No:119

  • Cover: Gosia Herba

EDITORIAL

COMICS AUS POLEN

Noch immer scheint die Idee, von Berlin geradewegs gen Osten aufzubrechen, ein wenig ungewöhnlich. Der östliche Nachbar ist immer noch nicht so vertraut wie derjenige im Westen. Ob es an der Sprache liegt, an der allgemeinen kulturellen Orientierung? Vielleicht ist es bei mir auch mit der Abstammung aus dem Grenzgebiet zu den Niederlanden zu erklären, dass es einige Jahre dauerte, bis ich mich zur ersten Reise nach Polen aufmachte, zum Comic-Festival in Łódź. Der Kulturschock war ein angenehmer: Schon damals, 2008, überraschte das Festival mit seiner Grösse, mit dem bunten Angebot an Comics und vor allem mit dem engagierten (und feierfreudigen) Publikum. Da tat sich etwas, da gab es Comics zu entdecken, von denen man zuvor noch nie gehört hatte. Während man über jedes Mikroereignis auch aus Übersee immer bestens informiert war, hatte sich hier schon über Jahre eine ganz eigene Szene entwickelt, mit eigenen Verlagen, Veröffentlichungen und Erzählstimmen. Meine Ausflüge in den Osten wurden regelmässiger und die Comic-Szene Polens zeigte seitdem, dass es nicht nur ein kurzes kreatives Aufflackern war, dem ich zufällig beiwohnen durfte: Hier etablierte sich langsam, aber sicher eine Szene, ein Markt, man darf ruhig sagen: eine Kultur. Es ist leicht, dabei Aussenstehender zu bleiben: Die Sprache, klar, aber ebenso die Abwesenheit von Comics in Buchhandlungen (von Ausnahmen wie der üblichen Auswahl von Thorgal- und Superhelden-Bänden abgesehen) und das weitgehende Fehlen von Comic-Shops (überhaupt findet hier viel online statt) machen es leicht, nicht zu sehen, was hier vor sich geht. Mehr als in vielen anderen Ländern muss man sich aktiv auf die Suche begeben, zum Beispiel durch einen Besuch auf den so unterschiedlichen Comic-Festivals in Poznan, Warschau oder Łódź. Ein wenig erinnert mich die Situation in Polen an diejenige in Deutschland vor ungefähr zehn Jahren, als Comics noch weitgehend abseits der allgemeinen Wahrnehmung platziert waren. Hier wie dort zeigt sich, dass sie Beachtung ausserhalb der eigenen Kreise finden: Die Nominierungen von Maciej Sieńczyk und Marcin Podolec für namhafte Literatur- und Kulturpreise sind nur ein Zeichen dafür. Und es gibt hier viel zu entdecken, wie die Künstlerinnen und Künstler dieser Ausgabe zeigen: Von der versponnenen Episode Sieńczyks und der grüblerischen Geschichte Daniel Chmielewskis über die Bootsfahrt Maria Rostockas und der verspielten Geschichte über einen stürmischen Besuch Renata Gąsiorowskas bis hin zu der gradlinig erzählten Erinnerung an die 1990-er Jahre von Marcin Podolec. Diese Ausgabe des STRAPAZIN gibt einen Einblick in die vielfältige Comic-Szene Polens. Denn genau das ist es: Bloss ein Einblick von vielen möglichen. Viele Namen konnten aus Platzgründen gar nicht erst angefragt werden. So ist diese Ausgabe auch eine Einladung dazu, auf eigene Entdeckungsreise zu gehen. Und ich bin mir sicher, in Zukunft noch von vielen Künstlerinnen und Künstlern aus dem Nachbarland zu hören; sei es in Polen, in Deutschland, der Schweiz oder sei es darüber hinaus.

Christian Maiwald

 
 

Einblick in die aktuelle polnische Comic–Szene

Wir jungen Macher bauen auf das auf, was Künstler, Verleger und weitere Aktivisten in den 1990ern aufgebaut haben.

von Christian Maiwald

Seit 2010 findet in Poznan/Posen jährlich das Comic-Festival Ligatura statt, das sich seitdem mit seinem abwechslungsreichen Programm aus Ausstellungen, Workshops, Diskussionen und weiteren Aktionen vor allem der Independent-Szene widmet. Gerade mit dem Ligatura Pitching, einem Wettbewerb, bei dem Comic-Autorinnen und -Autoren vor Ort einer Jury ihre Projekte in einer Kurzpräsentation schmackhaft machen, ist das Festival bei einem internationalen Publikum bekannt geworden.
Neben dem Festival sind die drei Macher auch als Verleger tätig und veröffentlichen unter dem Namen Centrala Comics polnischer und anderer europäischer Künstler. Seit vergangenem Jahr kümmert sich der u.a. von Festivals in Berlin und Luzern her bekannte Michał Słomka von London aus um die zugleich erscheinenden englischsprachigen Ausgaben der Bücher. Im Gespräch gibt Centrala-Mitarbeiter Paweł Adamiak einen Einblick in die polnische Comic-Szene.

Wahrscheinlich werden viele keine genaue Vorstellung von Comics in Polen haben, was ihren Status betrifft, welche bekannten Künstler die Szene beeinflussen und welche Trends derzeit zu verzeichnen sind. Was irgendwie überrascht, wenn man bedenkt, dass Polen ein direkter Nachbar von Deutschland ist. International bekannt ist der Thorgal-Künstler Grzegorz Rosiński, aber auch innerhalb Polens stellt er eine Ausnahme dar, oder?
Auf internationalen Veranstaltungen höre ich manchmal, wie Leute aus anderen Ländern über den Status von Comics in ihren Heimatländern lamentieren. Sie sagen immer, dass die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit noch nicht zufriedenstellend und die Wertschätzung gegenüber dieser Kunstform zu gering sei, zum Beispiel im Vergleich mit der Literatur. Ich denke, dass wir in Polen dasselbe Problem haben: Viele betrachten Comics als leichte Kost, als irgendwie “schlechtere Kunstform”. In Grossbritannien, wo wir auch aktiv sind, sieht es tatsächlich besser aus, und die Comic-Szene ist grösser. Wenn man mit irgendjemandem in Polen über Comics spricht, denken viele zunächst an Geschichten von Superhelden oder polnische Kindercomic-Klassiker wie Koziołek Matołek (der als Animationsserie noch weit bekannter ist), Tytus, Romek i A’tomek oder Kajko i Kokosz. Andere erinnern sich an die Krimi- bzw. Action-Serien, die vor den politischen Veränderungen 1989 erschienen sind, wie zum Beispiel Kapitan Kloss (über einen polnischen Geheimagenten in der deutschen Armee zur Nazi-Zeit) oder Kapitan Żbik (eine Serie rund um einen Offizier der Miliz). Für Letztere haben verschiedene Zeichner gearbeitet, darunter auch der von Dir erwähnte Grzegorz Rosiński. Tatsächlich ist er der bekannteste Comic-Autor in Polen und viele, die sich nicht für Comics interessieren, haben zumindest schon von Thorgal gehört.
Darüber hinaus gibt es aber eine Reihe von Leuten, die sich sehr aktiv in der Comic-Szene engagieren. Seit den 1990-ern wurden immer mehr Verlage gegründet und immer mehr Comic-ZeichnerInnen aktiv, auch Festivals wie jenes in Łódź wurden veranstaltet. Heutzutage muss auch jedes ernstzunehmende Fantasy-Festival eine spezielle Abteilung für Comics bieten. Parallel dazu fand eine Art intellektuelle Aufwertung durch die akademischen Betrachtungen, zum Beispiel von Jerzy Szyłak oder Wojciech Birek, statt. Ich hoffe, dass sich all das fortsetzt und sich der Status von Comics in Polen weiterhin Jahr für Jahr verbessert. Und natürlich ist es uns auch ein Anliegen, dass polnische Comics im Ausland vermehrt wahrgenommen werden! Heutzutage gibt es so viele bemerkenswerte Künstler. Maciej Sieńczyk ist nur einer von ihnen und nach seiner Veröffentlichung für das international bekannte Magazin kuš! folgten weitere Publikationen.

Als ich das erste Mal ein Comic-Festival in Polen besuchte, was 2008 in Łódź geschah, hat mich die Diversität der Szene und überhaupt die Grösse des Festivals beeindruckt. Da gab es alles – vom lizensierten Superhelden-Heft bis zum kopierten Fanzine. Wie kam es dazu?
Da ich damals – ich war noch zu jung – nicht vor Ort war, kann ich auf diese Frage wohl kaum eine umfassende Antwort geben. Als ich um die 15 Jahre alt war, zirkulierten bereits viele unterschiedliche Titel, die auch ohne Probleme erhältlich waren. Ab 1989 hat sich die Comic-Szene eher schleichend entwickelt, es kam nicht plötzlich zum “big boom” zehn Jahre später. Die Comic-Szene in Polen ist in ihrer Grösse heute sehr ausdifferenziert: Genauer gesagt, neben den Fans von Superhelden gibt es die Zine-Macher, diejenigen, die sich eher für künstlerische Aspekte interessieren oder Leserinnen und Leser von Graphic Novels. Das Festival in Łódź ist dabei eine der grössten Veranstaltungen hierzulande, dort kann man tatsächlich alle antreffen. Wir jungen Macher bauen auf das auf, was Künstler, Verleger und weitere Aktivisten in den 1990-ern aufgebaut haben – wir verdanken ihnen enorm viel.

Es gibt kaum Comic-Shops in Polen. Spielen deswegen Festivals wie in Warschau, Poznan oder Łódź eine so grosse Rolle?
Ja, es stimmt: Bisher haben sich reine Comic-Shops in Polen noch nicht durchgesetzt, aber in den Grossstädten gibt es einige. Manchmal finden sich populäre Titel auch in „normalen” Buchläden. Die meisten Käufe werden wohl über das Internet getätigt. Aber Festivals sind natürlich wichtige und auch gute Orte, um Comics zu kaufen; auch weil dort Händler und Verlage ihre Publikationen zu günstigen Konditionen anbieten. Aber für mich ist das Wichtigste, dass man auf den Festivals Comics auch direkt von Autoren und Verlagen kaufen kann und man so die Macher, die Szene, direkt unterstützen kann. Mir liegen dabei besonders kleine Independent-Zine-Festivals wie Złote Kurczaki (Goldene Hühner) in Wrocław am Herzen, wo man die DIY-Comics direkt von den Autoren kaufen kann. Und neben der gegenseitigen Unterstützung ist der direkte Austausch möglich, was mir sehr gut gefällt.

Verlage und Künstler erreichen also bei Festivals am besten ihr Publikum?
Genau, bei Comic-Festivals klappt das speziell gut. Und hier sind insbesondere das Internationale Comic- und Spiele-Festival in Łódź sowie das Comic-Festival in Warschau zu nennen. Auch wir von Centrala sind dort immer vertreten, aber wir bereisen auch viele andere Veranstaltungen in Polen und darüber hinaus. Manchmal besuchen wir klassische Buchmessen oder wirklich kleine Zine-Festivals. Abgesehen davon, spielt das Internet eine ungemein grosse Rolle, wo es Websites von Verlagen, Comic-Einrichtungen und weitere Kultur-Seiten sowie Newsletter, Foren etc. gibt. In den sozialen Netzwerken wie facebook oder instagram vertreten zu sein, ist absolut unverzichtbar.
Centrala – unser Verlag – organisiert auch Ausstellungen, um die Comic-Kultur voranzubringen. Vor einer Weile haben wir in Poznań unter dem Namen Cheap East die erste Kunstgalerie eröffnet, die sich vollumfänglich und ausschliesslich der Comic-Kunst widmet. Leider ist sie derzeit geschlossen. Aber wir organisieren ja noch das Comic-Festival Ligatura.

Gibt es eigentlich einen spezifischen Mainstream im polnischen Comic abseits von Thorgal?
Thorgal ist bis heute einer der bekanntesten polnischen Comics für Erwachsene, sowohl in Polen wie auch international. Diesen Erfolg konnte bisher niemand wiederholen. Ziemlich beliebt sind heute Humorserien wie Jeż Jerzy oder Wilq Superbohater. In beiden geht es um die Abenteuer von Charakteren in Tiergestalt und beide wurden fürs Kino verfilmt, was sicher zu ihrer grossen Leserschaft beigetragen hat. Einige der bekanntesten Künstler sind derzeit Michal Śledziński, Krzysztof Gawronkiewicz oder Tomasz Niewiadomski. Eine grosse Rolle spielen heute auch Webcomics, viele Künstler machen dadurch auf sich aufmerksam.

Es gibt eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren, die Independent-Comics machen. Ein Umstand, der es uns enorm erschwert hat, eine Auswahl für diese Ausgabe des STRAPAZIN zu treffen. Die meisten verfolgen einen jeweils sehr persönlichen Ansatz hinsichtlich des Stils und des Storytellings. Ist das bezeichnend für die unabhängige Comic-Szene in Polen?
Hmm. Es ist tatsächlich schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der die Autoren von Independent-Comics verbindet. Deine Beobachtung ist richtig: Es gibt Künstlerinnen wie Katarzyna Kaczor mit ihrer sehr eigenen, sehr subtilen Art zu erzählen, Leute wie Łukasz Kowalczuk mit seinen ironischen, post-apokalyptischen Geschichten über Mutanten oder Space-Wrestler und dann noch Zeichner wie Ryszard Dąbrowski oder Prossiak, die von ihrer Herkunft aus der Punk/Anarchismus/DIY-Bewegung geprägt sind. Es wird da ein sehr breiter Bereich abgedeckt.

Gibt es Schulen oder andere Institutionen, an denen gelehrt wird, wie Comics gemacht werden? Oder ist es etwas, das man sich selbst beibringt?
Es gibt einige wenige Orte, an denen man lernen kann, wie Comics entstehen. Bisher sind Workshops und Kurse, die mit Künstlern im Rahmen von Comic-Veranstaltungen oder Festivals stattfinden, in dieser Hinsicht am beliebtesten. In Krakau gibt es an der Akademie für Bildende Künste eine Klasse Rysunek Narracyjny (Narrative Zeichnungen), was in Polen der “professionellste” Ort ist, um seine technischen Fähigkeiten zu verbessern und mehr über Comics zu erfahren. Einer der Lehrer dort ist Jakub Woynarowski – selbst Künstler, Designer und Comic-Autor. Aber als wirkliche Karriere bieten sich Comics bisher nicht an, wenn ich das richtig sehe. Unglücklicherweise ist es weiterhin unmöglich, mit dem Comic-Machen allein seinen Unterhalt zu bestreiten. Für die meisten ist es eher ein Hobby, dem man neben dem “normalen” Job nachgeht. Aber wie sich nun herausstellt, eröffnen sich neue Möglichkeiten, wenn Autoren im Ausland veröffentlicht werden.

Welche Rolle spielen dabei Centrala und Ligatura?
Der Schwerpunkt liegt bei uns darauf, mit Centrala Bücher zu verlegen. Wir begannen damit 2007 in Poznań und verlegen hauptsächlich europäische Comics. Wie Du weisst, sind wir seit 2014 auch in London vertreten und veröffentlichen unsere Bücher nun immer in zwei Auflagen und Sprachen: polnisch und englisch. Damit erreichen wir eine grössere Leserschaft und können Autorinnen und Autoren aus Polen wie zum Beispiel Maciej Sieńczyk, Tomasz Samojlik oder Janek Koza auch im Ausland bekannter machen.
Und jedes Jahr organisieren wir das Internationale Comic-Festival Ligatura in Poznań, wo wir immer versuchen, interessante Dinge auf die Beine zu stellen: Workshops, Ausstellungen, Künstlertreffen und so weiter. Kernstück sind dabei zwei Wettbewerbe: In diesem Jahr veranstalten wir das bekannte Ligatura Pitching und die Comic Cook Book Competition. Alle Infos gibt es auf unserer Website ligatura.eu. Es ist kein so grosses Festival wie in Łódź oder Warschau, denn uns geht es um eine persönliche, freundliche, sehr internationale und “unabhängige” Atmosphäre.

Mir erscheint es etwas problematisch, wenn ein Verlag zugleich als Festival-Veranstalter auftritt.
Ich sehe das etwas anders: Beides ergänzt sich. Wir haben zum Beispiel immer die Gewinner unserer Wettbewerbe veröffentlicht. Zudem bleibt es weiterhin wichtig, Ligatura zu organisieren: nicht nur wegen des eigenen Charakters des Festivals, sondern auch weil es weiterhin der bedeutendste regionale Comic-Event ist.

In der jüngsten Vergangenheit war Maciej Sieńczyk für den Literaturpreis Nike nominiert und Marcin Podolec auf der Shortlist für den Talenty-Trójki-Preis für Bildende Kunst. Sind das Anzeichen für eine breitere Anerkennung von Comics in Polen?
Und es geht ja gleich weiter mit diesen Anzeichen: Erst im April gewann Jacek Świdziński den Henryk-Sienkiewicz-Literaturpreis für sein Buch Zdarzenie 1908. Die zunehmende Wertschätzung ist schön zu sehen. Trotzdem werden viele Bücher wie zum Beispiel Sieńczyks Przygody na Bezludnej Wyspie (die vorliegende STRAPAZIN-Ausgabe enthält einen Ausschnitt daraus / A. d. Red.) bei ihren Nominierungen für Literaturpreise bisher eher als ein künstlerisches Experiment denn als Comic betrachtet.

Abschliessend natürlich noch die Frage, wie sich Comics in Polen in den kommenden Jahren verändern werden. Was wird wichtig?
Wir sehen, dass mehr und mehr Leute ihre Arbeiten gerne im Ausland veröffentlichen wollen, was wir mit der Aktivität in Grossbritannien auch vorantreiben. Denkbar ist, dass moderne Technologien in Zukunft eine grössere Rolle hinsichtlich der Vermarktung spielen, wenn Comics online erscheinen oder als digitale Versionen vertrieben werden.

Verlage

Centrala · centrala.org.uk/pl
Kultura Gniewu · kultura.com.pl
Timof · timof.pl

Festivals

Ligatura Poznan · ligatura.eu
Comicfestival in Lodz · komiksfestiwal.com
Comicfestival in Warschau · komiksowawarszawa.pl
Złote Kurczaki · facebook.com/zlote.kurczaki

Künstler

Krzysztof Gawronkiewic · gawronkiewicz.carbonmade.com
Łukasz Kowalczuk · lukaszkowalczuk.tumblr.com
Janek Koza · jankoza.soup.io
Prosiak · facebook.com/prosiacek
Tomasz Samojlik · wiedzmun.blogspot.com
Michał Śledziński · sledziu.pl

 
 

DAS GESCHRIEBENE WORT

Legnica, Lato, Lem

Von Wolfgang Bortlik

Mein Name ist polnischen Ursprungs. Mein Vater ist in Walbrzych alias Waldenburg geboren, war aber immer Deutscher beziehungsweise Oberschlesier und stolz darauf, obwohl er noch mit 16 Jahren in den Zweiten Weltkrieg ziehen musste. Danach war nur noch die Flucht vor dem Iwan (den Russen) ein Thema in den spärlichen Andeutungen, die ich von dieser Seite zur Familiengeschichte erhalten habe. Ich habe mich nicht allzu obsessiv mit meinen Wurzeln beschäftigt. Mir war das immer ein bisschen zu deterministisch und zu jammerig, wenn andere Schriftstellerkolleginnen und -kollegen ihre literarische Existenz anhand eines Herkunfts- oder Familienproblems diskutierten. Fremd ist man überall und Heimat gibt es doch in Wirklichkeit auch nicht mehr.
Was ist eigentlich von Polen vorhanden in meinem Gedächtnis?

Die Wurst aus Krakau ist eine meiner Lieblingsfleischwaren, aber mit Kümmel. Ich weiss von der Schlacht bei Liegnitz, heute Legnica, wo im Jahre 1241 zwar die anstürmenden Mongolenhorden klar die Oberhand behielten, dann aber rätselhafterweise nach Süden abbogen und nicht weiter ins christliche Abendland hineinstiessen. Als nachgeborener Anhänger von Dschingis Khan und seinen Erben, der sogenannten Goldenen Horde, war mir diese Niederlage des deutschen und polnischen Rittertums und des reaktionären Katholizismus stets ein besonderes historisches Fest.
Dann fällt mir gleich der Mann namens Karol Wojtila ein. Alias Papst Johannes Paul II., der offensichtlich in seiner Jugend als Torhüter Fussball spielte, sonst aber im Vatikan eher die polnische Kartoffel gab. Überhaupt polnischer Fussball, da bin ich präsent: Der spätere Torschützenkönig Grzegorz Lato war mein Lieblingsspieler, als die Polen an der WM 1974 die Deutschen piesackten. Auch Andrej Szarmach verehrte ich, den Stürmer, den sie alle „Teufel“ nannten, weil er so unmögliche Tore machte. Später dann Zibi Boniek, kurzum, die grosse Zeit des polnischen Fussballs. Heute? Robert Lewandowski spielt als schlechter Schauspieler bei einem verabscheuungswürdigen Club. Und er hat auch längst nicht das verknitterte Hallelujamässige eines Lato oder Szarmach.
Gab es nicht auch Rockmusik aus Polen? Ein Mann namens Czeslaw Niemen, der dann irgendwann im schrecklichsten Jazzrock versank. Mehr war da (glaube ich?) nicht! Aber ein Licht durchbricht nun die Finsternis: die Literatur. Einer der grössten, wichtigsten, unterhaltsamsten und klügsten Schriftsteller der Welt, ach was, der gesamten Lichtstrasse, kommt aus Polen – und Stanislaw Lem ist sein Name!

Lem kam am 12. September 1921 in Lwiw (Lemberg) auf diese Welt und starb am 27. März 2006 in Krakau, wo er bis auf ein paar Auslandsaufenthalte die meiste Zeit lebte. Er gehörte der Widerstandsbewegung an und studierte nach dem Krieg Medizin. Später hatte er einen Lehrstuhl für polnische Literatur inne. Seine Romane und Erzählungen, die oft weit über das rein technologische Science-Fiction-Genre hinausgehen, ziehen einem beim Lesen ab und zu den Boden unter den Füssen weg. Dabei ist nichts, von dem Lem schreibt, tonnenschwer oder verschwurbelt. Auch seine Theorie der Science Fiction-Literatur etwa (Phantastik und Futurologie, zwei Bände) ist mit Vernügen und Gewinn lesbar.

Sonette so süss sang Sensophil seiner schwarzen Schönen
Sittsam schien sie, sehr scheu, sehr stolz, sehr stur
Sie schauderte, sie spürte schon der Sünde sanftes Stöhnen
So schnell schmolz sie, so sinnlich schien sein Schwur

So ein Gedicht kommt heraus, wenn der begabte Konstrukteur Trurl eine lernfähige Poesie-Maschine baut, und sein Konkurrent Klapauzius ein Liebesgedicht verlangt, in dem alle Worte mit S beginnen. In Trurls Elektrobarde, einer Erzählung Lems, entwickelt sich diese Poesie-Maschine schliesslich so grandios in allen traditionellen und avantgardistischen Lyrik-Genres, dass das ganze Universum in Verzückung gerät. Trurl, der die Stromrechnung der ständig produzierenden Maschine nicht mehr bezahlen kann, ist wegen ihres poetischen Flehens aber unfähig, sie abzustellen. So verschickt er sie weit hinaus ins Weltall und schliesst sie an einen Sternriesen an, dass sie nun in Form gigantischer Protuberanzen die grösste Dichtung überhaupt schafft. Die Kyberiade ist eine Sammlung von 15 Geschichten Lems, in denen nur Roboter eine Rolle spielen. Das ist selbstverständlich sehr komisch, wenn intelligente Blechdosen plötzlich menschliche Probleme haben. Und das mit der Poesie-Maschine hat man ja auch schon probiert.
Wenn man sich vor gut 40 Jahren für phantastische Literatur oder Science Fiction interessierte, gab es wohl ein paar Klassikerausgaben auf dem Markt, aber vor allem in der SF nur einen Haufen schlecht aus dem Amerikanischen übersetzter und oftmals willkürlich gekürzter Taschenbücher. Dennoch ahnte man, was da für grossartige Literatur auf einen wartet: Autoren wie Philip K. Dick, James Tiptree jr. (übrigens ein männliches Pseudonym für Alice B. Sheldon), Walter M. Miller, Ursula LeGuin usw.
Plötzlich erschien dann die Phantastische Bibliothek im Suhrkamp Verlag, herausgegeben von Franz Rottensteiner, dem deutschen Agenten und Freund von Stanislaw Lem. Diese Reihe war eine Offenbarung. Da gab es die Gruselschocker des düsteren H. P. Lovecraft, die cleveren Romane der Gebrüder Strugatzki, da waren Bücher von Philip K. Dick, Edgar Allan Poe und eben Stanislaw Lem, dessen Erzählungen mit dem Titel Nacht und Schimmel im Jahre 1978 Band eins dieser Reihe bildeten.

Das bekannteste Werk Lems ist wohl der Roman Solaris, der 1961 in Polen erschien. Auf Deutsch gab es ihn erst 1972, nachdem zehn Jahre zuvor eine Publikation in der damaligen sozialistischen DDR nicht möglich war, weil der Roman in „Pessimismus und Negation münden“ würde. Solaris ist ein Planet, der von einem merkwürdigen Ozean gänzlich bedeckt wird. Statt Wasser ist das eine Art Plasma, das offensichtlich ein Bewusstsein und weitreichende Fähigkeiten hat. Menschliche Wissenschafter, die den Ozean vor Ort ziemlich erfolglos untersuchen, werden plötzlich von wichtigen Personen aus ihrer Vergangenheit heimgesucht. So auch der Protagonist Kelvin, der auf einmal seiner toten Freundin gegenübersteht, an deren Selbstmord er sich mitschuldig fühlt. Verantwortlich für diese humanoiden Nachbildungen ist der Ozean, der auf menschliches Schuldbewusstsein reagiert. Wie werden die Forscher nun bloss wieder diese Imitate aus ihrer Vergangenheit los? Selbstverständlich ist Solaris kein Lustspiel, aber doch öfters voll hinterhältigem Witz.
Über die Verfilmung des Romans 1972 durch den russischen Kultregisseur Andrej Tarkowski sagte Lem nur: „Diese Gefühlstunke, in die Tarkowski meine Helden getaucht hat, ganz abgesehen davon, dass er die wissenschaftliche Landschaft amputiert und eine Menge Wunderlichkeiten eingeführt hat – all das ist für mich einfach unerträglich.“
Lem ist mit den Verfilmungen seiner Werke zumeist alles andere als einverstanden. Als das Zweite Deutsche Fernsehen ein Stück nach einer seiner Erzählungen produzieren will, fordert Lem ein total überrissenes Honorar. Auf den Protest des ZDF hin, dass es bei ihnen keinen solchen Honorarsatz gebe, erwidert Lem ganz trocken, es handle sich nicht um ein Honorar, sondern um Schmerzensgeld, weil sie ja doch nur einen fürchterlichen Mist produzieren würden.
2007 ist es aber dann doch so weit: Ein Jahr nach Lems Tod wird im ZDF eine sogenannt satirische Produktion ausgestrahlt, die den Kosmonauten Ijon Tichy, einen der Antihelden von Lem, als Protagonisten hat. Mit ihrer extrem billigen und schrottigen Ausstattung nimmt die Reihe deutlich auch Anleihen an der berühmt-berüchtigen Fernsehserie Raumpatrouille – die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion der 1960er-Jahre. Im Prinzip ist das so, als ob der Comedian Mario Barth ein Arthur-Schopenhauer-Programm aufführen würde.

In Lems Geschichten gerät Ijon Tichy öfters in die Bredouille, so auch in seiner achten Reise im Buch Sterntagebücher, wo er an einem intergalaktischen Kongress teilnimmt, bei dem die Erde in die Vereinten Planeten aufgenommen werden soll. Dummerweise stellt sich heraus, dass einst zwei Schurken vom Volk der Tarrakaner namens Gerr und Hott in trunkenem Zustand beschlossen, auf den Felsen der noch toten Erde eine biologische Evolution zu arrangieren.
„Hott, der damals an einem starken Schnupfen litt, nieste in vorsätzlicher Weise in den plasmatischen Teig hinein und steckte ihn mit bösen Viren an, wobei er krächzte, dass er dadurch den „Geist der Sakramente“ in die unglückselige evolutive Hefe habe einströmen lassen.“ Zum Glück stellt sich dann alles nur als Traum von Ijon Tichy heraus.

Eine ergreifende Geschichte ist Terminus, in der mit dem Piloten Pirx ein weiterer wichtiger Protagonist von Lem auftritt. Jener Pirx übernimmt das Kommando über einen uralten Raumfrachter, auf dem ein veralteter Roboter namens Terminus nachts seltsame Klopfzeichen von sich gibt. Pirx erkennt sie als Morsezeichen und erfährt so die Vorgeschichte des Raumschiffs. Nach einer schweren Havarie im Weltraum kam die gesamte menschliche Besatzung um. Nur der Roboter überlebte und das Schiff konnte – repariert und unter neuem Namen – wieder in Dienst genommen werden. Nachts sendet der Roboter jene Morsesequenzen, mit denen sich die damals voneinander abgeschnittenen Besatzungsmitglieder im havarierten Schiff verständigten und die ihre letzten Tage und Stunden bis zu ihrem Tod wiedergeben. Pirx entziffert Terminus‘ nächtliche Morsesendungen und erhält so „Antworten“ von den Toten.

Polen hat ja eine einschlägige Geschichte: Nach Stalins Tod und Arbeiteraufständen 1956 schien es unter Gomulka zuerst zu Reformen zu kommen, die Kultur blühte auf, aber bald versteinerte alles wieder. 1970 schrieb Willy Brandt mit seinem Kniefall in Warschau Geschichte und nach erneuten Protesten gegen Preiserhöhungen kam Edward Gierek an die Macht. 1976 gab es wieder Streiks und Unruhen, wobei Solidarnosc entstand. 1981 rief der an die Macht gekommene General Jaruzelski sogar das Kriegsrecht aus, bis 1989 dann Schluss war. Selbstverständlich ist Lem mit seinen Geschichten immer auch politisch, am deutlichsten wird er es in Memoiren, gefunden in der Badewanne, einer satirischen Anti-Utopie und Schmähschrift auf eine absolutistische Bürokratie und den totalen Polizeistaat. Der Ich-Erzähler irrt im „Gebäude“, der Spionagezentrale, herum. Einmal wird er verhört, dann wird er selbst zum Verhörenden, es herrscht blanke Paranoia. Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit, Sinn und Unsinn sind nicht mehr zu unterscheiden.
Das Grossartige an Stanislaw Lem ist seine ironische Grundhaltung gegenüber der Welt und auch gegenüber dem Weltall. Die allerletzten Fragen der Menschheit behandelt er in weiser Distanz und vermeidet auch jegliche Arroganz des Wissenschaftlichen, das ja seinerseits stets vor dem Spekulativen und Abenteuerlichen zurückschreckt.

BOOKLIST

Eine Auswahl von Stanislaw Lems Werken,
im Suhrkamp Verlag erschienen:

„Der weisse Tod.“
Gesammelte Robotermärchen inkl. Kyberiade.
464 S., Softcover, EUR 10 / CHF 14.90

„Sterntagebücher.“
523 S., Softcover, EUR 10 / CHF 14.90

„Pilot Pirx.“ Erzählungen.
548 S., Softcover, EUR 11 / CHF 16.90

„Memoiren, gefunden in der Badewanne.“
Roman. 285 S., Softcover, EUR 11,50 / CHF 16.90

„Solaris.“
Ullstein Taschenbuchverlag,
288 S., Softcover, EUR 9,99 / CHF 14.90

 
 

DAS MAGAZIN

Monte Beauchamp: Masterful Marks. Cartoonists who changed the world. 16 Graphic Biographies

Spannende Kontraste

Wegmarken der Comic-Geschichte
Geschmack hat Monte Beauchamp, und wenn sich der US-amerikanische Zeichner und Herausgeber an die Geschichte des Comics heranmacht, dann kommt dabei kein Band heraus, wie man ihn schon dutzendfach gesehen hat. Das zeichnete ihn schon als Herausgeber des Magazins Blab! aus. Unter seiner Hand fiel das Magazin durch eine Bildsprache auf, die ebenso ungewöhnlich war wie sein Format. Mit den Jahren mauserte sich Blab! zu einem regelrechten «Füllhorn der Comix-Kuriositäten» (siehe dazu die STRAPAZIN-Ausgaben 69 und 86).
Den Kenner der Cartoons und Comics verrät auch Monte Beauchamps neuster Band Masterful Marks. Schon das Titelbild sticht ins Auge: In einem spitzen Winkel zerteilt der rote, dreidimensionale Titel das Cover in drei blaue und gelbe Flächen, auf die sich die Autorenzeile und die Untertitel verteilen. Um Zäsuren geht es tatsächlich in Masterful Marks.
Vorgestellt werden 16 Klassiker der Neunten Kunst, wobei Monte Beauchamps Sammlung deshalb gefällt, weil er den Begriff des Cartoonisten sehr weit fasst: Neben Klassikern des Comics finden so auch Karikaturisten, Bilderbuchzeichner und Illustratoren Unterschlupf. Wichtig war Beauchamp, dass die berücksichtigten Zeichner «die Welt veränderten». Das klingt zweifellos etwas hoch gegriffen. Gleichwohl trifft zu, dass jeder der vorgestellten Klassiker die Techniken, wie man mit Bildern erzählen kann, und welche Inhalte sich dafür eignen, entscheidend weiterentwickelt hat.
Rodolphe Töpffer gehört dazu, ebenso Winsor McCay, Edward Gorey, Osamu Tezuka und Hergé. Zu den hierzulande weniger bekannten Koryphäen zählt der in den USA jahrelang massgebliche Karikaturist Al Hirschfeld. Historisch bemerkenswert ist die Kurzbiografie von Lynd Kendall Ward, der als «Vater der Graphic Novel» eingeführt wird.
Der Reiz der jeweils vier bis acht Seiten langen Kurzbiografien liegt darin, dass der Stil der Biografen oft jenem des jeweiligen Klassikers entgegenläuft. Mark Alan Stamaty oder Nina Krug etwa nähern sich den Klassikern Hergé und Jack Kirby mit einer dem Comic eher fernen Bildsprache an, um ihnen so neue Einsichten zu entlocken. Auf der andern Seite hält sich Denis Kitchen sehr eng an die Original-Figuren von Dr. Seuss, überträgt diese aber mustergültig vom Bilderbuch- in den Comic-Bereich. In Ryan Heshkas Darstellung der Superman-Erfinder Jerry Siegel und Joe Shuster kontrastiert der niedliche Strich mit der historischen Härte der Depressionsjahre. Ein Augenschmaus ist Drew Friedmans fotorealistische Biografie von Robert Crumb. Allein ihretwegen lohnt sich die Lektüre von Masterful Marks.
Florian Meyer

Monte Beauchamp: „Masterful Marks. Cartoonists who changed the world. 16 Graphic Biographies”.
Simon & Schuster, 128 S., Hardcover, farbig,
EUR 21,10 / CHF 29.90

Eine schön aufbereitete Online-Version findet sich in dem Web-Magazin boingboing.net:
boingboing.net/2014/10/06/the-16-cartoonists-who-change.html

Nine Antico: Autel California. Face A: Treat Me Nice

Opfer auf dem Pop-Altar

Comics und Pop-Musik – ein schönes Thema, allerdings zu oft reduziert auf platte Biografien. Ganz anders Autel California von Nine Antico (deren superbes Coney Island Baby aus der Edition Moderne in bester Erinnerung geblieben ist), das einen mehrfach gebrochenen Blick aus weiblicher Perspektive auf die musikalischen und gesellschaftlichen Aufbrüche der Sechziger- und Siebzigerjahre wirft.
Im Mittelpunkt des auf zwei Bände angelegten Autel California – der Titel ist ein Wortspiel zwischen dem Song „Hotel California“ und dem französischen Wort für „Altar“ – steht Bouclette (Lockenköpfchen), eine Pamela des Barges, dem Groupie schlechthin nachempfundene, junge Pop-Begeisterte. An-
fänglich ist Lockenköpfchen eine unschuldige, von Elvis‘ TV-Auftritten elektrisierte Schülerin, doch taucht sie schon bald tief ein in die Musikwelt und führt uns dank ihrer Begegnungen mit Brian Wilson und den Beach Boys, Phil Spector und den Ronettes, den Beatles und den Rolling Stones, Jim Morrison, Lenny Bruce, Captain Beefheart und anderen durch die Sechzigerjahre.
Raffiniert ist Anticos Erzählweise: Jedes Kapitel trägt den Titel eines kanonisierten Songs, von „Hound Dog“ über „He‘s a Rebel“ und „Satisfaction“ bis zu „Light My Fire“, dessen Text die Geschichte oft anstelle von Dialogen vorantreibt. Die Anekdoten sind – wie viele Pop-Texte – elliptisch erzählt, in Andeutungen, voller Brüche und Leerstellen und mit refrain-artigen Wiederholungen. Anticos Ansatz, Songtexte, Bandgeschichte(n) und Bouclettes Reifeprozess zu verknüpfen, gelingt nicht immer; gewisse Kapitel setzen zu viel Vorwissen voraus, und das Nachschlagen in den Anmerkungen bricht den Erzählfluss. Die gelungenen Kapitel indes sind echte Juwelen – in „Surfer Girl“ etwa, Bouclettes Romanze mit dem wasserscheuen Brian Wilson, kommt alles zusammen: Liebesgeschichte und Pop-Song, Musikgeschichte und Zeitgefühl, Glück und Melancholie. Dazu passen Anticos lebendige Schwarzweiss-Zeichnungen, in denen ihre Vorliebe für die Ästhetik der Fünfziger- und Sechzigerjahre durchschimmert.
Treat Me Nice ist der erste Band, pardon, die „Face A“ von Autel California; Nine Antico arbeitet derzeit an der B-Seite, die ihre Protagonistin(nen) in die Siebzigerjahre führen wird – es wird, verspricht Antico, düsterer werden.
Christian Gasser

Nine Antico: „Autel California. Face A: Treat Me Nice“.
L‘Association, 192 S., EUR 19

Eleanor Davis: How to Be Happy

Was ist Glück?

Der angesehene alternative Comic-Verlag Fantagraphics setzte letztes Jahr auf Eleanor Davis und publizierte ihre Geschichtensammlung How to Be Happy; vierfarbig, Hardcover, auf luxuriösem Papier gedruckt – das Album wirkt eher wie die Retrospektive eines altgedienten Comic-Meisters als wie der erste Sammelband einer Zeichnerin (sowie Illustratorin und Kinderbuchautorin), die noch nicht viel mehr publiziert hat, als darin enthalten ist.
Im Titel steckt Ironie, gibt das Album doch keinerlei Ratschläge, wie Glück zu erlangen ist. Eigentlich müsste der Titel lauten: Ist es möglich, glücklich zu sein? Davis beschäftigt sich mit den Krisen, die im frühen Erwachsenenleben und im mittleren Alter auf uns lauern, wenn man sich die Sinnfrage stellt, nach Höherem strebt, Wünsche und Verantwortung gegeneinander abwägt, die Endlichkeit des Seins und die Grenzen des Körpers kontempliert. Oder wenn man gegen Gefühle der Leere und Vergeblichkeit kämpft, die uns alle hin und wieder überfallen. Comic-Zeichner früherer Generationen hätten das Thema vielleicht in eine Autobiografie verpackt, Davis aber verwendet Fabeln, Fantasien und Science-Fiction-Parabeln, bleibt immer nahe am Alltagsleben. In der Geschichte Our Eden versucht eine Gruppe Mittelalter-Yuppies ein vorsintflutliches Paradies zu schaffen, das infolge ihrer eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen zugrunde geht. In Nita Goes Home treffen sich zwei Schwestern, deren Lebensläufe sich in einer post-apokalyptischen Welt grundverschieden entwickelten, um ihren sterbenden Vater zu verabschieden. Und auch die eher nichtfiktionalen, autobiografischen Geschichten bestechen mit ihrem zersplitterten, an Träume gemahnenden Stil. Davis’ Stories sind wunderschön anzuschauen, aber nicht immer einfach zu lesen, da sie einem eher literarischen als traditionellen Comic-Erzählstil folgen. Sie enden oft sehr abrupt oder unerwartet, was dem Leser eigene Rückschlüsse abverlangt. Ob Davis das bewusst als Strategie einsetzt, oder ob sie noch auf der Suche nach der passenden Erzählform ist, weiss ich nicht – einfacher wird die Lektüre dadurch jedenfalls nicht. Die Geschichten verlangen nach wiederholter Lektüre, sie wollen – wie Gedichte – allmählich entschlüsselt werden.
Davon abgesehen, ist Davis eine atemberaubende Künstlerin, die eine Vielzahl von Stilen beherrscht. Für jede ihrer Geschichten findet sie die passende Form. Sie besitzt ein intuitives Verständnis für die Grammatik des Comics und dafür, wie man den Leser fesselt. Von klassischen Kinderbüchern über Untergrund-Comics bis zur bildenden Kunst sind verschiedene Einflüsse sichtbar – hier etwas Jules Feiffer oder Arthur Rackham, da ein bisschen Max oder Anna Sommer, dann auch japanische Holzschnitte oder Henri Matisse. Manchmal erinnern ihre Werke an Lorenzo Mattotti, der ebenso meisterlich warme expressionistische Farben und lebhafte energetische Striche verwendet. Aber sie kopiert niemals, stets bleibt sie sich selbst treu.
Davis’ zeichnerisches Talent hat ihr bereits eine erfolgreiche Illustratorinnen-Karriere beschert, sicher wird sie auch bald Titelseiten des New Yorker gestalten. Aber – zum Glück für uns – scheint sie auch Comics zu lieben, das wird bei der Lektüre von How to Be Happy klar. Das Album ist durchdrungen von einer sehr persönlichen Sprache und einer grossen Leidenschaft für Erzählungen. Ich glaube und hoffe, dass sie bei diesem Medium bleiben wird. So deute ich jedenfalls den wunderschönen Einstiegscomic in ihrem Buch, der so beginnt: “Write a story. A story about yourself. A story about your life. Now, believe it. … Just keep writing. You have plenty of time.”
Mark David Nevins

Eleanor Davis: „How to Be Happy“.
Fantagraphics Books, 145 S., Hardcover,
s/w und farbig, $ 24.99

Ulf K.: Der Anfang nach dem Ende

Alles hat ein Ende, nur…

Rund 14 Jahre lang veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Comic-Serien von deutschen Zeichnern und lieferte damit einen wichtigen Beitrag für die dortige Comic-Kultur. Einer der allerersten Comics, die in der Reihe erschienen sind, war Ulf K.s Der Exlibris. Ein erzählerisch und zeichnerisch anspruchsvoller Comic, den man zunächst nicht als Zeitungscomic erwartet hätte, der aber stilbildend für die FAZ-Comics werden sollte. Auch Keyenburgs Comic-Strip Der Anfang nach dem Ende ist zunächst in der FAZ erschienen, bevor er nun überarbeitet und als Buch gebunden vorliegt.
Der wortlose Comic mit dem Tod als Prota-gonisten wurde bereits 2009 veröffentlicht und hat damals für grosse Aufmerksamkeit gesorgt. Einerseits aufgrund der Handlung ­– mit einem sympathischen Herrn Tod, der sich mitunter wegen Schneefalls krank meldet oder Kinder am Leben lässt, weil sie ihm sympathisch sind; andererseits aufgrund der zeichnerischen und narrativen Virtuosität des Comic-Künstlers Keyenberg. Es gibt meines Erachtens keinen anderen deutschen Comic-Zeichner, der sich derart von der Ligne claire inspirieren lässt und dennoch seinen ganz eigenen Stil entwickelt. Ich kenne auch keinen, der so ergreifend Geschichten ohne Worte erzählen kann. Ulf K.s minimalistische Zeichnungen sind poetische Meisterwerke. Liebevoll inszeniert Ulf K. seine Protagonisten in dieser Welt und stilisiert sie wie den Herrn Tod als kleine Helden, die mit den Tücken des Alltags kämpfen und sich ihnen, wo immer möglich, widersetzen.
Auch Ulf K.s Comic-Strip Der Anfang nach dem Ende ist geprägt von einem melancholischen Schluss, der dennoch Hoffnung aufkeimen lässt. Schön wäre es, wenn man dies auch bezüglich der FAZ-Strips sagen könnte, doch dieses Kapitel ist wohl abgeschlossen, und Comic-Meisterwerke – wie jene von Ulf K. – werden leider in naher Zukunft keine entsprechende Unterstützung mehr finden. Aber die Hoffnung stirbt ja zuletzt.
Matthias Schneider

Ulf K.: „Der Anfang nach dem Ende“.
Edition 52, 112 S., Hardcover, 2-farbig,
Siebdruck, EUR 22

Scott McCloud: Der Bildhauer

Erzählerischer Meister

Scott McCloud – weltbekannt für seine in Comic-Form verfassten Theoriebände Comics richtig lesen (1993) und Comics neu erfinden (2000), seinen Praxisband Comics machen (2006) sowie für die Erfindung des 24-Stunden-Comics im Jahr 1990 ­– ist bislang weniger mit längeren erzählenden Werken in Erscheinung getreten. Umso erstaunlicher, dass er nun seine erste Graphic Novel mit gleich 500 Seiten vorlegt. Der Bildhauer ist ein Zwitter aus Fantasy und realistischer Erzähltechnik: David Smith ist einer von vielen; einer von vielen David Smiths und einer von vielen jungen Künstlern. Der Bildhauer hatte bereits seine „five minutes of fame“, dann ging es wieder steil bergab. Ein falsches Wort im Kunstbetrieb, und David wurde abgekanzelt. Seitdem – das ist nun fünf Jahre her – läuft so gut wie nichts mehr. Als er sich eines Abends zwischen Selbstmitleid und Resignation besäuft, trifft er zufällig Onkel Harry. Die Überraschung ist gross, unversehens plaudern sie über alte Zeiten, die Familie und schliesslich auch über Davids Probleme. Harry fragt, was er für den Erfolg geben würde. „Mein Leben!“, platzt es aus David heraus, nicht wissend, dass er gerade einen Deal mit dem Tod abschliesst. Denn sein Onkel – das fällt dem Betrunkenen erst jetzt auf – ist ja schon lange tot. Der Deal: David kann fortan alles mit seinen blossen Händen formen, der Preis ist sein Leben. 200 Tage hat er von nun an noch, und die nutzt er für neue Arbeiten, damit nach seinem Tod mehr von ihm übrig bleibt als von den vielen anderen David Smiths im Telefonbuch. Dann trifft er eine Frau und verliebt sich …
McCloud – das muss man nach der Lektüre von Der Bildhauer in aller Deutlichkeit sagen – ist ein begnadeter Erzähler. Wie der Autor Spannung aufbaut, von actionreichen zu ruhigen, emotionalen Szenen wechselt, mit der Erzählgeschwindigkeit spielt und zwischen Fantasy-Elementen und genau beobachtetem Realismus hin und her wechselt, ist nicht nur souverän, sondern auch immer im Sinn der Geschichte eingesetzt. Und die ist aufgrund der Reichhaltigkeit an Themen und dank einer klugen Ausformulierung äusserst gelungen: Nicht nur der existentialistische Kern der Handlung, der über das Leben – auch das gemeinschaftliche – und die Liebe philosophiert, sondern auch der Rahmen, der sich auf die Kunst und den Kunstbetrieb bezieht, ist wohl durchdacht und beflügelt die Fantasie. Was den Bereich Fantasy betrifft: Die fantastischen Elemente sind mitunter ebenso kitschig geraten wie die Werke von David Smith, die der Leser zu Gesicht bekommt. Aber das sollte bei McCloud, der nicht nur gerne Superhelden-Themen bearbeitet, sondern auch in digitaler Ästhetik gestaltet, nicht allzu sehr verwundern. Sein etwas sperriger Zeichenstil mag zuweilen umstritten sein, da er die Empathie des Lesers für die Figuren hemmt. Allerdings sind die Figuren in Der Bildhauer wesentlich lebendiger gestaltet als die schematischen Figuren in seinen Theoriewerken. Und dank der Kraft der erzählerischen Umsetzung kämpft man am Ende tatsächlich mit den Tränen.
Christian Meyer

Scott McCloud: „Der Bildhauer“.
Carlsen, 496 S., Hardcover, zweifarbig,
EUR 36 / CHF 48.90

Marc-Antoine Mathieu: Richtung und SENS

Ein Wegweiser durch die Welt der reinen Formen

Wieder einmal entführt uns Marc-Antoine Mathieu in eine Welt, die uns nur leise an die tägliche Lebenswelt erinnert. Die Formen und Landschaften, durch die wir uns in seinem jüngsten Werk bewegen, sind vertraut und doch fremd. Vertraut; weil sie jenen Extremlandschaften gleichen, die der Mensch noch nicht vollends nach seinem Willen gestalten kann: Wüsten, Gebirge, Meer und Eis. Fremd; weil wir, Mathieu folgend, in eine Welt eintauchen, die von nahezu reinen und regelmässigen Formen geprägt ist, und in der sich eine fast schon mathematisch anmutende Ordnung ausbreitet. Nur welcher Logik diese Welt wirklich folgt, das wissen wir nicht.
Staunend sehen wir zu, wie sich ein Mann, seiner Kleidung nach ein Handelsreisender, einsam und wortlos durch diese Welt müht, ohne dass wir wüssten, wohin er geht. Einzig ein Pfeil-Symbol, das in vielen Variationen wiederkehrt, gibt dem Mann eine Richtung vor und lotst auch uns. Doch so wie der Pfeil zu Beginn leuchtend weiss aus einem schwarzen Nichts auftaucht, so verschwinden Mann und Pfeil zuletzt in einer weissen Leere. Anzeichen, dass es so kommen wird, gibt es schon vorher: Dutzende kleine Pfeile verdichten sich einmal zu einem Möbiusband, das – wie die Geschichte insgesamt – keinen Anfang und kein Ende hat.
Man könnte Marc-Antoine Mathieu den Mathematiker unter den Comic-Autoren nennen, so spielend kann er die Grenzen des
Mediums erfassen und darstellen. Seinen Charme aber zieht er daraus, dass er sein Auge für reine Formen weniger zur Analyse nutzt, als vielmehr für grafisch und narrativ elegante Geschichten, die immer wieder unterhalten und verblüffen.
Eine Herausforderung bei Mathieus jüng-stem Werk war die Übersetzung: Es kommt nämlich ganz ohne Worte und ohne Buchstaben aus. Selbst für die Titel, «sens» im Französischen und «Richtung» im Deutschen, muss man im Katalog nachsehen! Abgesehen davon, dass im französischen Original die Namen des Autors und des Verlags eingraviert und in der deutschen Ausgabe aufgedruckt sind, gibt es eine weitere feine Anpassung, die für die Klasse der deutschen Verleger spricht: An einer Stelle gruppieren sich die Pfeile so, dass sie das Logo des Verlags nachbilden: Im Französischen ein Dreieck, im Deutschen ein Rechteck mit einer weissen und einer schwarzen Hälfte. So ganz nebenbei schaffen die beiden Verlage damit ein Beispiel, wie man Comics grafisch übersetzen kann, nicht nur sprachlich.
Florian Meyer

Marc-Antoine Mathieu: „Richtung“.
Reprodukt, 256 S., Hardcover, s/w,
EUR 29 / CHF 42.90

Marc-Antoine Mathieu: „SENS“.
Éditions Delcourt, 256 S., Hardcover, s/w,
EUR 25,50

Joël Kotek & Didier Pasamonik: Mickey à Gurs. Les carnets de dessins de Horst Rosenthal

Micky maus im KZ

Horst Rosenthal sucht 1933 auf der Flucht vor den Nazis in Frankreich Asyl. Nach der militärischen Niederlage gegen das Deutsche Reich schickt ihn das Vichy-Regime 1940 – zusammen mit vielen anderen nicht-französischen Juden und Andersdenkenden – in das Internierungslager von Gurs. 1942 kommt er in Auschwitz in der Gaskammer ums Leben. Man weiss nur wenig über den jüdischen Grafiker, und er wäre in Vergessenheit geraten, hätte er während seiner Gefangenschaft nicht einen kleinen handgemachten Comic mit dem Titel Mickey au Camp de Gurs gezeichnet.
Der Politologe und Shoah-Historiker Joël Kotek und der Journalist Didier Pasamonik haben in einer kritischen Ausgabe die Faksimiles der drei Comics, welche Rosenthal in Gefangenschaft gezeichnet hat, abgedruckt und kommentiert. In der titelgebenden Geschichte wird Walt Disneys – damals schon international bekannte – Trickfilm- und Comic-Figur von einem Gendarmen des Vichy-Regimes angehalten und nach seinen Papieren gefragt. Micky Maus, der sich als Weltbürger versteht und keinen Ausweis besitzt, wird verdächtigt, Jude zu sein, und nach einem kafkaesk-bürokratischen Spiessrutenlauf ins Internierungslager von Gurs geschickt. Auf den folgenden Seiten macht Micky einen Rundgang durchs Lager und kommentiert den schlechten Zustand der Wohnbaracken und die miese Qualität des Essens sowie des Lagerlebens allgemein. Am Ende hat die Maus die Nase voll von den unmenschlichen Strapazen und macht sich – da sie ja nur eine imaginäre Figur ist – aus dem Staub, indem sie sich selber ausradiert.
Mickey au Camp de Gurs ist ein gebundenes Büchlein im A5-Format und zählt 15 Seiten. Auf jeder Seite befindet sich jeweils ein mit Tinte und Aquarell gezeichnetes Bild mit Begleittext (keine Sprechblasen). Der Buchdeckel ist mit der Jahresangabe 1942 versehen und trägt den ironischen Vermerk „Ohne die Genehmigung von Walt Disney veröffentlicht“, ein Hinweis auf die damals bereits pedantische Kontrolle des Urheberrechts seitens der Firma Disney. Micky ist in seiner ursprünglichen Form gezeichnet, also mit roter Hose und Handschuhen bekleidet, ganz im Stil des Zeichners Floyd Gott-fredson. Laut Kotek und Pasamonik war die Funktion dieses Comics zweispurig: auf der einen Seite sollte er eine Ablenkung für die kleinsten Lagerinsassen sein (die vom Personal des Schweizerischen Roten Kreuzes auch „Mickeys“ genannt wurden), auf der anderen Seite die Leser über das Leben im Internierungslager informieren. Es ist erstaunlich, dass der Comic – der bestimmt in unzählige Hände genommen worden ist – die Jahrzehnte überlebt hat, nicht zuletzt dank des Einsatzes zweier Schwestern des Roten Kreuzes (eines der drei Bändchen befindet sich heute in der grafischen Sammlung der ETH Zürich).
Das Bemerkenswerte am Comic ist nicht nur der Umstand, in dem er gezeichnet worden ist oder der krasse Gegensatz zwischen der fiktiven Trickfilmfigur und dem sehr realen und grauenvollen Ort, sondern die Wahl der Hauptfigur: Weshalb wählte Rosenthal Micky Maus als Protagonist für seine autobiografische Erzählung und als Symbol für die Gefangenen des Lagers?
Natürlich spielt die Gleichsetzung der Juden mit Ratten in der nationalsozialistischen Propaganda eine Rolle. Pointierter und ironischer kann der Gegenschlag nicht sein, wenn Rosenthal als Antwort darauf eine lustige Trickfilmmaus einsetzt. Micky Maus im Internierungslager spazieren zu lassen, ist vielleicht sogar ein stärkeres Statement als Art Spiegelmans Mäuse in Maus, dem weit bekannteren Holocaust-Comic, an den man unweigerlich denken muss, wenn man Rosenthals Geschichte liest. (Spiegelman erfuhr erst nach Veröffentlichung von Maus von Rosenthals Comic.) Doch gegensätzlicher könnten die Mäuse in den beiden Comics nicht sein, wie Kotek und Pasamonik erklären: Micky Maus ist ein Weltbürger aus der freien Welt (dem Gendarmen sagt er: „Ich keine Papiere! Ich international!“) und äussert somit seine Kritik an der Unterjochung der freien Welt und am freien Gedankengut. Ebenso weist die Figur auf die Staatenlosigkeit der jüdischen Bevölkerung hin. Spiegelmans Mäuse hingegen wollen an den unmenschlichen Vergleich der nationalsozialistischen Propaganda erinnern und diese anprangern. Rosenthal wählt mit Micky Maus einen erstaunlich zärtlichen und ironischen Weg, um die von ihm und seinem Volk erlebten Gräueltaten zu verarbeiten.
Giovanni Peduto

Joël Kotek & Didier Pasamonik: „Mickey à Gurs. Les carnets de dessins de Horst Rosenthal“.
Calmann-Lévy, Faksimiles und gesammelte Aufsätze,
185 S., Softcover, EUR 22,90

Shigeru Mizuki: Vie de Mizuki

Der einarmige Geisterflüsterer

Auch in Deutschland ist der Griff ins Manga-Regal nicht mehr gleichbedeutend mit einem Griff in Teenager-Schrott: Mit etwas Glück greift man einen Autor oder eine Autorin von hoher Qualität heraus, vielleicht sogar einen altgedienten Klassiker wie Tezuka, Taniguchi oder Tatsumi. Deshalb ist nicht länger nachvollziehbar, warum die deutschen Verlage bis heute einen Bogen um das grossartige Werk des heute 93-jährigen Shigeru Mizuki machen.
Mizuki begann seine Laufbahn als Gekiga-Zeichner in den Leihbibliotheken der Nachkriegszeit, zeichnete dann jahrelang für die legendäre alternative Zeitschrift Garo und schaffte parallel dazu den Schritt in den Manga-Mainstream. In seiner dreibändigen Autobiographie Vie de Mizuki erzählt er mit Charme, Schalk, Selbstironie sowie Understatement seine Jugend und seine Anfänge und erweist sich hierbei als begnadeter Fabulierer, von dem man am liebsten Tausende von Seiten lesen möchte. Mehr noch: Während Tatsumis autobiografisches Gegen den Strom an einer allzu pingeligen Aufarbeitung uninteressanter Details krankte, schafft es Mizuki locker und entspannt, ein aufschlussreiches Bild Japans zwischen 1930 und 1950 zu skizzieren, zwischen autoritärem Kaiserreich, Kriegsirrsinn, Niederlage und langsamem Aufbruch.
Damals beobachtete Mizuki, wie das verbissen in die Moderne strebende Japan seine alten Geschichten verdrängte, und das missfiel ihm. Diesem Kulturverlust setzte er Mangas entgegen, die ihm heute eine Bedeutung weit über die Manga-Kultur hinaus verleihen: Mit seinen populären Comics holte er die verdrängten Geister, Dämonen, Kobolde und andere Fabelwesen in den japanischen Alltag zurück. Am berühmtesten ist sein Kitaro, ein kleiner Geist, der – wie in Mizukis fantastischem Kosmos üblich – eher gut gelaunt und freundlich als Schrecken verbreitend ist.
Anderswo blieb Mizuki aber hart an der Wirklichkeit: In Opération Mort, einem der eindringlichsten Comics über den Krieg überhaupt, verarbeitete er seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg: Er schilderte, wie inkompetent, grausam und zynisch die japanischen Offiziere ihre Soldaten in den sicheren Tod schickten. Mizuki überlebte mit viel Glück – allerdings mit einem Arm weniger, was ihm beim Zeichnen nicht gerade behilflich war. Diese Kriegserlebnisse tauchen ­– in einer autobiographischeren Fassung – auch in Vie de Mizuki auf, das ich allen ans Herz legen möchte. Müssen nun aber alle Japanisch oder Französisch lernen, um Mizuki zu lesen – oder besteht doch die Chance einer Übersetzung seiner wichtigsten Werke ins Deutsche?
Christian Gasser

Shigeru Mizuki: „Vie de Mizuki“.
Cornélius, drei Bände, je ca. 500 S.,
Hardcover, s/w, EUR 33,50 CHF 50.40

Satoshi Kon: Opus

Being Manga

Die Werke des japanischen Manga-Zeichners und Animationsfilmkünstlers Satoshi Kon werden postum in seinem Heimatland wieder entdeckt, während sie in Europa überhaupt erst eine Ehrung erfahren. 2010 ist der Drehbuchautor, der bis zuletzt an einem neuen Animationsfilm gearbeitet hat, mit 46 Jahren verstorben. Satoshi Kon hat seine ersten Erfahrungen im Anime bei Katsuhiro Otomo gesammelt und später Animationsklassiker wie Perfect Blue, Tokyo Godfathers und Paprika realisiert. Letzterer feierte 2006 anlässlich der Filmfestspiele in Venedig seine Premiere. Besondere Erwähnung verdient sein Manga Opus aus dem Jahre 1996, der 2013 in Frankreich mit dem „Prix Asie de la Critique ACBD“ geehrt und 2014 in die Comic-Shortlist-Empfehlung des Comic-Festi-vals Angoulême aufgenommen wurde.
In Opus spielt Satoshi Kon kongenial mit Realität und Fiktionalität, mit der realen Welt des Manga-Zeichners und dessen fantastischer Manga-Welt, und behandelt nebenbei ethische und philosophische Fragen, eingebettet in eine spannende Handlung. In Opus steht der Manga-Zeichner Chikara Nagai kurz vor der Vollendung seines futuristischen Actioncomics „Resonance“. Ein maskierter Sektenführer terrorisiert in einem zukünftigen Japan die Gesellschaft und macht sich sowohl die Politik als auch die Polizei untertan. Einzig ein paar junge Widerständler bieten ihm die Stirn; es sind jene, die sich dem ihnen auferlegten Tod durch den Autor Nagai widersetzen und die entsprechende Zeichnung aus der „Realität“ entwenden. Nagai taucht daraufhin in die Manga-Welt ein, er wird zum Grenzgänger zwischen dem Manga und seiner Realität. Er findet sich plötzlich in der von ihm geschaffenen fantastischen Welt wieder und versucht, seinen jungen Protagonisten zu helfen. Dabei wird ihm seine moralische Verantwortung, die er gegenüber seinen Figuren hat, erstmals so richtig bewusst. Figuren, deren Leben er für eine actiongeladene Handlung opfert. Nagai ist ein gottähnlicher Schöpfer, der vor sich selbst und seiner Fantasie Angst bekommt. Die zweiteilige Miniserie Opus ist ein vielschichtiger Science-Fiction-Manga, der auf der Meta-Ebene sehr geschickt und hintersinnig das Thema Kreativität behandelt, dem Leser äusserst anregende Fragen stellt. Ein aussergewöhnlicher Manga, der virtuos mit dem kreativen Potenzial des Comics spielt.
Matthias Schneider

Satoshi Kon: „Opus“, zwei Bände.
Carlsen, 192 bzw. 180 S., Softcover, s/w,
EUR 14,90 / CHF 21.90

Marcelino Truong: Ein schöner kleiner Krieg

Krieg durch Kinderaugen

Marcelino Truongs Vater ist Diplomat der Republik Vietnam in den USA. Doch 1961 wird er ins Heimatland zurückberufen, und mit ihm ziehen seine französische Frau und die drei Kinder nach Saigon, die Hauptstadt des seit 1955 unter Präsident Ngô Đình Diėm krisengeschüttelten südlichen Teils von Vietnam. Der kleine Marcelino, sein älterer Bruder und die grosse Schwester begegnen der verstärkten Militärpräsenz und den häufigen Zwischenfällen in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Land mit Neugierde, Staunen und Abenteuerlust. Die Mutter hingegen versetzen die immer näher an Saigon herangetragenen Kriegsereignisse zunehmend in Besorgnis, die sich schon bald in einer bipolaren Störung äussert. Ein Umstand, welcher allmählich die ganze Familie zusätzlich in Mitleidenschaft zieht. Kurz danach wird Präsident Ngô Đình Diėm geputscht, Kennedy erschossen und die USA intensivieren ihr Engagement im Vietnamkrieg. Die Eskalation des Konflikts, der sich insgesamt über 20 Jahre – bis ins Jahr 1975 – hinziehen sollte, ist Geschichte.
So nah dran ist man selten: Truong, der in Frankreich unter anderem politische Wissenschaften studierte, hatte für seine Geschichte nicht nur die üblichen Recherchemittel zur Hand. Er konnte ausserdem seine Familie nach den historischen Ereignissen befragen, vor allem seine Mutter und natürlich seinen kurz vor Veröffentlichung der Originalausgabe von Ein schöner kleiner Krieg im Jahr 2012 verstorbenen Vater. Denn jener ging Anfang der 1960er-Jahre im Präsidentenpalast ein und aus und war der persönliche Dolmetscher für den autoritär und brutal regierenden Diėm.
Truong wechselt in seiner mit kantigem Strich und dem Flair der 1960er-Jahre gezeichneten autobiografischen Geschichte immer wieder die Erzählperspektive: Mal ist er mitten im familiären Leben der Truongs und sieht den Konflikt durch die Kinderaugen, dann erklärt er die Hintergründe oder korrigiert die Perspektive der Kinder. Und er kann heute – mit dem zeitlichen Abstand – natürlich auch eine andere Position einnehmen als seine Eltern, die damals zwar mehr verstanden als ihre Kinder, den Konflikt aber sicherlich selber nie ganz überblicken konnten. Truongs Fazit heute: Die Auflehnung gegen den Kommunismus war berechtigt, aber man hätte es ohne amerikanische Truppen versuchen müssen, erst die US-Militärpräsenz habe den Konflikt derart eskalieren lassen. Heute hingegen frage man sich, wofür das alles, denn in Vietnam regierten seither „rote Kapitalisten“.
Christian Meyer

Marcelino Truong: „Ein schöner kleiner Krieg“.
Egmont Comic Collection, 272 S., Hardcover, farbig,
EUR 24,99 / CHF 35.90

Nina Bunjevac: Vaterland

Augenzeugin

„In der Traumdeutung, wie sie auf dem Balkan Tradition ist, bedeutet, von Vögeln zu träumen, dass der Träumende Nachrichten erhalten wird“, erklärt Nina Bunjevac ein Leitmotiv ihrer autobiografischen Graphic Novel Vaterland. Meist überbringen die Vögel schlechte Neuigkeiten, Nachrichten von Tod und Verrat, Krieg und Terror. Auch in Nina Bunjevacs Werk folgen die Dramen in der Familiengeschichte dieser Logik.
Die Familie Bunjevac führt ein Leben zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und Kanada. Nina wurde 1973 in Quebec geboren, wie auch ihre beiden älteren Geschwister, hat aber den Grossteil ihrer Kindheit und Jugend im heutigen Serbien nahe Belgrad verbracht. Seit 1990 lebt sie als Comic-Zeichnerin wieder in Kanada, von wo aus sie zeichnend versucht, sich den Abgründen der eigenen Familie wie auch ihres europäischen Herkunftslandes anzunähern. Diese familiären Abgründe sind unüberschaubar und unergründlich: Ihr Vater Peter ist 1976 beim Bau einer Bombe ums Leben gekommen, die gegen jugoslawische Einrichtungen in Nordamerika zum tödlichen Einsatz kommen sollte, ihre Mutter Sally ist seitdem vor allem mit Verdrängungsprozessen beschäftigt. „Für sie war die Entscheidung, dieses kleine Haus zu vergessen, ein verzweifelter Versuch, alle Erinnerungen, die damit einhergingen, die guten wie die schlechten, zu verdrängen“, resümiert Nina nach einem Besuch ihrer Mutter. Gegen dieses selektive Gedächtnis schreibt und zeichnet sie an.
Das Ergebnis ist ein „Augenzeugen-Comic“, der gleichzeitig diesen Anspruch zurückweist, ein schwarzweisses Kunstwerk, das versucht, dem Schwarzweiss-Denken zu entkommen und die Grau- und Zwischentöne, die Ambivalenzen zu betonen. So wird das doppelte Scheitern Nina Bunjevacs an der Geschichte – den Terrorakten ihres Vaters kann sie ebenso wenig einen Sinn entlocken wie den ethnischen Konflikten ihrer europäischen Heimat – zu einem Glücksfall für die Comic-Geschichte. Ihre Suche führt den Lesern die Schwierigkeit vor Augen, den subjektiv geprägten Blick auf die Geschichte – die Weltgeschichte wie auch die persönliche – zu verlassen und neue Wege und Sichtweisen jenseits der Geschichte der Sieger zu finden. So changiert der Comic ästhetisch zwischen „objektiven“ Bildern, die einem Geschichtsbuch entstammen könnten und den subjektiven Bildern aus der Erinnerung der Künstlerin.
„Ich habe ausführlich die Geschichte dieser Region erforscht und versucht, den Grund des Konflikts zwischen Serben und Kroaten zu begreifen, aber je tiefer ich komme, desto geringer scheint die Zahl der belegten Konflikte zwischen den beiden fast identischen Gruppen zu sein“, schreibt Nina Bunjevac über ihre Spurensuche. Eine Antwort auf ihre Fragen ist der Comic nicht in der Lage zu bieten. Doch er kann helfen, sich den grossen Fragen der Geschichte anzunähern, die Konfliktlinien nachzuzeichnen und auf verdrängte Aspekte der verworrenen und tragischen Geschichte des Balkans hinzuweisen.
Jonas Engelmann

Nina Bunjevac: „Vaterland“.
avant-verlag, 156 S., Hardcover, s/w,
EUR 24,95 / CHF 35.90

David Schraven / Jan Feindt: Weisse Wölfe – eine grafische Reportage über rechten Terror

Rechter Terror

„Ich und meine Kumpel beschlossen, unsere eigene Gruppe aufzubauen. Taten statt Worte. Anschläge und Terror. Eine echte Aufgabe, die uns ein Ziel gab. Ein Kampf bis zum Ende. Sieg oder Tod.“ Martialische Zitate wie dieses finden sich viele in der grafischen Reportage Weisse Wölfe des Journalisten David Schraven, der sich auf die Suche nach Strukturen des rechten Terrors gemacht hat, nach Antworten auf den Hass und die ungezählten Toten, die Nazis in den vergangenen Jahren zum Opfer gefallen sind. Sein geografischer Ausgangspunkt ist Dortmund, die dortige umtriebige Nazi-Szene und deren Verbindung zum „Thüringer Heimatschutz“ und dem NSU. Er lässt ehemalige und aktive Nazis ihre Biografien erzählen, die von Zeichner Jan Feindt in Bilder umgesetzt werden. Dessen klare schwarzweisse Linien bewirken einer-seits, den Realismus einer Fotoreportage zu imitieren und das Experiment einer in-vestigativen Comic-Reportage im Nazi-Untergrund auf diese Weise in der echten Welt zu verorten. Andererseits gelingt es Feindt dadurch immer wieder, ästhetisch von diesem Realismus wegzudriften und in Abschweifungen sowie Überblendungen Raum zum Durchatmen zu schaffen, den der Leser angesichts des menschenverachtenden Hasses, der ihm beim Lesen entgegenschlägt, dringend benötigt. „Der politische Soldat: Die Zellen dürfen nicht aus mehr als vier Freiwilligen bestehen. Jede Zelle soll eigene Geld- und Waffenquellen haben.“ Solche Instruktionen sind zu lesen im fiktiven Tagebuch des Earl Turner, in den Siebzigern verfasst von William L. Pierce, Gründer der rechtextremen Organisation National Alliance und Ideengeber u.a. für die Oklahoma-City-Attentäter, Anders Breivik oder den NSU. David Schraven interessiert sich besonders für solche Zusammenhänge, für Gemeinsamkeiten im Denken und Handeln der rechten Terroristen, für Strukturen und Muster, die belegen, dass die Morde mehr sind als das Werk von Einzeltätern. Im Gegensatz zu den auskunftsfreudigen Nazis schweigen die deutschen Behörden, denen Schraven journalistische Anfragen sendet; so bleiben viele Fragen unbeantwortet. Aus dem ihm vorliegenden Material entwickelt Schraven die These, dass die Morde des NSU in ganz Deutschland zwischen 2000 und 2006 als Aufforderungen zu verstehen sind, als Botschaften an Nazi-Zellen an den jeweiligen Orten, ebenfalls zu den Waffen zu greifen; eine Strategie, die in Earl Turners Tagebuch beschrieben wird. „Überall flackern die Brände auf. In ganz Europa. Roma werden angegriffen, Flüchtlinge erschlagen. Friedhöfe geschändet. Ein Nazi sagte mir, seine Gruppe habe Waffen gehortet. Wenn die Anschläge zum Flächenbrand werden, werden die Waffen herausgeholt und das Mordbrennen beginnt.“ Ein wichtiger Bei-trag zum grafischen Journalismus und eine gute Ergänzung zum derzeit laufenden Münchner NSU-Prozess.
Jonas Engelmann

David Schraven / Jan Feindt: „Weisse Wölfe – eine grafische Reportage über rechten Terror“.
PULS Recherchen, 225 S., Hardcover, s/w,
EUR 15 / CHF 20.40

 

Kurz und Gut

VON CHRISTIAN MEYER

Mit dem Handbuch der Hoffnung eröffnet der Finne Tommi Musturi ein weites Feld: Der Protagonist ist ein älterer, dickleibiger Mann, der mit seiner nur selten im Bild erscheinenden Frau in einem einsamen Holzhaus wohnt. Er lässt sich mit Nichtstun oder kleineren, spielerischen Tätigkeiten von Tag zu Tag treiben. Dabei gibt sich der Tagträumer mitunter infantilem Humor hin, erträumt sich als Abenteurer, Western- oder Superheld, ist zärtlich und brutal, verliert sich aber auch im existenziellen Philosophieren. Ebenso zoomt die Bildebene von der Ameise bis zum kosmischen Ganzen. Farbenprächtig sind die stilisierten Bilder, ansonsten nähert sich der lakonische Grundton an das, was man sich unter finnischer Weltsicht vorstellt.
Tommi Musturi: „Das Handbuch der Hoffnung“. avant-verlag,
224 S., Hardcover, farbig, EUR 29,99 / CHF 42.90

Das Nest von Jean-Louis Tripp und Régis Loisel findet – einige Bände und Jahre später als geplant – mit Notre Dame seinen Abschluss. In neun Bänden haben die beiden Autoren von den langsamen Umwälzungen in einem kleinen kanadischen Dorf in den 1920er-Jahren erzählt. Nachdem der Krämer plötzlich verstorben ist, und seine Witwe Marie den Laden übernehmen muss, kommt es in dem kleinen Dorf zu immer neuen Umwälzungen, die nicht zuletzt dem dort gestrandeten schwulen Städter Serge zuzuschreiben sind. Eine liebevoll und in aller Breite erzählte Geschichte einer Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und ausserdem ein hochaktuelles Ideal eines regionalen Zusammenlebens, das zum Finale beinahe Action-Charakter zeigt.


Jean-Louis Tripp & Régis Loisel: „Das Nest 9 – Notre Dame“.
Carlsen, 128 S., Hardcover, farbig, EUR 26,99 / CHF 36.90

Andreas Martens veröffentlicht seit 1978 Comics und ist seitdem als Andreas vor allem im franco-belgischen Raum sehr erfolgreich. Seine achtbändige Serie Rork ist Fantasy im Sinne von Lovecraft, seine feinen Zeichnungen erinnern an alte Stiche, der Seitenaufbau ist hingegen sehr flexibel und bewegt. Vor allem die Pointen der Kurzgeschichten um Rork sind von Humor geprägt, wodurch sich Andreas von anderen Lovecraft-Jüngern deutlich abhebt. Nun ist der erste von zwei Bänden der Gesamtausgabe um die haarsträubenden Abenteuer des weisshaarigen Mysterienerkunders erschie-nen.

Andreas: „Rork“, Gesamtausgabe Bd. 1.
Schreiber & Leser, 256 S., Hardcover, farbig u. s/w, EUR 39,80 / CHF 54.-

Nicht minder fantastisch sind die Welten, in die Winsor McCay den kleinen Jungen Nemo vor über hundert Jahren schickte. Der Zeitungscomic Little Nemo in Slumberland erschien von 1905 bis 1913 regelmässig und wurde in den 1920er-Jahren noch einmal reaktiviert. Ästhetisch vom Jugendstil beein-flusst, Freudsche Traumdeutung erahnend und dem Surrealismus vorgreifend, erzählt McCay in einer fortlaufenden Geschichte von den Träumen eines kleinen Jungen. Die bahnbrechende Serie des Comic-Neulings, der kurz darauf auch noch den jungen Animationsfilm revolutionierte, er-scheint in einer Luxusausgabe in Original-Zeitungsgrösse zusammen mit einem 150-seitigen Text von Herausgeber Alexander Braun, der Little Nemo und Win-sor McCays weitere Werke in einen historischen Kontext stellt und dabei die Rezeptionsgeschichte berücksichtigt.

Alexander Braun (Hg.): „Winsor McCays Little Nemo – Gesamtausgabe“.
Taschen, 708 S., Hardcover plus Beiheft im Schuber, farbig, EUR 150 / CHF 202.40

Riad Sattouf arbeitete zehn Jahre lang für Charlie Hebdo, sein zweiter Spielfilm Jacky im Reich der Frauen mit Charlotte Gainsbourgh lief gerade in den Kinos. Als Kind lebte der Sohn einer Bretonin und eines Syrers viele Jahre in arabischen Ländern. Über die teils verstörenden Alltagserlebnisse berichtet er in Der Araber der Zukunft mit dem naiven Blick eines Kindes und lässt damit die Ereignisse umso fragwürdiger erscheinen, ohne westlich-rationalistische Kritik auffahren zu müssen.

Riad Sattouf: „Der Araber der Zukunft“ .
Knaus, 160 S., Softcover, farbig, EUR 19,99 / CHF 28.50

Mit einer Autobiografie hat Étienne Davodeaus Der schielende Hund nichts zu tun. Davodeau fantasiert über die Regeln der Kunstwelt. Der Museumswärter Fabien will der Familie seiner neuen Freundin einen Gefallen tun und versucht, ein Bild eines ihrer Ahnen im Louvre unterzubringen. Dabei gerät er an den merkwürdigen Geheimzirkel „Republik Louvre“. Dort ist man sehr an Fabiens Idee, eine Art umgekehrter Kunstraub, interessiert. Davodeau umspielt mit seiner leichten Geschichte die Frage „Was ist Kunst?“.
Étienne Davodeau: „Der schielende Hund“.
Egmont, 144 S., Hardcover, s/w, EUR 24,99 / CHF 36.90

Mit dem Leporello Ferien im Sumpf schliesst Marijpol an ihren Comic Eremit an und beobachtet ihre sonderbaren Protagonisten beim Chillen: Die Mutationen aus Eremit finden hier einen Alltag, der auf groteske, aber auch anrührende Art mit ihren körperlichen Deformationen kollidiert. Doch selbst die absonderlichsten Fantasiegestalten haben ein Recht auf Normalität.
Marijpol: „Ferien im Sumpf“.
avant-verlag, 24 S., Leporello, s/w, EUR 14,95 / CHF 24.90

 
 

Biografien

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Fanny Vaucher, *1980 in der Schweiz, studierte Literatur an der Universität Lausanne und Illustration/Comics an der Hochschule für Angewandte Künste in Genf. Derzeit lebt und arbeitet sie in Lausanne und Warschau. Neben ihrer Arbeit als Korrektorin und Illustratorin begann sie in Polen mit ihrem Blog Pilules Polonaises (Polnische Pillen), in dem sie Beobachtungen aus ihrem Leben als in Polen lebende Schweizerin festhält. Mit interessiertem und humorvollem Blick nähert sie sich in den bis heute erscheinenden kurzen Episoden typisch polnischen Alltäglichkeiten: die Sprache, wie man lebt, bekannte Personen, Zwischenmenschliches und natürlich das lokale Essen. Eine Auswahl dieser Kurz-Comics erschien 2013 in einer dreisprachigen Ausgabe (französisch, polnisch und englisch) beim Verlag Fondation Bec Zmiana. 2014 folgte die Veröffentlichung in der Schweiz bei Les Editions Noir sur Blanc. Inzwischen ist sie auch als Kinderbuchillustratorin tätig.
pilulespolonaises.blogspot.com
fixement.com

Maciej Sieńczyk, *1972, gehört zu den bekanntesten Illustratoren und Comic-Autoren Polens. Er studierte an der Kunsthochschule in Warschau und ist langjähriger Mitarbeiter des Literaturmagazins Lampa, für das er kurze Strips zeichnete. Bis heute erschienen drei Sammelbände, die auf diesen Kurz-Comics basieren. Seine erste Erzählung in Buchlänge Przygody na bezludnej wyspie (Abenteuer auf einer verlassenen Insel, bei Lampa i Iskra Boża) war 2013 der erste Comic, der für Polens wichtigste Literaturauszeichnung Nike nominiert und darüber hinaus in die Shortlist aufgenommen wurde. Sieńczyk bringt in seinen Geschichten Alltägliches und Entlegenes zusammen, seiner Fabulierkunst setzt er dabei den nüchternen Zeichnungsstil gegenüber, in dem er Elemente von gezeichneten Anleitungen, osteuropäischen Sachbüchern und Postern aufgreift. Für Suhrkamp illustrierte er den Sammelband Alphabet der polnischen Wunder – Ein Wörterbuch (Hg. Stefanie Peter) mit 130 Essays zu politischen, alltagsethnologischen und popkulturellen Besonderheiten Polens.

Marcin Podolec, *1991 in Jarosław. Seit dem Animationsstudium an der Filmhochschule in Łódź ist er als Illustrator, Animator und Comic-Künstler tätig. In Animationsfilmen wie Barry oder A Documentary Film widmet er sich bevorzugt dokumentarischen und biografischen Themen. In seinen Comics arbeitet er häufig mit Autorinnen und Autoren zusammen: So basierte sein Buchdebut Ser-ce (He-rz, bei Medycyna Praktyczna) auf einem Szenario von Ania Miśkiewicz. Für das 2011 erschienene Czasem (Manchmal, Szenario: Grzegorz Janusz, bei Kultura Gniewu) wurde er von der Polskie Stowarzyszenie Komiksowe (Polnische Comic-Gesellschaft) mit dem Preis für den besten Comic des Jahres ausgezeichnet. Zuletzt erschien das auf einem Skript des ebenfalls in dieser Ausgabe vertretenen Autoren Daniel Chmielewski basierende Podgląd (Vorschau, bei Kultura Gniewu). Als Autor und Zeichner in Personalunion trat er unter anderem beim Fugazi Music Club (bei Kultura Gniewu) auf, in dem er die Geschichte eines legendä-ren Musikclubs in Warschau nachzeichnete. Das Buch erschien inzwischen auch in Frankreich, eine deutsche Ausgabe ist bei Egmont Graphic Novel in Vorbereitung.
kolec.ownlog.com

Daniel Chmielewski, *1983 in Berlin, verbrachte seine Kindheit in Australien. Er ist Absolvent der Akademie der Schönen Künste in Warschau und arbeitet nun als Autor und Comic-Künstler. Comics erschienen unter anderem in den Anthologien ziniol, Biceps und Hurra. Für Marcin Podolec schrieb er das Skript zu Podgląd (Vorschau, bei Kultura Gniewu). Sein eigener Comic-Band Zapętlenie (Schleife), eine fragment-artige Sammlung von Erinnerungen bzw. Reflexionen, war Teil seines Universitätsabschlusses und erschien im letzten Jahr bei Timof & Wydawnictwo Komiksowe. Daniel Chmielewski lebt mit seiner Frau Olga Wróbel und der gemeinsamen Tochter Greta in Warschau.
pubpodpicadorem.blogspot.com

Olga Wróbel, *1982, arbeitet für verschiedene Magazine, unter anderem als Kommentatorin und Kritikerin mit besonderem Fokus auf Jugendliteratur für Mädchen. Comics erschienen mitunter in Anthologien wie Polish female comics – Double portrait. Das Buchdebüt Ciemna strona księżyca (Die dunkle Seite des Monds, bei Centrala) ist Olga Wróbels Tagebuch einer Schwangerschaft, worin sie persönliche Beobachtungen und Erfahrungen mit Klischees, Volksweisheiten und populärem Wissen konfrontiert.
odmianymasochizmu.blogspot.com

Renata Gąsiorowska, *1991, schloss 2010 ihr Studium an der Kunsthochschule in Kraków ab und studiert derzeit Animationsfilm und Special Effects an der Filmhochschule Łódź. Von ihr wurde bisher eine Reihe kurzer Comics in polnischen Fanzines wie Mydło oder Maszin sowie der lettischen Anthologie š! publiziert. In der Reihe mini kuš! erschien das Heft Jungle Night.
frfcl.blogspot.com

Daniel Gutowski lebt und arbeitet als Illustrator, Programmierer und Comic-Autor in Poznan (Posen). Als Mitglied der Gruppe Maszin gibt er die seit 2006 erscheinende Anthologie-Reihe gleichen Namens mit heraus, zudem macht er Ausstellungen und veröffentlicht Comics auf dem Maszin-Blog. Der experimentelle Ansatz vieler seiner dortigen Mitstreiter findet sich auch in seinen eigenen Arbeiten wie Nikifor (Szenario: Dominik Szcześniak) oder in Anthologie-Beiträgen wie für Flupje i Gagarin wieder. In dem 2013 erschienenen Maczużnik (Parasit, bei Centrala) nach einem Szenario von Michał Rzecznik widmet er sich ganz konkreten Themen wie der zerstörerischen Kraft der Familienbande und den erstickenden Normen der Dorfgemeinschaft.
danielgutowski.com

Maria Rostocka wurde in Warschau vor dem Fall des Eisernen Vorhangs geboren. Hier studierte sie Malerei und Postergestaltung an der Universität der Schönen Künste und arbeitet seit ihrem mit Auszeichnung bestandenen Abschluss als Illustratorin, Comic-Autorin und Malerin. In ihren von der Malerei inspirierten Arbeiten mischt sie häufig unterschiedliche Techniken wie Gouache und Farbstifte. Für ihre Wettbewerbsbeiträge erhielt sie unter anderem einen Sonderpreis beim Festival in Bolzano/Bozen (2009) und den Hauptpreis beim Wettbewerb für Comics über den Warschauer Aufstand (2011). Ihr Mann Michał schrieb das Szenario für den von ihr illustrierten, 2012 veröffentlichten Band Niedźwiedź, kot i królik (Bär, Katze und Hase) der zeitgleich in Polen bei Kultura Gniewu und in Frankreich bei Éditions Michel Lagarde erschien. In der fabel-artig erzählten Geschichte, die weitgehend ohne Worte auskommt, geht es um Angst vor dem Unbekannten und dem Versprechen von Abenteuer. Maria Rostocka lebt und arbeitet in Warschau.
mariarostocka.art.pl

Zosia Dzierżawska, y1983. Die Illustratorin und Comic-Autorin wurde in Warschau geboren und studierte Vergleichende Literatur- und Sprachwissenschaften an der Universität Warschau sowie Illustration in Mailand. Dort arbeitete sie u.a. als Gründerin und Mitglied des Studios Armad‘illos sowie als Illustratorin für Magazine und Kinderbücher. Comics entstanden mitunter für das polnische Nationalmuseum in Warschau sowie für die Anthologien Złote Pszczoły (Goldene Bienen), Waiting Room oder Nobrow #9. Im vergangenen Jahr erschien mit A testa in giu (Verkehrt herum) ihr Buchdebüt beim italienischen Verlag Topipittori. Darin blickt sie auf ihre Kindheit im Polen der 1980-er zurück. Derzeit lebt und arbeitet Zosia Dzierżawska in Zürich.
zozozosia.com

Gosia Herba, *1985. Nach dem Kunstgeschichtsstudium und einer Ausbildung zur Schmuckmacherin lebt und arbeitet sie heute als Illustratorin und Graphic Designerin in Wrocław (Breslau). Ihre Illustrationen wurden bereits in vielen namhaften und populären Zeitschriften veröffentlicht, zudem als Covers auf Büchern, Plakaten sowie Musik-alben verwendet. 2014 erschien der in Zusammenarbeit mit dem Texter Mikołaj Pasiński entstandene Comic Fertility – eine düstere Parabel über Grausamkeit und Rache, Instinkte und Verlangen – beim polnisch-englischen Verlag Centrala.
gosiaherba.pl