatz ist es, nur über Dinge zu urteilen, die ich selbst erforscht und erfahren habe. Ich war noch nie in der Schweiz, daher habe ich mir noch keine Meinung über die Schweizer Kultur gebildet.

LN Vorurteile betreffend Homophobie und Ausländerhass, patriarchale Frauen- und Männerbilder und das Bild der rauen Russen hab ich sehr bestätigt erhalten.  Es gibt aber auch eine alternative Szene, die sich atmosphärisch so anfühlt wie hier und wo ich neue Freunde kennengelernt habe, deren Mut ich bewundere und um die ich mir Sorgen mache.

Projekt
VL Ich nutze jede Möglichkeit, jene Serien von mir zu zeigen, deren Veröffentlichung in Russland äusserst problematisch ist. Das betrifft die Serie „18+“ über eine unsichtbare und marginale Gruppe: Lesben. Seit dem Gesetz über „Propaganda unkonventioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“, kurz „Gesetz 18+“, ist jegliche Präsentation oder Publikation von Material über Homo-, Bi- und Transsexualität mit hohen Geldstrafen, Hetzjagden und sogar Ausschreitungen orthodoxer Aktivisten bedroht. Daher wollen sich in Russland die meisten Gale­risten, Kuratoren, Verleger und Medienredakteure nicht auf eine ­Präsentation von Arbeiten zum Thema LGBT einlassen.

LN Ich will damit zu neuen politischen Themen und Brennpunkten gelangen und mich inspirieren lassen von einer Künstlerin aus einem anderen, restriktiveren Kulturumfeld.  Dazu habe ich die Möglichkeit, am Fumetto und am Boomfest auszustellen.

Engagement, Zensur, Gefährdung der Heimat
VL Ich bin gern ein unabhängiges Massenmedium, bestimme damit Themen und Material für meine grafischen Sozialreportagen selber und rede direkt mit Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten. Alle diese Reportagen fügen sich zu einem inoffiziellen Portrait Russlands. Nur werde ich diese Arbeit wegen der Zensur kaum auf Russisch veröffentlichen können.

LN Ich will eine Kunstbrücke zu Russland schlagen, auf der man sich hin- und herbewegen kann.

VL Was ein Mensch fühlt, der Zensur unterliegt ? Empörung, Widerstand, Verbitterung, Sorge, manchmal auch Angst, Beklemmung … und da dringt die Zensur auch schon in deinen eigenen Kopf ein und wird zur Selbstzensur. In Russland stimmen schon viele Menschen allmählich einer „gemässigten“, „vernünftigen“ Selbstzensur zu. Aber erstens steigt der Druck ständig, und die „Vernünftigkeit“ der Selbstzensur zu kontrollieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Zweitens verlangt es die Zensur, das Wichtigste abzuschaffen, nämlich jegliche Kritik und Analyse der Machtordnung. Der durchschnittliche Rezipient ist in Russland schon durch die offiziellen Medien verblödet, und zensurierte Kunstwerke verzerren seine Wahrnehmung der Wirklichkeit noch weiter.

LN Immer wieder – sei es von der Kulturindustrie, von einem Auftraggeber, von den Medien oder durch Selbstzensur  – wird man zensuriert. Es gilt, diese Schranken immer wieder von neuem zu durchbrechen, insbesondere nach dem 7. Januar, vive Charlie !

VL Es gibt keine Gerichtsbarkeit, fast keine Opposition und kaum eine unabhängige Presse. Alle Sozialleistungen werden gekürzt, vor allem kostenlose Medizin und Bildung – Einrichtungen, die teilweise noch aus der Sowjetzeit stammen. In den Medien und in allen Bildungsanstalten werden aktiv Orthodoxie und Patriotismus (Nationalismus) propagiert. Wir sind wieder bei der vorrevolutionären Parole „Orthodoxie – Selbstherrschaft –
Volkstümlichkeit“.

 

Interview

Askold Akishin und Julia Marti / Milva Stutz

Begegnung
JM / MS Da wir letztes Jahr nicht nach St. Petersburg ans Boomfest fahren konnten, haben wir Askold Akishin noch nie getroffen, und da wir keine gemeinsame Sprache sprechen, ist eine direkte sprachliche Kommunikation unmöglich. Diesen Umstand haben wir zum Thema unserer Zusammenarbeit gemacht: Wir haben fast ausschliesslich über Bilder kommuniziert, uns gegenseitig je zwanzig Fremdbilder geschickt, die für unterschiedliche Aspekte unseres Landes stehen. Auf Basis dieser Bilder entwickelte im Anschluss jede Seite ihre Arbeit.  Wir hatten bewusst vereinbart, uns die Fremdbilder vorerst unkommentiert zu schicken, sodass die andere Partei «naiv» darauf reagieren musste.
Entgegen unseren Erwartungen entsprach Askold Akishins Bildauswahl ziemlich unseren klischierten Vorstellungen von Russland : Wodka trinkende Gesellschaft, die sowjetische Arbei­terklasse, Kälte, Düsterheit, Stalin-­Denkmäler. Vorausgesetzt, wir haben die Bilder richtig gelesen – schliesslich ­deuten wir sie mit unserem persönlichen und mitteleuropäisch geprägten Blick.  Die Auswahl unserer zwanzig Fremdbilder zwang uns zu einer intensiven Diskussion darüber, wie wir unsere Heimat sehen und was wir davon kommunizieren wollen. Wir wollten unseren persönlichen Blick auf die Schweiz vermitteln. Die Bilder sollten aber mehr zeigen als der Blick aus unseren Schlafzimmern oder Schnappschüsse von Freunden – sie sollten mehr für die Schweiz als Ganzes stehen.  Was spezifisch schweizerisch ist, kommt sehr schnell auch klischiert daher und verliert an Glaubwürdigkeit. Bei der Bildauswahl sahen wir uns immer wieder auf Klischees zurückgeworfen, obwohl wir gezielt auch nach anderen Bildern suchten. Als Schweizerinnen sind wir geprägt von diesen Klischees – auch in unserer Schweiz gibt es die ­Klischee-Schweiz. Aber wo fängt sie an ? Und wo hört sie auf ?  Die intensivere Beschäftigung mit der fremden Kultur und dem aktuellen politischen Geschehen rund um Russland führte dazu, dass wir unsere eigene Kultur und Nationalität bewusster wahrnahmen. Aus der Perspektive eines Russen ­wurden wir plötzlich zu Schweizerinnen.   Die Arbeiten, die wir von Askold ­Akishin gesehen haben, entsprechen dem „klassischen“ Comic mit Panels, Sprechblasen, klaren Handlungssträngen und Figuren. Wir finden dies als Gegenüberstellung zu unserer Arbeit, welche viel assoziativer funktioniert, spannend.

Projekt
JM / MS Grundsätzlich interessieren uns kollaborative Projekte und das Erproben unterschiedlicher Arbeitsmethoden. Wir arbeiten seit 2008 zusammen. Dass nun mit Askold Akishin eine dritte Person hinzukam und uns als Position gegenübergestellt wurde, war spannend und herausfordernd.  Die Zusammenarbeit zwischen uns zwei – Julia und Milva – war sehr intensiv und gestaltete sich dadurch, dass wir zwei als eine Position Askold Akishin gegenüberstanden, komplexer als üblich. Wir mussten eine Methode und Form entwickeln, um unsere Zeichnungen zu einem kohärenten und eigenständigen Endprodukt zu kombinieren.

AA Ich beantworte die Fragen ganz kurz. Ich zeichne gerne und wenn mich jemand auffordert, Comics zu zeichnen, sage ich fast immer zu.  Dieses Projekt erschien mir interessant. Als ich die sonderbaren Fotos bekam, war ich verwundert und verfiel in eine Anabiose. Aber dann begann mein Gehirn zu arbeiten, und ein Comic entstand.  Die Geschichte ist unge­wöhnlich, wie auch die Fotos, die mir vorgelegt wurden. Mit den Künstlern dieses Projekts habe ich mich nicht unterhalten. Aber ich glaube, es sind ganz wunderbare Menschen. So Gott will, sehen wir uns.

Engagement, Zensur, Gefährdung der Heimat
JM Sowohl als Zeichnerin als auch in meiner Funktion als Mitherausgeberin und Redaktorin von STRAPAZIN versuche ich, einen unkonventionellen Zugang zu Comics zu vermitteln. Ich will Bildergeschichten erzählen und publizieren, welche an die Grenzen der narrativen und zeichnerischen Möglichkeiten stossen und auch assoziativ und experimentell funktionieren.  Zensur beginnt, wenn die freie Meinungsäusserung eingeschränkt ist. Ich kann mich nicht erinnern, persönlich Zensur erlebt zu haben. Über Selbstzensur haben ­Milva und ich als Redaktionsteam bei STRAPAZIN allerdings schon diskutiert: Was können wir den Leserinnen und Lesern zumuten ? Wie weit können wir gehen ?  Es ist bedauerlich, dass in der Schweiz die Kreativwirtschaft im Gegensatz zu anderen Berufsfeldern so wenig Ansehen geniesst. Das Lohngefälle zwischen unterschiedlichen Berufsfeldern ist extrem – dass Leistung und Zeit so unterschiedlich honoriert werden, entzieht sich meinem Verständnis. Eine bedenkliche Entwicklung scheint mir der Anspruch, Kultur und Bildung immer «rentabler» zu machen. Wenn Werte wie Bildung und Kultur nur noch nach wirtschaftlichen Kriterien beurteilt werden, dann wird mir ganz schön bang.  Konservative Werte, Rollenbilder und die Angst vor dem Fremden haben Hochkonjunktur – das gibt mir zu denken.

MS In Bezug auf das Zeichnen hoffe ich vor allem, viel Mutiges und Neuartiges zu sehen zu bekommen – bei mir selbst und anderen.  Staatliche Zensur, über die eine Zensurbehörde wacht, gibt es in der Schweiz zwar nicht. Dennoch bestehen auch hier gewisse Formen und Mechanismen von Zensur. Beispiels­weise über die Verteilung kultureller Förderungsmittel: Gewisse Projekte sind nur dann realisierbar, wenn sie von Förderinstitutionen als adäquat und relevant erachtet werden und dadurch die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen. Weit subtiler funktionieren gesellschaftliche Konditionierungsmechanismen und Wertevorstellungen, die eine grosse Rolle bei der Selbstzensur spielen.  In Bezug auf das kulturelle Schaffen spielt Geld eine grosse Rolle. Neben finanziellen Existenzängsten gibt es einen gesellschaftlichen, sozialen Druck: Arbeit, die schlecht entlöhnt wird, hat weniger Wert und muss viel eher legitimiert werden. Ich glaube, dieses Verständnis ist in der Schweiz ausgeprägter als anderswo.  Darüber hinaus machen auch mir die Schweizer Abschottungspolitik und die fremdenfeindlichen Abstimmungsresultate Sorgen.

 

Interview

Pierre Wazem und Olga Lavrentyeva

Begegnung
PW Wir haben uns zum ersten Mal im September 2014 am Boomfest in Sankt Petersburg in einer Bar getroffen. Zu­fälligerweise hatte ich Olgas Ar­beiten kurz vorher in einer Buchhandlung am Nevski-Prospekt gesehen. Wir kommunizieren per E-Mail. Ich lasse mein Französisch von Google auf Englisch übersetzen, dann korrigiere ich den Text so stark, dass oft nichts mehr übrig bleibt von der elektronischen Übersetzung.

OL Zeichnen ist eine einzigartige, universelle Sprache, denn viele Gedanken und Gefühle kann man nicht mit Worten wiedergeben, nicht einmal in der eigenen Sprache. Für Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen und verschiedenen Kulturen angehören, ist das besonders wichtig. Zeichnen verkürzt die Distanz zwischen Menschen, umgeht innere Barrieren und macht die Kommunikation gleich viel offener.  Pierre arbeitet total gegensätzlich zu meiner Technik und meinem Stil, ja sogar zu meiner Arbeitsweise. Er geht anders mit Informationen um, ­arbeitet schnell und sehr emotional, während ich meine Werke meistens mehrmals umgestalte, mehrere Varianten ausprobiere.
Die Arbeiten von Pierre sind viel realistischer und narrativer als ­meine. Ich arbeite semiabstrakt und kombiniere Techniken auf ­ebener Fläche.

PW Ich bin ukrainischer und spanischer Abstammung. Ich fühle mich dem Osten nahe, in vielen Hinsichten. Im Osten, mit meiner russischen Physiognomie, fragt man mich oft nach dem Weg, so auch in St. Petersburg. Ich sehe mich nicht als Vertreter der typisch schweizerischen Kultur.

OL Die Begegnung mit dem Fremden bringt meiner Ansicht nach die Besonderheiten der eigenen Kultur stärker zum Ausdruck, ermöglicht einen Blick von der Seite, von aussen, wie mit anderen Augen. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf Details und Nuancen der eigenen Kultur, die man sonst nicht bemerkt, weil sie normal, ­gewohnt und alltäglich sind.

Projekt
OL Unsere Zusammenarbeit erinnert mich an eine Collage: Ganz unterschiedliche Bilder, die nichts miteinander zu tun haben, werden verbunden, und plötzlich, oft ­zufällig, entsteht ein neuer Sinn, oft tiefgründig und aufschlussreich.  Das Zusammenspiel mit einem anderen Künstler motiviert dazu, den gewohnten und bequemen Rahmen zu verlassen, erlaubt einen Perspektivenwechsel. Gemeinsam ist unser Wunsch, Gedanken und Gefühle in Form von Comics auszudrücken, aber auch die Liebe zu unseren Familien und unserem Zuhause.  Wir hatten von Anfang an kein gemeinsames Thema gefunden, daher suchten wir in unserem kreativen Austausch nach Berührungspunkten. So wurde gleich nach den ersten Briefen klar, dass wir eine sehr ähnliche Lebenseinstellung haben, auch wenn wir in ganz unterschiedlichen Realitäten leben.
Am besten gefällt mir an unserer Zusammenarbeit die völlige Unvorhersehbarkeit, und dass es keinen Rahmen gibt. Während der Arbeit ist nicht erkennbar, wie es weitergehen wird und welche Wendung das Projekt nehmen wird.

PW Mit einer jungen Künstlerin aus Russland, die noch alles erfinden muss und kann, zu arbeiten, erschüttert ­meine alten Gewohnheiten ein bisschen. Ich bin erstaunt, wie schnell wir uns gefunden haben. Ich finde, sie mischt Zeichnungen und Fotos perfekt.

Engagement, Zensur, Gefährdung der Heimat
OL Kurz gesagt könnte ich mich als Patriotin bezeichnen. Ich unterstütze die Partei „Das andere Russland“ von Eduard Limonow, die für nationale und soziale Gerechtigkeit eintritt. Dennoch, derzeit widme ich mich vor allem meiner künstlerischen Tätigkeit, ich denke über die Arbeit an einer neuen, grossen Graphic Novel nach.
Zensur beginnt zuallererst im Kopf des Künstlers. Er muss wirklich gründlich darüber nachdenken, welche Gedanken und Ideen sein Kunstwerk transportiert und wozu das führen kann. Man muss sich über seine Verantwortung im Klaren sein, denn was man als Scherz oder Provokation gedacht hat, kann sich in unserem Informa­tionszeitalter ganz leicht mate­rialisieren und zum Albtraum ­werden.  Die Schaffung und Verbreitung von Werken kann im digitalen Zeitalter durch Zensur nicht mehr verhindert werden. Aber Veranstaltungen zu sprengen oder die Publikation von Artikeln oder Büchern zu vereiteln, ist sehr leicht, und normalerweise passiert das nicht auf „Befehl von oben“, sondern auf Initiative ängstlicher Leute. Mir scheint, es gibt derzeit mehr Angst vor irgendwelchen sagenumwobenen „Konsequenzen“ als tatsächliche Zensur.  Zensur ist in Russland natürlich allgegenwärtig, auf staatlichen Sendern genauso wie in den so genannten „unabhängigen“ Quellen. Letztere sind sogar meistens noch stärker zensuriert, solche Fälle habe ich mehrmals erlebt. Je mehr Getöne über Unabhängigkeit, desto mehr passiert oft innere Zensur.

PW Zensur gibt es für mich nicht und ich war noch nie davon betroffen.

OL In meiner Heimat ist Liebe und Güte gefährdet.

PW Das Fehlen der Lust und die mangelnde Erfahrung der Unbequemlichkeit machen aus uns Menschen ängstliche, materialistische Ignoranten.

 

DAS GESCHRIEBENE WORT

Wolke in Hosen

Ein bisschen Geschichte von Wolfgang Bortlik

Moskau im Jahre 1929 : Russland nennt sich seit ein paar Jahren die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Lenin ist tot, Stalin an der Macht und Trotzki entmachtet und verbannt. In Moskau treffen sich 1929 der Komponist Dimitri Schostakowitsch, der Literat Wladimir Majakowski, der Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold und der Künstler Alexander Rodtschenko. Es gibt ein einigermassen bekanntes Foto dieser Zusammenkunft. Die vier besprechen gerade Schostakowitschs Musik zu Majakowskis Theaterstück Die Wanze, zu dem Rodtschenko die Bühnengestaltung macht und Meyerhold die Regie führt. Das satirische Stück handelt von der Verbürgerlichung eines heldenhaften Revolutionärs und Kommunisten. Nach der Aufführung ruft es in der Öffentlichkeit vor ­allem kritische Reaktionen hervor, weil es im Stück zu wenige positive Helden gebe und den Kommunismus und die klassenlose Gesellschaft nur unvorteilhaft zeige. So ein offizielles Urteil war unter Stalins Herrschaft einigermassen lebensgefährlich.  Im Jahr darauf begeht Majakowski Selbstmord, den er sorgfältig arrangiert. Er legt sich frisch angezogen aufs Bett und schiesst sich ins Herz. Man weiss nichts Genaueres, kann aber annehmen, dass er dem Druck der stalinistischen Kulturapparatschiks nicht mehr gewachsen war, andrerseits könnte auch die komplizierte Dreiecksgeschichte mit der Gattin seines Verlegers, Lilja Brik, eine Rolle gespielt haben.
„Gut, ich werde tollwütig sein, so wie ihr wollt. Oder wenn ihr wünscht, ich werde der zärtlichste sein, kein Mann, sondern eine Wolke in Hosen.“ So schreibt Majakowski schon 1914 als Futurist in einem seiner ersten ­Poeme mit dem hübschen Titel Wolke in Hosen.
Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, der als Theatermann schon immer gerne gegen die offizielle Parteiästhetik und gegen den sozialistischen Realismus agiert hat, wird lange drangsaliert, schliesslich 1939 verhaftet. Seine Frau, die Schauspielerin Sinaida Reich, wird sofort erschossen, Meyerhold ein Jahr später.  Schostakowitsch fällt nie offziell in Ungnade, aber er hält sich auch sehr zurück und drückt eventuelle oppositionelle und aufrührerische Gedanken in seinen Symphonien musikalisch aus, was die Zensur ziemlich sicher etwas überfordert. Während seine Schwester verbannt wird, gefällt seine berühmte 5. Sinfonie der Zensur und er wird sozusagen rehabilitiert.  Rodtschenko, der Mann, der mit seiner Frau – der Künstlerin Warwara Stepanowa – und Künstlern wie El Lissitzky grossen Anteil am revolutionären Design der Sowjets hatte, gestaltet während der Dreissigerjahre ein paar patriotische Denkschriften, etwa über die Kavallerie der Roten Armee und beginnt, wieder realistisch zu malen.  Zwei von den vieren haben den Stalinismus überlebt, aber wie ?  Kultur und Kunst, Literatur, Malerei, Theater und Film machen begeistert mit bei der Errichtung einer neuen Gesellschaft in Russland. Neben der Avantgarde des Proletariats, eine eher unglückliche Konstruktion, entwickelt sich auch die kün­stlerische Avantgarde. Noch heute staunt man über die Kühnheit der Entwürfe, die grandiose Verbindung zwischen Leben und Kunst.

1921 schreibt Alexander Rodtschenko: „Der Mensch, der sein Leben, seine Arbeit und sich selbst organisiert hat, ist ein moderner Künstler. Arbeiten für das Leben und nicht für Paläste, Tempel, Friedhöfe und Museen. Unter, für und mit allen arbeiten. Nieder mit den Klöstern, den Instituten, Studios, Ateliers, Kabinetten und Inseln. Bewusstsein, Experiment, Ziel, ­Konstruktion, Technik und Mathematik sind die Brüder der ­modernen Kunst.“

Plakat für eine Uhrenreklame von Rodtschenko, Text von Majakowski

Schauen wir uns noch ein Foto an, vielmehr eine Fotomontage. Der angesehene Fotograf Moisei Salomonowitsch Nappelbaum macht sie im November 1918 unter dem Titel Führer der proletarischen Revolution. Darauf sind abgebildet: Lenin, Trotzki, ­Sinowjew, Kamenew, Lunatscharskij und Swerdlow, die Crème de la Crème der Bolschewiki. Stalin ist noch nicht auf dem Bild. Drei von den sechs Porträtierten sterben in den nächsten zehn Jahren eines mehr oder weniger natürlichen Todes, drei fallen dem stalinistischen Terror zum Opfer. Grigori Jewsejewitsch Sinowjew, geboren als Hirsch Apfelbaum, und Lew Borissowitsch Kamenew, geboren als Leo Rosenfeld, werden aus der Partei ausgeschlossen und 1936 im ersten Moskauer Prozess zum Tode verurteilt. Leo Trotzki alias Lew Davidowitsch Bronstein hat man schon davongejagt, später wird er im mexikanischen Exil ermordet. 1940 lebt keiner mehr von diesen Führern der proletarischen Revolution.  Tragisch ist übrigens auch das Schicksal des Porträtisten Nappelbaum. Er ist ein angesehener Fotograf, der öfter auch in die Bredouille gerät, etwa als er Stalin in einer etwas verknitterten Uniform knipst, was der Chef gar nicht goutiert. Nappelbaum will sein Leben lang seine Arbeiten als Fotoband publizieren. Aber viel zu viele der von ihm Porträtierten sind mittlerweile zu Volksfeinden geworden und existieren offiziell nicht mehr. 1958, fünf Jahre nach Stalins Tod, scheint es schliesslich doch so weit und Nappelbaums Buch Vom Gewerbe zur Kunst soll erscheinen. Doch dann stirbt Nappelbaum 89-jährig und sein Werk liegt ewig in der Druckerei, denn im Buch ist noch ein Porträt des Schriftstellers Boris Pasternak. Der ist in der UdSSR leider in Ungnade gefallen mit seinem Roman Doktor Schiwago. Sein Porträt muss aus allen 20’000 gedruckten Exemplaren entfernt bzw. herausgeschnitten werden. Dem endlich ausgelieferten Buch liegt ein Zettel bei, dass technische Probleme beim Druck zu einer fehlerhaften Seitennummerierung geführt haben.

Victor Serge alias Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch ist ein gestandener Anarchist, der in Paris mit den Bankräubern der Bonnot-Bande herumhängt und einschlägige Zeitschriften herausgibt. Im Januar 1919 fährt er von Barcelona aus nach Russland, um die Revolution zu unterstützen. Doch er muss mitansehen, wie Lenin und Konsorten eine Parteidiktatur errichten und jede Opposition ausschalten, seien es die anarchistische Machno-Bewegung in der Ukraine oder die rebellierenden Matrosen von Kronstadt. Später schliesst sich Serge der trotzkistischen Opposition an. 1928 wird er verhaftet und deportiert, kommt aber nach einer Zeit im Lager auf internationalen Druck wieder frei. Einerseits abgestossen von Intoleranz und Terror, lässt Serge sich andererseits doch vom etwas masochistischen Gefühl leiten, dass die kommunistische Partei auch unter Stalin immer noch das reine, revolutionäre Potential ihrer Zeit verkörpert.  Deswegen ist Schwarze Wasser, sein zwischen 1936 und 1938 geschriebener und kürzlich auf Deutsch erschienener Roman nicht so sehr denunziatorisch wie die Berichte von Solschenyzin oder Arthur Koestler (Sonnenfinsternis), die etwas später verfasst wurden. Serge beschreibt nicht nur die politische Repression, den Gulag und die Hungersnot, er lässt die Lagerinsassen auch agieren, auch die Wärter, allesamt gefangen in einem Konglomerat von Macht und Gegenmacht, Pannen und Pleiten. Trotz aller Widrigkeiten gibt es Hoffnungen, seien sie auch noch so illusionär, deswegen ist der Roman sehr poetisch und handelt auch von der Liebe. Die Opfer des Stalinismus haben sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und die Täter, Quäler und Folterer sind selbst nur einen falschen Schritt weit weg von Verbannung, Lager oder Tod.  Victor Serge hat einen ganz besonderen Schreibstil und ist nicht einfach zu lesen, aber wer neben schrecklichen Geschehnissen auch etwas über das Wesen der Hoffnung oder die reine Kraft der Liebe lesen will, der liegt hier nicht ganz falsch.

Die stalinistischen Säuberungen machen auch vor der Literatur nicht halt. Boris Pilnjak, mit Victor Serge befreundet, beschreibt in Der Salzspeicher die gelungene Revolution aus der Sicht der einfachen Menschen. Wegen seiner grossbürgerlichen Herkunft immer etwas verdächtig, wird er 1937 verhaftet und ein Jahr später wegen Spionage für Japan verurteilt und erschossen. Isaak Babel wird berühmt mit seinen Erzählungen über Die Reiterarmee, die ab 1923 erscheinen. Dort berichtet er als Teilnehmer sehr realistisch und ohne grosses Helden-Pathos über die Kämpfe der Kavallerie der Roten Armee. Er macht sich keine Freunde unter den Generälen. 1939 wird Babel verhaftet, unter dem Vorwand, für den Westen spioniert zu haben, 1940 wird er verurteilt und erschossen.  Jewgeni Samjatin verfasst unter anderem die Science-Fiction-Dystopie Wir. Er erhält nach einem faktischen Schreibverbot 1931 die Erlaubnis Stalins auszureisen, nachdem der Literat dem Diktator einen ergreifenden Brief geschrieben hat:
„Ich weiss, dass ich die unangenehme Eigenschaft besitze, nicht das zu sagen, was im gegebenen Moment genehm ist, sondern das, was ich für die Wahrheit halte. Insbesondere habe ich aus meiner Haltung zu literarischem Kriechertum, zu Liebedienerei und Schönfärberei in der Literatur nie einen Hehl gemacht. Ich war – und ich bin nach wie vor der Meinung, dass dadurch sowohl der Schriftsteller als auch die Revolution ­erniedrigt werden.“ Samjatin stirbt 1937 in Paris.
Marina Zwetajewa ist eine exzentrische, symbolistische Dichterin, eine Freundin sowohl Mandelstams als auch Pasternaks, die lange Jahre im Exil lebt und mit ihrer Familie 1939 von Paris aus in die UdSSR zurückreist. 1941 wird sie mit ihrem Sohn in die Autonome Republik Tataristan verbannt, wo sie sich am 31. August erhängt. Der grosse Poet Ossip Mandelstam macht sich spätestens 1934 mit dem Gedicht Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr unbeliebt. Er stirbt 1938 nach drei Jahren Verbannung in der Nähe von Wladiwostok. Das geschriebene Wort darf sich nie in den Dienst von Politik, ­Partei, Religion und Geld stellen !

Playlist:

Wladimir Majakowski: „Tragödie Wladimir Majakowski/Wölkchen in Hosen“. ­
Neuübersetzung durch Alexander Nitzberg, Engeler Urs Editor, 140 Seiten, Softcover,
EUR 14,50 / CHF 27.90

Alexander Rodtschenko: „Alles ist Experiment ! Der Künstler-Ingenieur“.
Edition Nautilus, 96 Seiten, Softcover,
EUR 8,99 / CHF 16.30

Isaak Babel: „Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen inkl. Reiterarmee“.
Hanser, 864 Seiten, Hardcover, EUR 39,90 / CHF 59.90

Victor Serge: „Schwarze Wasser“.
Rotpunktverlag, 288 Seiten, Hardcover,
EUR 22,90 / CHF 29.90

Arthur Koestler: „Sonnenfinsternis“.
Elsinor Verlag, 256 Seiten, Softcover,
EUR 16,80 / CHF 25.90

 

DAS MAGAZIN

Gipi: Mein schlecht gezeichnetes Leben

Heilung

„Leider habe ich nur etwas für Bösewichte übrig. Die Guten retten meinen Arsch und kriegen dafür nicht mal eine Zeichnung“, schreibt Gipi im Epilog von Mein schlecht gezeichnetes Leben, einer autobiografischen Arbeit über die Abgründe seiner Psyche und seines Lebens. Der Comic erzählt von Drogen und daraus folgenden Psychosen, von Selbstmordversuchen und Gefängnisaufenthalten und von Krankheiten: Arztbesuche stellen den roten Faden des Buches dar, das immer wieder in fantastische Gefilde voller Piraten und Kannibalen abdriftet. Ein Aspekt, den Gipi auch ästhetisch aufgreift und kunstvoll zwischen verschiedenen Stilen – kargen Schwarz-Weiss-Zeichnungen und Aquarellseiten in satten Farben –
hin- und herspringt. Die Bösewichte, von denen Gipi im Nachwort spricht, lauern überall, in Gestalt unfähiger Ärzte und Psychologen, Polizisten und Eltern oder in Form eines dunklen Schattenmannes, der die grosse Schwester zu vergewaltigen versucht. Gegen diese bedrohliche Aussenwelt baut sich der jugendliche Gipi mit seinen Freunden eine Welt aus kleinen und grossen Fluchten auf, Fluchten in Drogen, Reisen oder Sexfantasien, doch die bedrohliche Welt holt sie immer wieder ein.  In einer ­Montage aus fiktiven Gesprächen mit verschiedenen – unfähigen – Ärzten in der Gegenwart und Erinnerungsfragmenten aus verschiedenen Phasen seiner Vergangenheit sowie jenen irrealen Piratenepisoden, die Aspekte ­seines Lebens aus anderer Perspektive schildern, versetzt in eine surreale Traumwelt, nähert sich Gipi in Mein schlecht gezeichnetes Leben auf virtuose Weise dem Prozess des Erinnerns an. Nicht linear und jederzeit abrufbar, ­sondern wirr und unberechenbar, voller Abgründe und Stolpersteine verläuft dieser Prozess, und niemals ahnt der Erzähler, so scheint es, bei welchem Aspekt seines Lebens er ­sogleich landen wird. Jugendliche Wunschträume – etwa, dass Peter Tosh und Bob Marley mehrmals mit dem Fahrrad vorbeigefahren kamen, um einen neidvollen Blick auf das Marihuanafeld eines Freundes zu werfen – sind ebenso gleichberechtigter Teil der Autobiografie wie die Fakten der Arztberichte und Krankheitsdiagnosen.  Der Protagonist ist auf einer Suche, weiss jedoch lange Zeit nicht, wonach eigentlich. Vordergründig ist die Suche von der Hoffnung geprägt, endlich von einer unerklärlichen Sexualkrankheit geheilt zu werden, die ihn über Jahre geplagt und unzählige Arztbesuche erfordert hat. Doch letztlich ist es die Liebe, nach der sich der Erzähler sehnt und die zu finden all jene Irrwege und Umwege, Abstürze und Depressionen, Krankheiten und Psychosen notwendig gemacht hat. In einem Wartezimmer – wo sonst – ist Gipi an einem Tiefpunkt seines Lebens angekommen: „Ich dachte an die Ärzte. An die Krankheiten. An meine vielen schlechten Zeichnungen. An meine kleine Existenz. Hatte sie einen Sinn ? Eine Bedeutung ? Wenn ja, dann sah ich sie nicht.“ Und ausgerechnet dort findet er, indem er innerlich wieder zum Kind wird, die Liebe, nach der er sich sehnt. Seine Rettung.
Jonas Engelmann

Gipi: „Mein schlecht gezeichnetes Leben“.
Reprodukt, 144 S., Softcover, farbig,
EUR 20 / CHF 29.90

Barbara Yelin: Irmina

Entscheidungen

„So ein Unglück !“, ruft Irmina aus, als ihr ein Glas Eingemachtes mit lautem Krachen zu Boden fällt. „Das war das letzte Glas ! Die habe ich im Grunewald gesammelt, zusammen mit Gregor !“ Ein alltägliches Unglück, das jedoch begleitet wird von einem Erlebnis, das ihre am Küchentisch sitzende Freundin Gerda berichtet: „Juden waren das. Ich habe ihre Sterne gesehen. Einer von denen, ein Junge, der hat sich gewehrt. Der SS-ler hat ihm mit dem Gewehrkolben eins übergezogen. Es hat – richtig geknackst hat das. Der Junge ist dann umgefallen …“ Eine Szene reicht Barbara Yelin in ihrem vom Feuilleton zurecht gelobten Buch Irmina aus, um die psychischen Abgründe im Leben einer Mitläuferin des Nationalsozialismus darzulegen. So subtil wie von Yelin wurde im Comic selten gezeigt, wie aktiv man wegschauen, mit wie viel Kraft man sich ablenken musste, um vom Grauen der nationalsozialistischen Judenverfolgung nichts mitzubekommen. „Der Junge ist dann … einfach liegengeblieben … Ich kann dieses Geräusch – dieses Knacken –
nicht aus dem Kopf kriegen …“, fährt die Freundin fort. Während Gerda das Geräusch der Gewalt nicht vergessen kann, ist für Irmina das verlorene Eingemachte das grössere Unglück, ein zerbrochener Schädel weniger bedeutsam als ein zerbrochenes Glas. „Krach“. Eine Welt bricht zusammen. „Die Juden sind unser Unglück“, erklärt Irmina an anderer Stelle ihrem Sohn Frieder. Unglück ist in ihrer Wahrnehmung das, worüber man keine Kontrolle hat, was vermeintlich über einen hereinbricht, fremdbestimmt: „Krach !“ Es hätte auch alles anders kommen können: Irmina hatte bis zum April 1935 in London gelebt, eine junge, starke Frau, die entgegen den Erwartungen der Gesellschaft mit dem schwarzen Oxford-Studenten Howard eine Beziehung einging. Doch statt sich selbstbewusst für dieses Leben zu entscheiden, ist sie zurück nach Deutschland gegangen, wo sie für ein bürgerliches Familienleben ihre Vergangenheit aufgab und mit dem Verdrängungsprozess begann, der ihr Leben – wie jenes unzähliger anderer Deutscher – von nun an bestimmen sollte. „Ich habe mich umentschieden. Wie du siehst, bin ich hier“, hatte sie Gerda bei ihrem ersten Wiedersehen – am Tag nach der Pogromnacht im November 1938 – mitgeteilt, die ihr Geld für eine Rückkehr nach London geliehen hatte. Irmina hat sich entschieden, für das Verdrängen und Wegschauen. Barbara Yelin zeigt, dass man immer die Wahl hatte, vielleicht nicht die Wahl, an den Zuständen etwas zu ändern, aber doch die Wahl, hinzuschauen – wie Gerda, die das Grauen nicht mehr vergessen kann – oder die Augen zu verschliessen.  Nach dem Krieg lebt Irmina alleine, in sich zurückgezogen, fast als wolle sie sich für die falsche Entscheidung, die sie einst traf, bestrafen. Erst ein Brief Howards, der sie jahrelang suchte, löst sie aus ihrer Erstarrung. Er hat ihr vergeben. Sie kann es sich nicht verzeihen, 1935 in London den Mut verloren zu haben. Sie besucht ihn auf Barbados und fliegt am Ende zurück in ihr altes Leben, in jeder Hand ein Koffer, symbolisch für ihre beiden Leben, die sie einst führte und an denen sie bis in die Gegenwart moralisch zu tragen hat.
Jonas Engelmann

Barbara Yelin: „Irmina“
Reprodukt, 288 S., Hardcover, farbig,
EUR 39 / CHF 53.—

Dylan Horrocks: Sam Zabel in: Der König des Mars

Grüne Schönheiten

Die Macht der Comics oder: der Comic als eine magische Welt – das war bereits das Thema in Dylan Horrocks’ Debüt Hicksville, einer meisterhaften Ode an die wunderbare Welt der Comics. Nach diversen Umwegen – der nirgendwohin führenden Serie Atlas und frustrierenden Erfahrungen als Autor von Superhelden-Comics – kehrt der Neuseeländer zurück zu seinem Thema und seinem bereits aus Hicksville bekannten Alter Ego Sam Zabel. Der steckt gerade in einer tiefen Schaffenskrise, weil er sich als Zeichner stupider Superheldenfantasien verdingt. Da fällt ihm ein altes Comic-Heft in die Hand, er schlägt es auf – und im nächsten Panel wird er auf dem Planeten Mars als der lang erwartete König gefeiert und in seinem Harem von kaum bekleideten grünen Schönheiten umschmeichelt. Das ist der Beginn eines fantastischen Abenteuers, das Sam Zabel, begleitet (und vor allem unterstützt) von einer lesbischen Bloggerin und dem Mangamädchen Miki, durch diverse Realitäten, Fiktionen und Genres führt – immer auf der Suche nach einer magischen Feder.  Sam Zabel in: Der König des Mars ist ein hübsch verspieltes Vexierspiel über die Magie der Fiktion. Dylan Horrocks zieht alle Register seines Könnens, virtuos bricht er Handlungsstränge und verknüpft Handlungsebenen; er reisst Falltüren auf, wo wir sie am wenigsten erwarten, lässt Witz und ­Dramatik, gute Laune und Horror auf­einander prallen und geizt nicht mit ­Anspielungen auf andere Comics aus ­Vergangenheit und Gegenwart. Ein fabelhaftes Vergnügen – das nur durch den zu offensichtlichen didaktischen Anspruch getrübt wird: Wenn Horrocks Zabel und seine Komparsinnen über die Macht der Fiktion und die Verantwortung des Erzählers philosophieren lässt, über die Bedeutung von Moral und politischer Korrektheit auch in der wildesten Fiktion, dann bremst er den Erzählfluss unnötigerweise. Denn die Geschichten, die Horrocks hier erzählt, verdeutlichen all das geschickt genug und bedürfen nicht dieses expliziten belehrenden, letztlich aber banalen Überbaus. An Hicksville reicht das zweite Abenteuer Sam Zabels also nicht heran, aber es ist schön zu wissen, dass Dylan Horrocks dem Superheldengewerbe ganz abgesagt hat. Hoffentlich dauert es nicht wieder sechzehn Jahre bis zu seinem nächsten Buch …
Christian Gasser

Dylan Horrocks: „Sam Zabel in: Der König des Mars“.
Aus dem Englischen von Volker Zimmermann,
Egmont Comic Collection,
224 S., Softcover, farbig,
EUR 19,99 / CHF 29.90

Richard McGuire: Hier

Eine Zimmerecke

Die ketzerische Frage gleich vorneweg: War es wirklich notwendig, die sechs Seiten kurze Geschichte Here zu einer 300 Seiten langen Graphic Novel zu erweitern ? Immerhin gilt die 1989 veröffentlichte Miniatur als Meilenstein und hat, so Chris Ware, „die narrativen Möglichkeiten des Comics revolutioniert“ durch einen überaus eigenwilligen Umgang mit Zeit und Raum. Und sie machte den 1957 geborenen Musiker, Illustrator, Animationsfilmer, Kinderbuchautor, Webdesigner u.v.m. Richard McGuire auch in der Comic-Szene zu einem Begriff.  Im originalen Here erzählte Richard McGuire die Geschichte einer Wohnzimmerecke zwischen den Jahren 500‘957‘406‘073 (sic !) vor unserer Zeitrechnung und 2033, er gab Fragmente wieder aus dem Leben von Flora und Fauna, von Bewohnerinnen und Bewohnern, doch ersetzte er die Chronologie durch eine raffinierte Montage unterschiedlichster Zeitpunkte und Zeitebenen, die sich in den meisten Panels überlappten. Here verdichtete einen ungeheuren Zeitraum und eine Fülle von Lebenssplittern auf geradezu Schwindel erregende Weise.  Bereits 1998 wollte McGuire Here ausbauen, doch er schei­terte am Projekt – zu gross schien ihm
die Gefahr der Beliebigkeit. Als er – vor etwa zehn Jahren – nach dem Tod seiner Eltern und seiner Schwester in alten Fotoalben blätterte, kam ihm die Idee, Here rund um Bilder seiner Familie zu organisieren und von einer Zimmerecke der Wohnung auszugehen, in der er aufgewachsen ist.  Hier folgt dem gleichen Erzählprinzip wie die Kurzgeschichte. Jede Doppelseite zeigt dieselbe Ansicht: die Zimmerecke. Oder das, was da war, bevor dort ein Haus stand: die Ursuppe, Urwälder, Dinosaurier, Indianer, Pioniere. Jede Doppelseite erzählt eine Szene aus einem fein säuberlich datierten Jahr; in jede Doppelseite sind ein, zwei oder mehr kleine, ebenfalls datierte Panels eingefügt, die Szenen aus anderen Zeitpunkten zeigen. Dabei bemüht sich McGuire, künstlich konstruierte Bezüge zwischen den Szenen und Zeitsprüngen zu vermeiden. Die Szenen und Dialoge sind manchmal witzig, manchmal tragisch, nachdenklich oder laut, sie können traurig sein oder Momente des Glücks verströmen – immer sind sie banal, alltäglich, wie zufällig ausgewählte Schnapp­schüsse aus einer Schachtel voller Fotos:
Ein Dinosaurier stapft durch einen Urwald, eine Hochzeitsgesellschaft grinst „Cheese“, Kinder spielen im Westernfort, echte Indianer streifen durch den Wald, ein junges Paar küsst sich, ein Jüngling suhlt sich in seiner Einsamkeit … Das macht diese Szenen so glaubwürdig, ­lebensnah und letztlich emotional.  Das sechsseitige Experiment von 1989 war eine geniale Stilübung. Die Graphic Novel ist ein Meisterwerk. Sie saugt uns tief in diese unermesslichen Zeiträume, wir verlieren Halt und Orientierung und werden auf eine unauf-, aber durchaus eindringliche Weise konfrontiert mit der Fragilität und Vergänglichkeit des Lebens, aber auch mit der Magie, die in seiner Banalität liegt. Dabei werden wir auch bestens unterhalten. Deshalb gibt es nur eine Antwort auf die Einstiegsfrage : „Ja !“ ­Diese Erweiterung und Vertiefung war notwendig; Hier ist eine faszinierende Erfahrung.
Christian Gasser

Richard McGuire: „Hier“.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner.
DuMont Buchverlag, 300 S., Hardcover,
EUR 24,99 / CHF 37.90

Gnehm: Die kopierte Stadt

Eine Kopie ist noch kein Original

Was macht eine Stadt lebenswert ? Die Gebäude, die das Stadtbild prägen, oder die Menschen, die ihre Strassen bevölkern ? Diese Frage stellt sich, wenn man am Ende von Mathias Gnehms neuem Comic Die kopierte Stadt die letzte Seite überfliegt. Verlassen steht da der Architekt Leo Lander mitten in einer menschenleeren Stadt, nur weit oben surrt ein Helikopter am Himmel über ihm.
Die Stadt gleicht Zürich aufs Haar. Nur eben ist sie nicht Zürich. Vielmehr handelt es sich um eine Kopie. Geplant und errichtet haben sie der Schweizer Architekt Hans Romer und der chinesische Immobilieninvestor Xiao Ping nahe der südwestchinesischen Millionenstadt Kunming. Das vergleichsweise grüne und ruhige Wohnambiente hätte wohlhabende Chinesen anlocken sollen. Doch der Plan geht nicht auf. Die Stadt ist zwar gebaut, leider an den lebenden Menschen vorbei, und statt eines pulsierenden Stadtlebens macht sich trostlose Ödnis breit.  Trostlos endet auch Lander: Extra nach China eingeflogen, um ein heikles Geschäft zwischen Romer und Ping abzuwickeln, wird er für seinen Einsatz wohl reich belohnt, doch man benutzt ihn und infolge einer Intrige verliert er seine Familie, und kein Geld der Welt kann ihm diesen Verlust ersetzen. Einsam und verloren steht er zuletzt da – nicht mehr als eine kleine, unbedeutende Figur in einem Millionenpoker um Immobilien, Kunst und Kultur.  Fintenreich führt Matthias Gnehm seine Leser durch ein Spiel, in dem die Grenzen zwischen Original und Kopie zerfliessen, und der Schein vom Sein kaum je eindeutig zu trennen ist. Bei aller Fiktion enthält
Die kopierte Stadt zugleich zahlreiche Bezüge zur Realität: Wer Leo Lander auf seinen Stadtgängen folgt, trifft auf manches Schmuckstück aus Zürichs Ar­chitektur und Städtebau. Seit 1982 pflegen Zürich und Kunming zudem eine
Städtepartnerschaft mit dem Schwerpunkt Stadtentwicklung. Selbst das Kopieren westlicher Bauten, Dörfer und Städte (bei Boluo etwa hat man das österreichische Hallstatt nachgebaut) findet in China tatsächlich statt.  Künstlerisch steht Matthias Gnehm auf dem Höhepunkt seines bisherigen Schaffens. Der ganze Comic ist in dezenten Pastellfarben gehalten, wobei umsichtig gewählte Perspektiv- und Farbwechsel die Lektüre kurzweilig gestalten und stetig vorantreiben. Feinheiten der Architektur bildet Gnehm ebenso gründlich und genau ab, wie er die Gefühlslagen der Menschen eindringlich und mit dem nötigen Anstandsabstand nachzeichnet. Im Detail mag Die kopierte Stadt etwas konstruiert und in den Motiven teilweise überstrapaziert wirken, etwa wenn es um Landers gescheiterte Ehe geht. In den grossen Zügen jedoch hat Matthias Gnehm eine feinsinnige Parabel auf das Glück des Menschen in der Stadt des 21. Jahrhunderts verfasst, die gleichermassen die Liebe des Autors zum Menschen wie zur Architektur ausdrückt.
Florian Meyer

Matthias Gnehm: „Die kopierte Stadt“.
Hochparterre AG, 64 S., Hardcover, farbig,
EUR 33 / CHF 39.90

Über das Kopieren westlicher Architektur in China:
Bianca Bosker: „Original Copies. Architectural Mimicry in Contemporary China“.
University of Hawai’i Press, 208 S., Softcover, farbig,
EUR 22,30 / CHF 39.90

Harvey Kurtzman: Harvey Kurtzman’s Jungle Book

Der Dschungel des Satirikers als Kleinod für Sammler

Schon das Cover der Neuausgabe von Harvey Kurtzman’s Jungle Book verrät den schelmischen Witz des Satirikers, der vor sich selbst nicht Halt macht: Auf dem Titel­bild hängt ein Verlagsvertreter mit Hut, Anzug und Aktenkoffer an einem Arm in der Schwebe. Mit grotesk überzeichneten, hervorstechenden Augen schaut er in die Irre. Fiebrig wirkt er und beunruhigt, zugleich albern überdreht und dadurch komisch. Über ihm ziert ein kleines Konterfei das Cover. Es zeigt einen verschmitzt dreinblickenden Mann ohne Haare, der eine Braue hochzieht und Pfeife raucht: Das ist Harvey Kurtzman, zur Ikone der Comic-Satire verdichtet.
Seinen Platz im Olymp des amerikanischen Comics verdiente sich Harvey Kurtzman (1924 –1993) mit Comic- und Satiremagazinen wie MAD, TRUMP, Humbug und Help !. Sein Jungle Book hingegen war – als es 1959 erstmals erschien –
für den Verleger Ian Ballantine ein Misserfolg und galt lange als vergessener Klassiker. Für Zeichner wie Art Spiegelman, Robert Crumb, und Gilbert Shelton, die ab den 1960-ern die Underground Comix prägten, hatten Kurtzman und sein Dschungelbuch jedoch wegweisenden Charakter.  Aufgrund des experimentellen Seitendesigns mit neuartigen Panelsequenzen und schwarz-weissen, skizzenhaften Zeichnungen gilt das Jungle Book heute als Vorläufer der «Graphic Novel». Dazu passte, dass sich seine bissig-scharfen Alltagssatiren an Erwachsene richteten und von Anfang an in Buchform erschienen.  Das Jungle Book umfasst vier Parodien, die den Fortschrittsglauben und den Zeitgeist der 1950-er aufs Korn nehmen. Dabei bezieht sich Kurtzman genauso auf die eigene Erfahrung wie auf Kino, TV, Literatur und Wissenschaft. Zum Beispiel verbindet er seine Erlebnisse im Verlagswesen mit Erkenntnissen aus dem Management-Klassiker The Organization Man: Anhand der Figur des Goodman Beaver zeigt er, wie habgierige Geschäftspraktiken und sexistische Umgangsformen einen anfänglich gutwilligen Geschäftsmann langsam, aber sicher desillusionieren und seinen Idealismus in Zynismus verkehren.  In einer Szene glüht Goodman Beaver vor Empörung, während sich sein Chef Lucifer Shlock seelenruhig im Sessel umdreht und ihm die Regeln des Profits erklärt. Kurtzman verteilt diese Sequenz auf drei hohe, schlanke Panels, in denen Beaver im Zorn erstarrt und die ganze Bewegung auf den Chef fokussiert. Im Laufe von Shlocks Schelte wachsen die Sprechblasen, bis sie Beaver beinahe erdrücken und seine Bekehrung sichtbar machen.  Mit dem Jungle Book lanciert Dark Horse seine Werkreihe Essential Kurtzman. Die Neuausgabe enthält Fotos, Korrespondenzen und Illustrationen Harvey Kurtzmans sowie Erläuterungen von Gilbert Shelton, Denis Kitchen, Art Spiegelman und Robert Crumb. Die Zeichnungen sind auf rot-braunem Papier gedruckt, was dem Hardcover-Band einen nostalgischen Anstrich gibt. In dieser prächtigen Ausgabe ist das Jungle Book ein Kleinod für Liebhaber und Sammler.
Florian Meyer

Harvey Kurtzman: «Harvey Kurtzman’s Jungle Book. Essential Kurtzman Volume One».
Dark Horse Comics, 176 S., Hardcover, s/w,
EUR 22,70 / CHF 35.90

Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia.
Die Geschichte von Samia Yusuf Omar

Run for your life

Bereits jetzt ist abzusehen, dass Reinhard Kleists aktueller Comic zu den wichtigsten Neuerscheinungen im Jahr 2015 gehören wird. Mit Der Traum von Olympia über die gescheiterte Flucht der Sportlerin Samia Yusuf Omar hat der Berliner Comic-Zeichner und Illustrator einen bewegenden politischen Comic geschaffen, der Publikationen von Will Eisner, Keiji Nakazawa und Art Spiegelman ebenbürtig ist. Nach seiner vielbeachteten und gefeierten Johnny-Cash-Biografie ist Kleist ein weiterer herausragender biografischer Comic gelungen, der die erzählerischen Qualitäten des Genres konge­nial nutzt, um diesmal ein aktuelles politisches Thema anhand eines Einzelschicksals zu beleuchten. Samia Yusuf Omar wurde 1991 in Mogadischu, Somalia, geboren und starb Anfang April 2012 bei ihrer Flucht aus ihrer Heimat über Äthiopien, Somalia und Libyen auf der Überfahrt nach Italien. Ihr Ziel war es, bei den Olympischen Spielen 2012 in England zu starten, doch sie kam nie dort an. Nachdem Omar 2008 für Somalia an den Olympischen Wettkämpfen in Peking teilgenommen hatte und für ihr Land die Fahne beim Einlauf in das Stadion trug, wurde sie nach ihrer Heimkehr verstärkt von islamischen Extremisten bedroht, welche die sportlichen Aktivitäten von Mädchen und Frauen verurteilen. Im September 2011 schloss sich die Sportlerin Flüchtlingen über den Sudan nach Libyen an und kam nach einer ersten gescheiterten Bootsflucht für einige Wochen in ein Gefängnis. Im April 2012 bestieg sie mit ihrer Tante und 60 weiteren Flüchtlingen erneut ein Schlauchboot. Vor der Küste Maltas sollten sie auf ein Schiff umsteigen, dabei stürzte Omar im Gedränge mit einigen anderen Personen ins Wasser und ertrank. Das tragische Beispiel der Sportlerin Samia Yusuf Omar ist ein Einzelschicksal, und dennoch steht es für viele andere Schicksale, die sich hinter den anonymen Flüchtlingszahlen verbergen, die täglich in den Nachrichten genannt werden. Omar war eine selbstbewusste junge Frau, die einen Traum hatte. Ihr Traum war es, Sport zu ihrem Lebensinhalt zu machen. Was sie jedoch aus zwei Gründen mit ihrem Leben bezahlen musste. Zum einen konnte sie diesen Traum nicht in ihrem Heimatland ausleben. Zum anderen scheiterte sie an der EU-Grenzpolitik, von der illegale Schleuserbanden und Himmelfahrtskommandos mit ihren schiffbrüchigen Booten nur profitieren. Somalia wurde nach zahlreichen Militärinterventionen von der Weltgemeinschaft längst aufgegeben und gilt nun als „failed state“. Deutschland bietet zwar Flüchtlingen aus Somalia politisches Asyl an – immerhin werden 50 % als schutzbedürftig anerkannt – doch zugleich gibt es keine Möglichkeit, legal nach Deutschland einzureisen. Reinhard Kleist hat einen sehr bewegenden Comic geschaffen, der aufgrund der geschilderten Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit nur schwer zu verdauen ist. Umso wichtiger ist dieses Werk für die unzähligen Flüchtlinge.
Matthias Schneider

Reinhard Kleist: „Der Traum von Olympia.
Die Geschichte von Samia Yusuf Omar“.
Carlsen, 152 S., Hardcover, s/w,
EUR 17,90 / CHF 26.90

Dylan Horrocks: Incomplete Work

Comics von Meisterhand

Zu Beginn muss ich wohl gestehen, dass ich nicht ganz objektiv über die Werke von Dylan Horrocks schreiben kann, da ich ihn – obwohl er bis heute relativ wenig publizierte – für einen der talentiertesten, poetischsten und überhaupt wichtigsten Zeichner seiner Generation halte. Würde er als Designer von Frühstücksflocken-Packungen arbeiten, würde ich auch diese mit Begeisterung sammeln.  Mit seinem Album Incomplete Works, schenken uns Horrocks und die New Zealand Academic Press ein liebevoll gestaltetes Archiv meist nicht sehr umfangreicher Arbeiten der letzten dreissig Jahre, zusammengetragen aus Mini-Comics, Fanzines und Sammelheften kleiner Verlage. Vieles davon habe ich da oder dort schon mal gesehen, ­weshalb das Album für mich eine wunderbare Zeitreise durch fast mein ganzes Leben als erwachsener Comic-Fan darstellt.  Incomplete Works enthält einige echte Juwelen, darunter: Little Death (1986), einer von Horrocks’ frühen Comics, in dem er sich brilliant mit dem Gefühl auseinandersetzt, wie es ist, zwanzig Jahre alt zu sein, die ganze Nacht in verrauchten Bars rumzuhängen, über wichtige Themen zu quatschen “and falling in love a hundred times in a single moment”. Captain Cook’s Comic Cuts (1994), ein gescheites und extrem lustiges Buch über Comics von Seeleuten aus dem 18. Jahrhundert, die schon einige Jahrzehnte vor den Werken Rodolphe Töpffers entstanden sind (aber das wusstet ihr ja längst, ihr Comic-Experten, oder ?). L’il Ainjil (1998), ein kurzes aber herzzerreissendes Loblied auf George Herriman, den Schöpfer von Krazy Kat’. To the I-Land (2007), eine scharfsinnige und respektvolle Einführung ins Werk des vergessenen neuseeländischen Undergroundcomic-Zeichners Barry Lynton.  Der Höhepunkt der Sammlung aber ist The Last Fox Story, die Horrocks einst als 104-seitigen Mini-Comic publizierte, als er in London eine schwierige Zeit durchlebte, in der er seine Beziehung zu Comics neu überdachte. Die Geschichte, sie ist auch auf seiner Website zu finden, wurde ursprünglich für die Zeitschrift Fox Comics produziert, die ihr Erscheinen ironischerweise einstellte, noch bevor Horrocks’ Comic publiziert werden konnte. Eine lustige, traurige und wunderschön poetische Story über Horrocks’ beliebteste Themen – seine Leidenschaft für Comics, obwohl es sich dabei um ein schwieriges Medium handelt, das den Zeichnern meistens weder Ruhm noch Geld einträgt; das ständige Ringen des Künstlers, Werk und Karriere unter einen Hut zu bringen, vor allem, wenn man allmählich erwachsen und auch noch Vater wird; und schliesslich über das enorme Vergnügen, neue Comics zu entdecken und sich darin zu verlieren. Und da sich Horrocks bis heute mit all diesen Themen beschäftigt, ist Incomplete Works der perfekte Titel.  Wem noch nie ein Buch von Horrocks in die Hände kam, würde ich aber nicht Incomplete Works empfehlen, sondern eher Hicksville, das postmoderne Meisterwerk einer Graphic Novel, das sich ebenso mit der Geschichte der Comics als Kunstform beschäftigt als auch mit Themen wie Zeit, Erinnerung, Arbeit, Freundschaft sowie der Kunst als erlösendes Medium. Wann immer mich das Gefühl beschleicht, Comics satt zu haben, greife ich zu einer der Ausgaben von Hicksville und besinne mich wieder, was das Medium Comic aus der Hand eines Meisters bewirken kann.
Mark David Nevins

Dylan Horrocks: „Incomplete Work“.
Victoria University Press, 192 Seiten, Englisch,
Softcover, farbig, ca. $ 15.95
Webseite des Autors:
hicksvillecomics.com/lastfoxstory/ ?p=185

Farel Dalrymple: The Wrenchies

Die Jugend von morgen

Fünf Jahre hat der amerikanische Autor Farel Dalrymple benötigt, um sein bisher grösstes Werk zu vollenden. Es handelt vom jungen Sherwood, der eines Tages in einer Höhle von Monstern angegriffen wird. Um das Trauma zu überwinden, zeichnet er einen Comic über eine Gruppe jugendlicher Rabauken namens „The Wrenchies“, die in einer postapokalyptischen Zukunft gegen kinderfressende Erwachsene kämpfen. Hollis, ein dicker Bub in Superhelden-Kostüm, liest den Comic und reist wie durch Magie durch das Raum-Zeit-Kontinuum zu den Wrenchies, um mit ihnen die Welt vor dem Untergang zu retten …  Dies ist nur eine grobe Übersicht der verstrickten und teilweise schwer zu folgenden Handlung, die sich über mehr als 300 Seiten erstreckt. Die Leser werden zu Beginn mitten ins Geschehen geworfen und nur langsam über die Sachverhalte aufgeklärt. Das Buch kommt einer persönlichen Kindheitsverarbeitung des Autors gleich und ist gespickt mit Referenzen aus der Populärkultur wie Comic, Film, Sci-Fi- und Fantasy-Literatur: Die Idee für die Geschichte stammt laut Autor aus dem Film Wut im Bauch von 1979 und aus einer Star-Trek-Episode; das Wechselspiel zwischen der Comic-Ebene und der Realität und das Einfügen einer Metaebene ist vom Comic-Guru Grant Morrison geborgt; die nicht enden wollenden Schlachten zwischen der Jugendbande und den dunklen Schattenwesen erinnern an die Herr der Ringe-Filme und an Harry Potter. Ebenso sind Dalrymples mal düstere, mal farbenfrohe Zeichnungen und Aquarelle vollgestopft mit Details und ähneln einem lustig-witzigen Dystopie-Wimmelbuch. Letzteres ist vielleicht das einzig wahre Vergnügen dieses, zugegeben, sehr fantasievollen Buches und vermutlich der Grund, wieso es laut vielen Rezensenten aus Übersee für junge Erwachsene ein Lesespass sein soll. Diese mögen vermutlich die chaotische Kreativität des Autors noch zu schätzen wissen und können sich mit dem Thema des Erwachsenwerdens identifizieren, trotz der blutrünstigen Kampfszenen. The Wrenchies wurde von vielen US-Kritikern zu einem der besten Comics von 2014 gekürt. Dem Buch hätte es aber nicht geschadet, wäre weniger Zeit dafür aufgewendet worden.
Giovanni Peduto

Farel Dalrymple: „The Wrenchies“.
First Second, auf Englisch, 302 S., Softcover, farbig,
EUR 14,90 / CHF 22.90 / $ 19.99 / eBook $ 9.99
Webseite des Autors:
www.fareldalrymple.com

Emily Carroll: „Through the Woods

Viktorianisches Grauen

Die junge Kanadierin Emily Carroll hat eine steile Kariere im Comic-Business gemacht: 2010 zeichnet sie ihre ersten Geschichten, knapp ein Jahr danach gewinnt sie den Joe Shuster Award für ihren Webcomic His Face All Red, eine Horror-Geschichte, die sie an Halloween ins Netz stellt. Binnen weniger Stunden wird der Comic tausendfach gelesen und von Neil Gaiman retweeted. Nun hat Carroll mit Through the Woods einige ihrer Online-Geschichten in einem Buch herausgegeben und scheint damit eine erfolgreiche Nische gefunden zu haben. Carroll hat das englische Genre des Schauerromans aus der Viktorianischen Epoche für den Comic neu erfunden und tritt in die Fussstapfen von Gothic-Novel-Schriftstellerinnen wie Ann Radcliff, Mary Shelley oder den Brontë-Schwestern. Ihre Geschichten spielen meist im vorletzten Jahrhundert und erzeugen durch düstere Landschaften und unerklärliche Ereignisse eine unheilbringende Atmosphäre. His Face All Red erzählt von zwei Brüdern – der eine tötet den anderen, nur um ein paar Tage danach einen Doppelgänger vorzufinden. In A Lady’s Hands Are Cold wird eine junge, frischvermählte Frau im Schloss ihres Gatten von dessen ermordeter Ex-Frau heimgesucht. Die Schauermärchen gehen immer schlecht aus, enden abrupt und mit einem gruseligen Überraschungsmoment. Protagonistinnen sind meist Frauen, die sich sowohl kämpferisch dem Grauen stellen als auch diesem zum Opfer fallen (Carroll liebte als Kind Catwoman und zählt die feministische Autorin Angela Carter zu ihren Vorbildern). Die Charakteren und deren Biografie hält die Autorin bewusst im Dunkeln, weil das Unbekannte weitaus unheimlicher ist. Im Zentrum ihrer Geschichten steht das Grauen, welches über die Figuren hereinfällt. Mit schönen, ornamentierten Zeichnungen, die an den Jugendstil-Illustrator Aubrey Beardsley erinnern und einer geschwungenen Handschrift, die Carroll eigenhändig setzt, vermag sie auf einfache Weise den Horror gekonnt zu übermitteln.
Giovanni Peduto

Emily Carroll: „Through the Woods“.
Margaret K Mcelderry Book, auf Englisch,
208 S., Hardcover, farbig,
EUR 16,40 / CHF 34.30
Webseite der Autorin:
www.emcarroll.com

Luke Pearson: Hilda und...

Freundliche Parallelwelten

Der Berliner Verlag Reprodukt hat vor einiger Zeit eine scheinbare Tautologie in ihr Programm aufgenommen: Kindercomics. Aber es ist lange her, dass man unwidersprochen Comics mit Kinderkram gleichsetzen konnte (obwohl „Kinderkram“ eh nicht negativ belegt sein sollte). Spätestens der Boom der Graphic Novel hat auch dem letzten die Augen dafür geöffnet, dass der Comic ein erwachsenes Medium ist. Da muss man fast schon wieder für Kindercomics werben, zumindest, wenn man etwas anderes als die Klassiker von Gallien bis Entenhausen meint. Luke Pearsons Hilda ist ein solcher Comic: Wunderschön gezeichnet und mit ungebändigter Fantasie erzählt Pearson in den bislang vier Bänden der Reihe von der kecken Protagonistin, die allerlei Geister und Trolle, Winzlinge und Riesen oder auch einen winzigen Riesenvogel kennenlernt. Immer siegt bei ihr die Neugierde über die Angst, wenn es im Gebüsch raschelt, im Erdreich grummelt oder hinter dem Schrank poltert. Der erste, kürzere Band Hilda und der Troll wirkt noch etwas zögerlich und harmlos, aber schon Hilda und der Mitternachtsriese spielt ungezügelt mit der Idee von Parallelwelten, durch die die tapfere kleine Hilda marschiert, als gäbe es nichts Schlechtes auf der Welt. In Hilda und die Vogelparade ist das mit seiner Mutter lebende Mädchen in die Stadt gezogen, doch auch dort warten schon die Abenteuer auf sie. Man muss eben die Augen offen halten. Hilda und der schwarze Hund, der letzte Band der überaus schön gestalteten Reihe, die Lesefrischlinge, aber auch ältere Kinder mit Genuss lesen können, wird sogar ein regelrechtes Actionabenteuer: Um Pfadfinder geht es, aber auch um Hausgeister und einen riesigen schwarzen … hm … Hund ? Hildas Abenteuer aus einer fantastischen Welt voller fabelhafter Wesen sind unglaublich reichhaltig und längst nicht nur etwas für Kinder.
Christian Meyer

Luke Pearson: „Hilda und…“. Reprodukt,
bislang 4 Bände, je 64 S., Hardcover, farbig,
EUR 18 / CHF 27.90

Max Mönch, Alexander Lahl, Kitty Kahane: Treibsand

Zahn der Zeit

Pünktlich zum Jubiläum des Mauerfalls erschien Treibsand von Alexander Lahl, Max Mönch und Zeichnerin Kitty Kahane. Nach ihrer Doku-Fiction 17. Juni. Die Geschichte von Armin und Eva, die sich auf halb fiktionalem Weg dem gescheiterten Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR annähert, wagen sie sich nun ebenfalls auf fiktionalem Weg an das Jahr 1989 und den Mauerfall: Der amerikanische Journalist Tom ist als Korrespondent in Berlin. Wenn welthistorische Ereignisse anstehen, bekommt er regelmässig Zahnschmerzen. Gerade war er noch in Peking auf dem Tiananmen-Platz, um das dortige Gemetzel zu dokumentieren – nun ist er in Berlin, weil dort die nächsten his­torischen Umwälzungen zu erwarten sind. Und tatsächlich: Gerade erst ist er angekommen, schon bekommt er Zahnschmerzen. Und sie werden in den kommenden Wochen immer unerträglicher. Zugleich lernt er eine ehemalige Ostberlinerin kennen und verliebt sich in sie. Doch die hat ihre Geheimnisse …  Kitty Kahane hat ihren kantigen Zeichnungen, die man in Schwarzweiss so ähnlich schon aus 17. Juni kennt, einen eindeutig surrealen und poppigen Ton verliehen. Dennoch entsteht mit all dem Zeitkolorit und den vielen angerissenen Biografien der Nebenfiguren ein komplexes und auch realistisches Bild jener Zeit des Umbruchs – wenngleich stark komprimiert und mit Genremitteln überzeichnet. Zwischen Liebe, Politik und Zahnarztstuhl gerät der Erzähler Tom in einen surrealen Strudel der Ereignisse. Der Erzählansatz birgt ­einige Überraschungen sowie Turbulenzen und ist trotz aller Tragik voller hanebüchener und sehr lustiger Ideen.
Christian Meyer

Max Mönch, Alexander Lahl u. Kitty Kahane: „Treibsand“.
Metrolit Verlag GmbH,
176 S., Hardcover, farbig,
EUR 20 / CHF 26.90

Kurz und Gut

von Christian Meyer


Pablo
Aya – Leben in Yop City

Julie Birmant und Clément Oubrerie widmen sich in Pablo Picassos frühen Künstlerjahren. Aus der Perspektive seiner ersten Geliebten Fernande Olivier erzählen die bisher drei Bände von Picassos Kampf um Anerkennung und einen eigenen Stil. Die sehr schönen Zeichnungen von Clément Oubrerie verströmen die Aura des wilden Lebens am Montmartre. Im aktuellen, dritten Band Matisse reisen Pablo und Fernande in die spanische Heimat des jungen Künstlers und lernen den Kollegen Matisse kennen – Picassos grossen Konkurrenten. Picassos Arbeit ist zunehmend von Erfolg gekrönt, und mit dem Kubismus findet er schliesslich seine Ausdrucksweise. Picassos Besessenheit – die Geistesblitze wie der Wahn, aber auch der normale Alltag zwischen Saufgelagen, Streitereien mit Fernande und Geldsorgen fangen die Autoren schwung- und humorvoll ein, die Bilder sind eine Augenweide. Gleiches gilt für die Reihe Aya, die Oubrerie für Marguerite Abouet aufwändig umsetzt: Abouet erzählt vom Leben in der Elfenbeinküste. Das Ungewöhnliche: Es geht nicht um Krieg, Hunger und Bildungsnot, sondern um den ganz normalen Alltag in den frühen 80er-Jahren. Der zweite Sammelband Leben in Yop City fasst wiederum drei Hefte zusammen und wechselt zwischen den Hauptfiguren in Paris, der urbanen und der dörflichen Elfenbeinküste: Hier wird gestritten, gelacht, gearbeitet und gefeiert. Das pulsierende Leben strahlt aus jedem einzelnen Panel von Oubrerie.
Julie Birmant & Clément Oubrerie: „Pablo“.
Reprodukt, bislang 3 Bände, je 112 S.,
Softcover, farbig,
EUR 20 / CHF 29.90

Marguerite Abouet & Clément Oubrerie: „Aya – Leben in Yop City“.
Reprodukt, 376 S., Hardcover, farbig,
EUR 39 / CHF 53.—

Friends
Jan Soekens Debüt Friends basiert auf einer Zeitungsnotiz: Zwei Freunde wandern zu einem Treffen des Baden-Württembergischen Ku-Klux-Klans. Im Wald verlaufen sie sich und geraten aneinander – der Tonangeber bekommt plötzlich Gegenwind. Dann stehen sie vor einem Zwinger mit einem dreibeinigen Hund  … Die tragikomische Geschichte ist in flüchtigen Bleistiftzeichnungen gehalten, welche die Albernheit, aber auch das ­tragisch Unbeholfene der Figuren transportieren.
Jan Soeken: „Friends“.
Avant-Verlag, 48 S. Softcover, s/w,
EUR 10 / CHF 15.90


Safari Honeymoon
Hier raschelt und grummelt es im Gebüsch – für Kinder ist Safari Honeymoon aber wohl eher nicht geeignet. Ein frisch vermähltes Paar geniesst die Grosswildjagd mit einem fürsorglichen Guide. Der Dschungel ist allerdings höchst ungewöhnlich, und Gefahren lauern überall: giftige Pflanzen, psychedelische Parasiten – ein Albtraum jagt den nächsten. Jesse Jacobs hat eine blühende Fantasie –
im wahrsten Sinne des Wortes: Die Na­tur strotzt nur so vor giftigen, alles ­fressenden Wesen, die permanent unsere Urängste heraufbeschwören. Und dann steht sich der Mensch auch noch selbst im Weg ! Gezeichnet ist diese dunkle Wunderwelt ganz akribisch in ­faszinierendem Giftgrün.
Jesse Jacobs: „Safari Honeymoon“.
Rotopolpress, 80 S., Softcover, farbig,
EUR 18 / CHF 25.90

Intisars Auto
Intisars Auto basiert auf Erlebnissen, die der Autor Pedro Riera bei einem einjährigen Aufenthalt im Jemen mit seiner Frau machte. Die Figur der jungen Intisar ist aus den Eigenschaften vieler Frauen und Erzählungen darüber zusammengesetzt. Ihr Freiheitswille und das im grossen Gegensatz dazu stehende Patriarchat im Land spiegeln die Situation der Frau im Jemen so eindrucksvoll wie erschreckend wider. Gezeichnet hat die durchaus ­humorvoll erzählte Geschichte Nacho ­Casanova mit einem sehr feinen Strich (Egmont).
Pedro Riera & Nacho Casanova: „Intisars Auto“.
Egmont, 224 S., Softcover, s/w,
EUR 19,99 / CHF 29.90


Blitzkrieg der Liebe
Blitzkrieg der Liebe ist ein finnisches Coming-of-Age-Drama, das visuell mit Überzeichnung und vor allem Verniedlichung arbeitet: Zu Beginn seiner Pubertät verliebt sich Eero in seine alte Sandkastenfreundin. Die ist in ihrer Entwicklung allerdings schon wesentlich weiter, und so nimmt die Tragik ihren Lauf. Petteri Tikkanens Zeichnungen sind flächig, farbig und stilisiert: ein ­Pop-Comic über das Erwachsenwerden.
Petteri Tikkanen: „Blitzkrieg der Liebe“.
Avant-Verlag, 264 S., Hardcover, farbig,
EUR 19,95 / CHF 29.90

Come prima
Der preisgekrönte Band Come prima – auf Deutsch „Wie einst“ – erzählt von der Reise zweier ungleicher Brüder, die mit der Last der Vergangenheit hadern. Nachdem der Ältere früh und ohne Abschied die Heimat verlassen hat, haben sie sich nicht mehr gesehen. Jetzt will der Jüngere ihn zurückholen. Die Reise in einem klapprigen Fiat 500 gerät zur turbulenten und konfliktreichen Odyssee, an deren Ende mehr als eine Überraschung steht: Alfred erzählt mit seinen stimmungsvollen Zeichnungen nicht nur vom Italien der späten 50er-Jahre, sondern indirekt auch vom Mussolini-Regime.
Alfred: „Come prima“.
Reprodukt, 224 S., Hardcover, farbig,
EUR 34 / CHF 46.90

Robert Moses – Der Mann, der New York erfand
Pierre Christin, vor allem durch seine Jugendserie Valerian & Veronique und seine Zusammenarbeit mit Enki Bilal hinsichtlich der Reihe Legenden der Gegenwart bekannt, widmet sich mit Robert Moses – Der Mann, der New York erfand dem Leben desjenigen Städteplaners, der von 1930 bis 1970 die Entwicklung New Yorks zur modernen (Auto-)Stadt entscheidend prägte. Der anfängliche Respekt für Moses‘ frühen Weitblick weicht zunehmend einer Kritik an dessen Ignoranz gegenüber der Bevölkerung. Olivier Balez illustriert das Biopic farbenfroh und anschaulich. Die dem Genre anhaftenden Schwierigkeiten – im Zeitraffer und einzelnen Episoden durch die Zeit hasten zu müssen – haben die Autoren weitgehend im Griff.
Pierre Christin / Olivier Balez: „Robert Moses – Der Mann, der New York erfand“.
Carlsen, 112 S., Hardcover, farbig,
EUR 17,90 / CHF 26.90


Die Sternenwanderer
Nachdem Moebius und Jodorowski Anfang der 80er-Jahre mit ihrer Incal-Serie grosse Aufmerksamkeit erregten, trennten sich die Wege des Zeichners und des Filmemachers wieder. Kurz darauf führte ein Auftrag für Citroën Moebius zu einer neuen Science-Fiction-Serie, bei der der Zeichner seine narrativen Freiheiten voll ausspielte: Sternenwanderer wirkt wie ein Experiment der Écriture automatique: Die Helden stolpern in ihrer Selbstfindungsreise von einer fantastischen Welt in die nächste. In seiner Zivilisa­tionskritik verarbeitet Moebius auch sein Interesse an natürlicher Rohkoster­nährung. Auf dem Gebiet erscheint das ­bildgewaltige Epos aktueller, denn je.
Moebius: „Die Sternenwanderer“.
Schreiber & Leser, 6 Bände, je 84 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 16,95 / CHF 27.90

 

Biografien

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Lika Nüssli
*1973. Nach einer Ausbildung zur Textildesignerin besuchte ich das Studium in Illus­tration an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern. Seit 2001 bin ich freischaffende Künstlerin in St. Gallen. Ich zeichne, male, illustriere und performe. In den letzten Jahren habe ich das Live-Zeichnen in verschiedenen Formationen für mich entdeckt, und meine grossformatigen Zeichnungen wachsen oft zu ganzen Rauminstallationen heran.
www.likanuessli.ch

Viktoria Lomasko
*1978. „Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen Kunst, Journalismus, alternativen Comics und Aktivismus. Ich mache grafische Reportagen und Serien über unsichtbare und in Russland stig­matisierte soziale Gruppen: SexarbeiterInnen, MigrantInnen, Homo-, Bi- und Transsexuelle, Insassen von Strafkolonien, Bewohner­Innen der abgelegensten Provinzen etc. Ich zeichne viel bei politischen Prozessen, über einen habe ich gemeinsam mit A. Nikolajew das grafische Buch ‚Verbotene Kunst‘ gemacht, das auf Russisch, Deutsch und Französisch erschienen ist.“

Askold Akishin
„Ich bin 1965 in Moskau geboren. Obwohl ich einst eine Berufsausbildung zum Industrie-Grafiker absolvierte, habe ich mein ganzes Leben lang Bücher und Zeitschriften illustriert. Ich zeichne Comics, entwerfe Spielzeug-Soldaten und male Bilder.“

Julia Marti
*1984, studierte Visu­elle Kommunikation in Zürich sowie Illustration und Comic in Hamburg und arbeitet als Grafikerin, Illustratorin und Künstlerin in Zürich. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Zeichnung und ihre redaktionelle, publizistische Arbeit u.a. als Mitherausgeberin von STRAPAZIN. Auszeichnungen: Max-und-Moritz-Preis für „Plusplus Nr. 3: Das Haus“ am Comic-Salon in Erlangen (2008); Hauptpreis Figures Futur am Salon du livre et de la presse jeunesse in Paris (2008). Diverse Einzel- und Gruppenausstellungen.
www.juliamarti.com

Milva Stutz
*1985, lebt und arbei­tet in Zürich. Sie studierte Illustration an der Hochschule Luzern Design & Kunst und am Edinburgh College of Art und Kunstvermitt­lung an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit 2009 arbeitet sie als Künstlerin und Illustratorin und hat mehrere Publikationen im Eigenverlag veröffentlicht. Seit 2014 ist Milva Stutz Dozentin für Bild am Propädeutikum der ZHdK und für Zeichnen an der F+F Schule für Kunst und Mediendesign in Zürich und ist in ­diversen Einzel- und Gruppen­ausstellungen vertreten. Seit 2011 ist sie Mitherausgeberin von STRAPAZIN.
www.milvastutz.ch

Pierre Wazem
*1970, stammt aus einer Glasmacherfamilie, hat sich aber als Comic-Autor für ein bescheide­neres Handwerk entschieden. Seit 1994 arbeitet er in den berühmten Studio Lolos in Carouge. Auf Deutsch erscheinen seine Bücher im Avant Verlag. Im STRAPAZIN ist er bereits in den Ausgaben 60 und 90 ­veröffentlicht worden.

Olga Lawrentjewa
*1986 in Leningrad, lebt in Sankt Petersburg. Sie studierte Design an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg, wo sie 2011 mit Magistergrad abschloss. Sie malt Aquarellbilder und verfasst experimentelle Comics, in denen sie verschiedene Stile und Techniken verbindet. Bisher sind zwei Bücher von ihr erschienen: eine grafische Reportage aus dem Gerichtssaal, „Prozess der Zwölf“ (2014), und eine Serie halbabstrakter und halbdokumentarischer Comics: „Nicht anerkannte Staaten. Elf Geschichten vom Separatismus“ (2015).

Isabel Peterhans
*1986. „Mit neun Jahren war ich Assistentin eines Zauberers und wurde vor Publikum zersägt. Zehn Jahre später verteilte ich Aktionsflyer für eine Pizzeria in Barcelona. Dann nahm ich als ‚Call Agent‘ Beschwerdentelefone einer Telekomgesellschaft entgegen. Seither zeichne ich, das gefällt mir bis jetzt mit Abstand am besten.“
www.isabelpeterhans.ch

Polina Petrouchina
* 1985 in Moskau, hat an der Arts décoratifs in Strassburg studiert und abgeschlossen. Seitdem illustriert und zeichnet sie Comics. Ihre Arbeiten werden regelmässig in Russland und Europa ausgestellt.
https://polinapetrouchina.fr
Auf dem STRAPAZIN-Blog ist das Lied zu finden, das Polinas Tante 1990 in der Nacht vor ihrer Emigration nach Israel zu Hause gesungen hat. Die Aufnahme wurde von einer Kassette digitalisiert.

Simon Kiener
Nach dem Diplom zum Grafiker, studiert Simon Kiener (*1988 in Bern) Illustration an der HSLU. Während seinem einjährigen Austausch in Leipzig an der HGB entdeckt er das Erzählen in Bildern. Er schliesst dieses Jahr seinen Bachelor in Luzern ab.
www.thewildhorde.tumblr.com

Varvara Pomidor
*1975 in Leningrad. Sie studierte an der Staatlichen W.-I.-Muchina-Kunstgewerbeakademie in Sankt Petersburg Grafikdesign. Vom Design gelangte sie über das Zeichnen grafischer Serien zu gezeichneten Geschichten. Sie nahm an zahlreichen internationalen Projekten teil.
www.varvarapomidor.ru
Varvara Pomidors Beitrag basiert auf einem Austausch von Sätzen zwischen zwei Menschen, die nie miteinander gesprochen haben – der Musiker Pjotr Mamonow und Varvara Pomidor. Mamo­nows Texte stammen aus seinem Buch „Häkchen“.

Andreas Kiener
*1986, lebt und arbeitet als freischaffender Illustrator in Luzern. Regelmässig veröffentlicht er Comicstrips zu wahren Erlebnissen auf
www.andreaskiener.ch

Galja Panchenko
*1980. „Ich bin aus der Ukraine, wohne seit 2009 in Hamburg und studiere dort Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Ich bin auch Illus­tratorin in einer Agentur für Illustration in Hamburg.“
www.design.haw-hamburg.de
www.sepia-illustration.de