NO:124

  • Cover: Peter Bäder

EDITORIAL

Inside Strapazin

Wieso gibt man eigentlich seit 32 Jahren ein Fanzine heraus und arbeitet seit über 20 Jahren im Strapazin-Atelier in ­Zürich ­zusammen? Wie und wo ist Strapazin überhaupt entstanden? Wie kommt man als Zeichnerin oder Zeichner ins Strapazin? Wie geht es an ­einer ­Redaktionssitzung zu und her? Worin besteht der wahre Wert von Strapazin? Und wie sieht eigentlich die ­Zukunft von ­Strapazin aus?
In diesem Heft geben Zeichnerinnen und Zeichner Antworten auf all diese drängenden Fragen!
Pierre Thomé war 1984 dabei, als Strapazin in München ­gegründet wurde und erzählt uns endlich alles darüber. Dazu zeigt uns Peter Bäder die Entwicklung des Comics seit den Anfängen von Strapazin. Andrea Caprez und Christoph ­Schuler, auch sie alte Strapazin-Hasen, erzählen uns von ­Sternstunden, wie auch Jean-Christophe Menu, Gründungsmitglied des Verlags L’ Association in Frankreich. Autobiographisch erzählt Kati ­Rickenbach, wie Strapazin ihr Leben verändert hat und ­Nicolas Mahler erklärt uns, wann und wie seine erste Geschichte im ­Strapazin publiziert wurde. Den Strapazin-Alltag hautnah zeigen uns Anna Sommer in ihrem Beitrag Der moderne ­Verleger und ­Barbara Brunner mit ihrem Atelier-Report, ihrem ­ersten Beitrag für Strapazin. Strapazin hat auch bei Gefe Emotionen geweckt, darum erzählt er uns seine Liebesbeziehung zu ­Strapazin. ­Christophe Badoux präsentiert den ultimativen ­Strapazin ComicArt-­Report zum Ausschneiden und Falten; ­Thomas Ott wirft einen Blick in die Zukunft und Philip Schaufelberger erzählt uns die ­Fabel von Strapazin.
Willkommen zu einer Strapazin-Ausgabe, die einen Blick hinter und vor die Kulissen des ältesten deutschsprachigen ­Comic-Magazins gewährt, wir wünschen viel Vergnügen!

Kati Rickenbach und David Basler

Von dieser Strapazin-Ausgabe Nr. 124 erscheint auch eine ­französischsprachige ­Ausgabe als ­Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Rahmen des BDFIL Comics ­Festival in ­Lausanne (15.–19. September).
www.bdfil.ch

Danke an Dominique Radrizzani von BDFIL für die Einladung, an Noyau für die Übersetzungen ins Französische und an das Migros Kulturprozent für die finanzielle Unterstützung.

Ausstellung Inside Strapazin

BDFIL

BDFIL
Festival de Bande Dessinée
Lausanne
15.– 19. September 2016


Strapazin, das 1984 in München gegründete Comic-Magazin, ist ein alle drei Monate erscheinendes Fanzine im wahrsten Sinn des Wortes, nämlich eine Zeitschrift, die vor allem den Macherinnen
und Machern gefallen soll. Zwei Faktoren stecken hinter dem ­Geheimnis der Langlebigkeit von Strapazin. Erstens: Die achtzehn Redaktoren und ­Redaktorinnen konzipieren ­abwechslungsweise
das Heft, so dass ­Überraschungen vorprogrammiert sind. Zweitens: Finanziert wird das ­Magazin mit den kleinen quadratischen Anzeigen, die von den Strapazin-Zeichnerinnen und -Zeichnern exklusiv für die Kunden gestaltet werden.

Espace Romandie
Do–So 10.00 – 19.00
Mo 10.00 – 18.00

www.bdfil.ch

DAS GESCHRIEBENE WORT

Wer soll das denn alles lesen?

Zweimal im Jahr, im Januar und im Juli, stapeln sich neben ­meinem Schreibtisch allerhand Verlagsvorschauen auf eine Höhe von etwa 60 bis 70 Zentimeter. Das sind Prospekte mit Ankündigungen von Büchern, die dann in den Monaten darauf ­erscheinen. Manchmal ist es ganz lustig, diesen Stapel abzuarbeiten, etwa wenn man in einem Prospekt entdeckt, dass ein Buch mit dem Titel Die Psychologie sexueller ­Leidenschaft erscheinen wird, geschrieben von einem gewissen David Schnarch. Der Mann ist führender Sexualtherapeut in Trumpland. Da ­wundert einen gar nichts mehr. Manchmal freut man sich auch einfach, wenn ein so toller Roman, neu übersetzt, wieder aufgelegt wird wie Kurt Vonneguts Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug.
Nur allzu oft aber gähnt man sich entnervt durch die dreihundertste Familiengeschichte mit der sonderbaren Grossmutter und dem Vater, der abgehauen ist, um die Mutter im Kindbette allein zu lassen, währenddem der Onkel die Kartoffel­käferpfeife erfunden hat, bis ihn die Nazis nach Lummerland
verschleppt ­haben.
Und immer diese seitengrossen Autorenfotos mit all den hübschen Frauen und männlichen Männern, als ob das was zur lite­rarischen Kompetenz beitragen würde. Und diese vielen, ­vielen angepriesenen Bücher soll man dann auch noch lesen?
Doch der brave Mann tut, wie ihm aufgetragen, und das hier sind die Lesefrüchte.

Eines Sommermorgens packt der 20jährige Laurie Lee in einem Dorf im Südwesten Englands seine Geige ein und macht sich zu Fuss auf den Weg nach London. Dort bleibt er ein Jahr, arbeitet auf dem Bau und fährt schliesslich mit dem Schiff nach Vigo in Spanien. Von dort aus wird er quer durch das ganze Land laufen. Am Mittelmeer, in der Nähe von ­Malaga, erreicht ihn 1936 der Spanische Bürgerkrieg. Gerade ist der Faschisten­general Franco ­dabei, von Marokko aus das republikanische Spanien anzugreifen. Lee wird von ­einem englischen Hilfsschiff gerettet. So weit der Rahmen dieses Reise- und Erinnerungs­buches. Es ist brillant geschrieben, ungeheuer bildhaft, voll wunderbarer Metaphern und Alle­gorien. Die Reise durchs ländliche England etwa ist die pure Romantik, wie es ­Eichendorff nicht besser gekonnt hätte. Später ist die spanische Hitze dann ein «Löwe mit Messingklauen, der die nachmittäglichen Gefilde ableckt, bereit, jeden zu verschlingen, der nicht klug genug ist, sich zu verstecken». Laurie Lees Lebensbericht ist ein kleines Wunderwerk. Beim ­Lesen hat man sofort all die merkwürdigen Orte und Menschen als Bild oder Film im Kopf: diese verrotteten mittelalterlichen Städte in Spanien, die Hitze der südlichen Ebenen, Bettler, Bauern, Revolutionäre. Intensiv wird das Leben ganz unten, das der Ärmsten der Armen, der Verrückten und Verstümmelten und ihrer Revolte dargestellt. Ach, man kann es fast nicht beschreiben, wie wunderbar dieses Buch ist. An einem hellen Morgen ging ich fort ist der zweite Band von Laurie Lees dreibändigen Lebenserinnerungen. Das dritte Buch berichtet dann von Lees Abenteuern in den Internationalen Brigaden, denn er ist gleich nach seiner Rettung wieder über die Pyrenäen zurück nach Spanien und in den Bürgerkrieg gereist.

Keine allzu grosse Lust zum Reisen hat hingegen Max, der Protagonist in Das Leben ist gut von Alex Capus. Max lässt seine Frau Tina beruflich nach Paris fahren, bleibt in seiner Kleinstadt und kümmert sich um die Bar, die er neben seiner Arbeit als Schriftsteller betreibt. Das Schreiben ist ja nun mal nicht so wichtig. Am Morgen entsorgt Max das Altglas, dann wird der Kühlschrank aufgefüllt, und schliesslich gibt es Probleme mit dem ausgestopften Stierkopf, der Hauptdekoration der Bar. Auch von den Gästen weiss man ganz viel zu erzählen, denn immerhin ist so eine Bar ja auch eine soziale Einrichtung. Gerade das Loblied auf die Menschen in der Kleinstadt ist äusserst rührend, humor- und liebevoll. Der neue Roman von Alex Capus ist sehr autobiographisch. Ein Buch, das man gerne liest, und das einem das Herz anfüllt mit guten Absichten und Menschenliebe. Doch, wirklich!

Und nun hinein in eine Welt aus Poesie und Pathos, Verhängnis und Verderben: Als die amerikanische Dichterin Sylvia Plath den englischen Dichter Ted Hughes ziemlich derb in die ­Wange beisst, statt ihn auf die Lippen zu küssen, sollte der eigentlich wissen, dass ihre Beziehung irgendwie nicht gut gehen kann. Aber alles ist Brunst und Kunst und man ist ja auch jung genug, um die verrücktesten Sachen zu machen. Heiraten zum Beispiel, Haushalt, Kinder. Sylvia Plath hat mit 21 Jahren schon einen Selbstmord versucht. Sie hat wegen Depressionen eine Elektroschockbehandlung hinter sich. Sie ist eine hochbegabte Dichterin, kriegt ein Stipendium für Cambridge in England und trifft dort Ted Hughes auf einer Party. Sie haben zwei Kinder, Frieda und Nicholas. Hughes, kein Kostverächter, hat ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Die nach wie vor von Depressionen gequälte Plath bringt sich 1963 um.
Jedenfalls ist es ein lang anhaltender Streit in der literarischen Welt, wer denn nun ­Täter und Opfer in der Causa Plath vs. Hughes war. Dass beide als Dichterin und Dichter grossartig und genial waren, ist unbestritten. Die feministische Bewegung jedoch stilisierte Plath als Symbolfigur für die Unterdrückung der Frauen im Kulturbetrieb hoch, aber in dieser fiktiven Autobiographie kann sich Ted Hughes endlich einmal wehren und die Geschichte aus seiner Sicht erzählen. Connie Palmen, die berühmte niederländische Schriftstellerin und Verfasserin dieses Tatsachenromans, meint dazu: «In ­einer Liebe kann man nie nur einem die Schuld geben.» Da hat sie ­selbstverständlich recht.

Mehr als 2’000 Menschen der gehobenen Mittelklasse leben in ­einem Hochhauskomplex mit 40 Stockwerken, kultivierte Menschen, Ärzte, Schauspielerinnen, Fernsehmodera­toren, Juweliere und ihre Familien. Die Reichsten, unter anderem der Architekt des Gebäudes, wohnen selbstverständlich zuoberst. Das Gebäude ist weitgehend autark, mit ­Läden, Kinder­garten, Freizeitzonen, nur zur Arbeit wird es noch verlassen. Rauschende Parties werden auf den einzelnen Stockwerken gefeiert, doch die Bequemlichkeit und der Luxus bekommen bald Risse. Gruppen schliessen sich zusammen und grenzen sich gegenseitig aus, der Umgang wird immer aggressiver und irgendwann schlägt das Miteinander in ­blanke Gewalt um. Die Bewohner beginnen einen permanenten Krieg gegeneinander, vor allem die unteren Stockwerke gegen die oberen.
Die Zivilisation bricht zusammen, gesellschaftliche Konventionen sind nichts mehr wert, immer mehr übernehmen primitive Verhaltensmuster die Macht. Es ist wie eine Reise zurück in die Steinzeit, oder wie es der Mediziner Laing, einer der Protagonisten des Romans, ausdrückt: Es geht um Sicherheit, Nahrung und Sex. So kann man Ballards Geschichte auch als Kritik an der materialistischen Gesellschaft sehen, die nichts anderes produziert als ­unterdrückte Wünsche.
James Graham Ballard (1930–2009) ist vor allem mit pessimistischen Science-­Fiction-Romanen und Dystopien bekannt geworden, High Rise erschien 1975 im Original. Ballard beschreibt kühl und kontrolliert den Rückfall der Menschen in die Barbarei, psychologisiert wenig und streut sehr sparsam Horrorstory-Elemente in seinen ziemlich beeindruckenden Roman. Jetzt liegt er zur Lancierung des gleichnamigen Films von Ben Wheatley wieder auf dem Ladentisch.

Die Geschichte von Billy Pilgrim ist der sechste und erfolgreichste Roman des grossen Schriftstellers Kurt Vonnegut jr. (1922–2007). Hier zeigt er erstmals seine ganze Kunst, Gesell­schaftskritik, ­Science Fiction, bizarren Humor und strengen Humanismus in ­lockerer ­Romanform zu kombinieren.
Der US-Soldat Billy Pilgrim wird im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen gefangen genommen, erlebt die grauenvolle Bombardierung Dresdens, wird zurück in den USA in die Psychiatrie eingewiesen und schliesslich von Ausserirdischen auf den Planeten ­Tralfamador entführt und in einem Zoo ausgestellt. Vonneguts Roman ist eines der grossen Antikriegsbücher und ein überzeugendes Plädoyer für den Humanismus. Unnachahmlich ist sein ­lakonischer Schreibstil, dem in dieser neuen Übersetzung besonders Sorge ­getragen wird.

Wolfgang Bortlik

Playlist

Laurie Lee: «An einem hellen Morgen ging ich fort».
Milena Verlag, 280 S., Hardcover,
EUR 23,90 / CHF 29.90

Alex Capus: «Das Leben ist gut».
Hanser, 240 S., Hardcover,
EUR 20 / CHF 28.90

Connie Palmen: «Du sagst es».
Diogenes, 288 S., ­Hardcover,
EUR 22 / CHF 31.90

J. G. Ballard: «High-Rise».
Diaphanes, 256 S., Softcover,
EUR 17,95 / CHF 23.90

Kurt Vonnegut: «Schlachthof 5 oder der Kinderkreuzzug».
Hoffmann und Campe, 240 S., Hardcover,
EUR 24 / CHF 35.90

PFLICHT LEKÜRE


Olivier Schrauwen: Arsène Schrauwen

Koloniale Albträume

In der Geschichte des Comics finden sich unzählige problematische Blicke der Mehrheitsgesellschaft auf Minderheiten, Stereo­typen und Klischees, Zuschreibungen und Rassismen. Ein besonders prägnantes und bekanntes Beispiel ist der koloniale und rassistische Blick des belgischen Comic-­Zeichners ­Hergé in der Reihe Tim und ­Struppi, dessen erster Farbband Tim im Kongo nicht nur den europäischen Blick auf ­Afrika reproduziert und für Kinder aufbereitet, sondern gleichzeitig all jene Grausamkeiten zwischen den Bildern versteckt, die den belgischen Kolonialismus geprägt haben: zehn Millionen Tote, die Ausbeutung des Landes und das bis heute andauernde Trauma des Kongo auf der einen und die Verdrängung dieses Teils der eigenen Geschichte Belgiens auf der anderen Seite.
Vor diesem Hintergrund hat der in ­Brügge geborene Olivier Schrauwen einen ­Comic über die koloniale Vergangenheit seines Landes gezeichnet, ausgehend von den Verflechtungen der eigenen Familie mit dieser Vergangenheit. Arsène Schrauwen, nach dem das Album benannt ist, ist ­Oliviers Grossvater, der am 7. Dezember 1947 von Belgien aus zu einer ungenannten Kolonie in Afrika aufbricht. Sein Cousin lebt dort mit seiner Frau Marieke als Architekt und plant eine utopische Stadt, deren Zweck sich allerdings weder Arsène noch den Lesern wirklich erschliesst. Schon auf dem Schiff wird Arsène mit dem kolonialen Blick der Belgier
konfrontiert, als ihm ein Passagier über die «Eingeborenen» erklärt: «Man könne sie sich vorstellen wie sonnengebräunte Teenager mit lockigen Haaren, ein immer gut aufgelegter Haufen, athletisch, kräftig, einfallsreich und unermüdlich … Nur ab und an müsse man ihnen Disziplin beibringen … Alles in ­allem waren die Eingeborenen erfolgreich gezähmt worden.» Diesen «Eingeborenen» begegnet Arsène fast nur in Form bedrohlicher, sexuell übergriffiger Leoparden­menschen, und spätestens hier wird deutlich, dass Olivier Schrauwen in seinem Comic mit jenen Projektionen spielt, die den Kolonialismus begleitet haben, mit den Ängsten, Sehnsüchten nach dem Fremden und den Verdrän­gungen. Arsène wird vom Dschungelfieber in ­einen Zustand des Wahnsinns katapultiert; er nimmt die koloniale Welt, gefiltert durch ­dieses Dickicht aus Sexphantasien, Albträumen und Projektionen, wahr und ­diese wird ungefiltert an die Leser weitergegeben. Arsène Schrauwen präsentiert beein­druckend das Verdrängte und Unterbewusste der kolonialen Machtphantasien als ­surrealen Albtraum.

Jonas Engelmann

Olivier Schrauwen: «Arsène Schrauwen».
Reprodukt, 260 S., Hardcover, farbig,
EUR 39 / CHF 52.—

George Metzger: Beyond Time and Again

Zeitreisender Hippie

In der fernen Zukunft lebt die Menschheit am Rande des Untergangs. Die Sonne steht kurz vor dem Erlöschen und der junge Seth ­Comstock – Sohn eines Königs und eine Art Zauberlehrling mit ein paar Tricks in der ­Tasche – bricht auf, um das verlorene Wissen der Zauberer zu finden. Auf ­seiner abenteuerlichen Reise durch Wüsten und mittel­alterliche Städte trifft er auf Pfeife rauchende Zwerge, die ihn für ein Ritual opfern, auf sexy Feen, die mit ihm ins Bett und Cyborg-­ähnliche Steinzeitmenschen, die ihn für Experimente fangen wollen. Dabei entwickelt er eine nützliche Fähigkeit, von der er selber nichts zu wissen scheint: Er kann sich in Luft auflösen. Die Kehrseite davon ist, dass er durch Raum und Zeit katapultiert wird und sich noch weiter in der Zukunft, in einer nur noch von Frauen bewohnten Erde wiederfindet. Völlig klar, dass die Frauen in Seth den Messias erkennen, der ihnen eine Nachkommenschaft sichern kann. Es dauert nicht ­lange, bis sie vor seinem Schlafgemach ­Schlange stehen. Seth nimmt, ganz der Held, der er ist, die Bürde auf sich. Sobald sein Werk vollbracht ist, fliegen die befruchteten Frauen mit einem Raumschiff ins All. Kurze Zeit später schmilzt die Erde unter der Strahlkraft der Sonne. Natürlich wird im letzten Moment Seth wieder vom Zeitreisefieber gepackt und landet bei einem Zauberer, der ihn als Assistenten und Nachfolger anheuern möchte. Das passt Seth nicht, er verschwindet abermals. Doch dieses Mal erfährt der Leser nicht mehr, wohin.
So abwegig es scheinen mag, Beyond Time and Again enthält autobiographische Züge des US-Autoren George Metzger. Metzger verbrachte eine Zeit lang in einer Kommune, die in Indianerzelten hauste und Drogentrips schmiss. Die psychedelischen Erfahrungen dieser Zeit sind sowohl in der Geschichte als auch in den Zeichnungen zu erkennen. Metzgers Geschichte ist ebenso von seinen Science-Fiction-Lektüren, von der New-Age-Literatur und von Themen wie dem Umweltschutz und der aufkeimenden sexuellen Freiheit geprägt. Kurz, in Beyond Time and Again stecken alle Ansichten, Erfahrungen und Fantasien eines jungen Mannes, der das Ende der 1960er und die 1970er durchlebt. Beyond Time and Again erschien erstmals als Comicstrip-Serie zwischen 1967 und 1970 und wurde mehrmals als Buch herausgegeben. Dieses Werk ist ein typisches Produkt der Underground Comix und Resultat der damaligen amerikanischen Gegenkultur. Zeichnerisch enthält es interessante Elemente, die Geschichte ist an gewissen Stellen durchaus unterhaltend und teils unbeabsichtigt komisch, doch auch verwirrend. Lediglich das Ende erweist sich als unfertig. Es bleibt aber ein wichtiges Zeitzeugnis und Fantagraphics hat mit der erneuten Herausgabe des Buches dem eher in Vergessenheit geratenen Autor (der heute noch lebt) eine gebührende Hommage gewidmet.

Giovanni Peduto

George Metzger: «Beyond Time and Again».
Fantagraphics, 48 S.,
Softcover, s/w, $ 25.00

Max Baitinger: Röhner

Geometrie der Paranoia

Klare Linien, Geometrie, Ordnung! Max ­Baitinger umreisst auf den ersten Seiten in wenigen Strichen und ebenso wenigen ­Worten die Welt seiner Hauptfigur P.. Die Wohnung, den Alltag, das Denken: «Kocher an», «Kanne auf», «Tank füllen», «Sieb drauf», «Kaffee rein», «Nicht drücken!», «Rand säubern», «Kanne zu», «Herdplatte», «Ventil zur Wand».
In Thomas Bernhardscher Knapp- und Klarheit wird der morgendliche ­Kaffee zubereitet, wobei sich hier nicht nur der Ord­nungswahn, sondern auch schon die ­lauernde Paranoia zeigt: «Ventil zur Wand». Sicher ist sicher! P. lebt in seiner perfekt eingerichteten Wohnung vor sich hin, stets darauf bedacht, dass alles seine Ordnung hat. Nur ab und an dringt seine Nachbarin in dieses Refugium ein und stört den Ablauf. Als sich jedoch P.’s alter Bekannter Röhner ankündigt, hat P. schlimmste Vorahnungen. Wie bei dem Ventil der Espressokanne. Und in der Tat: Röhner fühlt sich während seines Besuches förmlich wie zuhause und will dann auch gleich ein paar Tage bleiben. Aber der zurückgezogen lebende P. ist nicht nur kein Mann der Tat, er ist auch kein Mann der ­Worte. Für P. beginnt eine schwierige Zeit, in der er sich innerlich über Röhner ärgert und langwierige Überlegungen anstellt, wie er ihn wieder loswerden kann, ohne zu direkt ­werden zu müssen.
Max Baitinger hat für seine unspektakuläre Geschichte grandiose ­Illustrationen gefunden. In klaren Linien zirkelt er P.’s Lebens­raum ab, um mit beeindruckenden Effekten die Störung und Auflösung desselben zu ­zelebrieren. Während wir aus P.’s ­Perspektive erleben, wie Röhner langsam, aber sicher die Ordnung (zer-)stört, wird dem Leser in vielen Perspektivsprüngen die Differenz zwischen P’s Innenwelt und der Wirklichkeit vorgeführt. Baitinger findet für all das eine faszinie­rende und zugleich äusserst ­schöne grafische Lösung. Die Deformationen des Alltags, die fast alle ausschliesslich P’s Geist entspringen, sind berauschend schön – irgendwo ­zwischen Dekonstruktion und Destruktion.

Christian Meyer

Max Baitinger: «Röhner».
Rotopolpress, 216 S., Softcover, s/w,
EUR 22 / CHF 31.90

Joe Daly: Highbone Theater

Hängen- und treiben lassen

In der Mitte des Buchs gesteht Billy Boy der Hauptfigur Palmer, dass nicht seine Frau ihm einen Furzauspuff in den Overall genäht habe, um seine Flatulenzen direkt nach draussen zu blasen, sondern seine ­Mutter. Seine Gattin habe er nur erfunden, um weniger lächerlich und einsam zu erscheinen. Palmer nickt verständnisvoll. Und wir? Wir staunen über die Leichtigkeit, mit der Joe Daly dümmlichen, ja geschmacklosen ­Humor paart mit einer durchaus melancholischen Grundstimmung von Einsamkeit, ­Verlorenheit und Aussenseitertum.
Mit Highbone Theater wird der süd­afri­kanische Comic-Autor Joe Daly, von dem es auf Deutsch erst das grossartige Doppeltes Glück mit dem roten Affen (Strapazin Nr. 110) gibt, seinem Ruf gerecht, einer der eigenwilligsten und einzigartigsten Comic-Autoren der Gegenwart zu sein.
Im Zentrum seines Papiertheaters steht Eric Palmer, ein Mittdreissiger mit wallendem, weissem Bart; er jobbt in einer Papierfabrik und hängt mit seinen Kumpeln Perry und Brewster ab, die an nichts anderes denken als an Haifischfang, Drogen, Bier, Testo­steron und Weiberaufriss. Später freundet sich Palmer mit Billy Boy an, der irren Verschwörungstheorien – im Fokus steht ­natürlich 9/11 – nachhängt und mittels Sabo­tageakten die Welt vor unterirdischen Komplotten, okkulten Beschwörungen, frei­mau­rerischen Ränkespielen u.v.m. retten will – ehe er plötzlich verschwindet. Irgendwo dazwischen verliebt sich Palmer, ist aber zu unsicher, um aus der Affäre eine Beziehung zu machen und mutiert aus Liebespech zum selbsternannten Weltenretter an Billy Boys Seite. Er reinigt sich mit einer Diät aus Pilzen und Fischöl, um die wahre Ordnung der Dinge wiederherzustellen – damit nicht das Nichts obsiege … Über all dem schwebt eine dichte, nach unerlaubten Raucher­waren duftende Wolke, es werden Pillen mit Bier ­hinuntergespült und Pilze geschluckt.
Joe Daly führt uns tief in die verschlungenen, wirr verknüpften und scheinbar ziellos mäandernden Gehirnwindungen paranoider Rauschgiftfreunde und entfaltet ein psychedelisches, etwa einen halben Schritt neben unserer Realität vor sich hin schlurfendes Paralleluniversum. Die Zeichnungen sind von stupender Präzision, auch wenn Daly seine Protagonisten eigenwillig karikiert (Stecknadelköpfe, Superheldentorsi, gigantische Hände). Das Schwarzweiss ist ohne Fehl- und Grauton, die Albtraum- und Tripsequenzen hingegen kunstvoll knallig koloriert. Der Humor ist grausam, hintergründig und schräger als erlaubt, die Atmos­phäre schwankt zwischen Brüller und tiefer Melancholie.
Das Leben als ein sich Hängen- und Treibenlassen. Genau das erwartet Daly auch von seinen Lesern: Sich 580 kleinforma­tige Seiten lang hängen- und durch diese psychedelische Fantasie treiben lassen. Gewöhnungsbedürftig? Ja. Lohnend? Unbedingt.

Christian Gasser

Joe Daly: «Highbone Theater».
Englischsprachige Ausgabe: Fantagraphics,
574 S., Hardcover, farbig,
EUR 29,90 / CHF 40.90

Joe Daly: «Highbone Theater».
Französischsprachige Ausgabe:
L’Association, 580 S.,
Hardcover, farbig, EUR 26

Birgit Wehye: Madgermanes

Mad in Germany

«Ich erinnere mich nicht. Jedenfalls nicht gerne. Bei manchen Erinnerungen ist es besser, wenn sie weggeschlossen bleiben», lässt Anabella Mbanze Rai die Leser zu Beginn ihrer Erzählung wissen. Sie ist eine von 20’000 ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern aus Mosambik, die seit Ende der 70er in den sozialistischen Bruderstaat der Deutschen Demokratischen Republik zogen und nach der Wende 1989 unter die ­Räder der Weltgeschichte gerieten. Anabella ist – ebenso wie die beiden anderen Pro­tagonisten, José und Basilio, in Birgit Weyhes Graphic Novel – zwar eine fiktive Person, in ihre Ausgestaltung flossen jedoch unzählige Interviews ein, die Weyhe mit Betroffenen geführt hat. Jenseits einer zarten Liebesgeschichte vermittelt sie Reflexionen über die Bedeutung von Freundschaft in der Fremde und berichtet von realpolitischen Umstürzen, die zur Folge hatten, dass die ehemaligen Gäste der DDR in der BRD plötzlich ­keine Aufenthaltsberechtigung mehr hatten und zurück nach Mosambik verfrachtet wurden. Madgermanes ist also vor allem eine anregende Lektüre zur Frage danach, was das eigentlich sein soll: Heimat.
Weyhe, die selbst in Uganda und ­Kenia aufgewachsen ist und sich dort nach wie vor heimischer fühlt als in ihrer heutigen «­Heimat» Hamburg, interessiert sich für die Verlorenheit der Protagonisten zwischen den Kulturen. In Deutschland mit Rassismus konfrontiert, mit den ausgrenzenden Blicken der Mehrheitsgesellschaft, aber auch mit den Vorzügen des DDR-Sozialismus, ohne Sorgen um Geld, Wohnung, Kleidung, mit der Möglichkeit zu reisen, sich zu bilden, werden sie nach der Wiedervereinigung wieder in die alte und fremd gewordene Heimat geworfen, wo nichts sie aufzufangen in der Lage ist: «Als sie nach jahrelanger Abwesenheit 1990 in die Heimat zurückkehren ­mussten, waren sie Fremde im eigenen Land. Ihnen stellte sich die Frage nach Zugehörigkeit und nach Heimat ganz elementar.» In dem vom Bürgerkrieg zerstörten Land, das ihnen sogar den einst versprochenen Lohn verweigert, fasst kaum einer von ihnen wieder Fuss, ihre ehemaligen Landsleute betrachten sie als Fremde. Diejenigen, die es schaffen, in Deutschland zu bleiben, sind wiederum mit dem erstarkten Rassismus der Nachwendezeit konfrontiert, und auch hier werden sie nicht als Teil der Gesellschaft gesehen. Eine Kommilitonin rät Anabella: «Wenn du hier langfristig leben willst, dann versuche, so weiss wie möglich zu werden.»
Weyhe gelingt es, diese Heimatlosigkeit in starken und dennoch subtilen Bildern umzusetzen, etwa wenn sie über den einsamen José die Struktur des Plattenbaus legt, ihn einem Gefängnis gleich einschliesst, oder in Basilios gegenwärtigem Leben nur der melancholische Blick übrig geblieben ist, die «Sehnsucht nach einem besseren Leben», die für immer unerfüllt bleiben wird. Dieser Blick wird begleitet von Basilios sich als Leitmotiv durch das Buch ziehenden afrikanischen Weisheiten, die in Bild und Text immer wieder aufgegriffen werden, etwa: «Nur durch Vorwärtsgehen gelangt man ans Ende der Reise.» Diese vermeintlichen Bezugnahmen auf so etwas wie «Heimat» stellen sich jedoch als grosser Bluff heraus: Die Weisheiten stammen aus einem DDR-Buch namens Afrikanische Sprichwörter, das sich Basilio zu Beginn seines Aufenthaltes zugelegt hatte, um «afrikanischer», authentischer zu wirken. Dies ist ihm gelungen, genutzt jedoch hat es ihm nichts. Er ­wurde rückgeführt in ein Land, das nicht seines war, aus einem Land, das ihn nicht mehr haben wollte. Madgermanes wurde mit dem Comic-Preis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet.

Jonas Engelmann

Birgit Wehye: «Madgermanes».
Avant, 240 S., Hardcover, Duotone,
EUR 24,95 / CHF 35.90

 

Anna Haifisch: The Artist / Von Spatz

Künstler und Neurosen

Der Künstler in The Artist – ein vogelartiges Wesen, dünn, lang und weiss wie ein Geist – ist erfolglos, missgünstig, intrigant, ehrgeizig; er würde alles tun für den Erfolg – und tut dann doch nichts. Dann ist er überrascht über den nicht eintretenden Durchbruch, und seine Frustrationen wachsen; Schaffens­krisen lähmen ihn, Selbstzweifel plagen ihn, Abgabetermine bedrohen ihn, und nichts ist schlimmer als der Erfolg seiner Konkurrenten. In kurzen Schlaglichtern karikiert Anna Haifisch mit grausamer Präzision Kunstwelt und Künstlerexistenzen und lässt kaum ein Klischee aus.
Das Thema scheint ihr zu liegen – ihr letztjähriges, grossartiges Debüt Von Spatz umkreiste auch schon Künstler und ihre Neurosen. In diesem schmalen Bändchen steht indes kein anonymer Nachwuchskünstler im Rampenlicht, sondern Walt Disney, der sich im «Von Spatz Rehab Center» von einer Schaffenskrise zu erlösen versucht. Anna Haifisch lässt Walt Disney – auch er ein dürrer Vogel, aber mit gewaltigem Cowboyhut – malen, modellieren, kneten und eine Modelleisenbahnausstellung kuratieren. Und wenn’s gar nicht mehr geht, kümmert er sich um die Pinguine oder schaut zu, wie seine Figuren vor seinem Krankenzimmer vorbei­paradieren. Nur Zeichnen geht nicht mehr, das Blatt bleibt leer, während die neben ihm sitzende Maus und die Felix ­nachempfundene Katze munter vor sich kritzeln und Blatt um Blatt füllen.
Haifischs Strich ist krakelig und ­gemahnt an Kinderzeichnungen oder an Zeichnungen, wie sie tatsächlich in therapeutischen Zeichenkursen entstehen könnten. Ebenso einfach und plakativ sind die Farben, gelbe, orange, rosafarbene und blaue Flächen prägen die Bilder. Einfach, kindlich und verspielt – doch dieser erste Eindruck trügt: The ­Artist und Von Spatz sind erfrischend hintersin­nige Reflektionen des Künstler­daseins und des Kunstmarkts. In kurzen, fragmentarisch erzählten Geschichten denkt Anna ­Haifisch über Kunst, Krisen und Kommerz nach, über Auf- und Abstieg, über Erfolg und Niederlagen, über Kreativität und Schaffensangst, über dies und jenes und würzt alles gut mit genügend Unsinn. Das macht aus ihr, so viel ist längst klar, eine der eigenwilligsten, schrägsten und meistversprechenden neuen Stimmen in der deutschsprachigen Comic-Szene.

Christian Gasser

Anna Haifisch: «The Artist».
Reprodukt, 64 S., Softcover, farbig,
EUR 14 / CHF 21.90

Anna Haifisch: «Von Spatz».
Rotopolpress, 68 S.,
Softcover, farbig,
EUR 18 / CHF 27.90

Ben Gijsemans: Hubert

Distanzierte Parallelwelt

Der Belgier Ben Gijsemans schlägt ganz stille Töne an – zeichnerisch und narrativ. Und das passt perfekt zu seiner Hauptfigur, dem titelgebenden Hubert: Hubert ist ein stiller, zurückgezogener Zeitgenosse. Mit lebenden Menschen hat er es nicht so. Stattdessen geht der gebildete Mann mittleren Alters gerne ins Museum und betrachtet lange seine Lieblingsbilder und Skulpturen. Das sind vor allem die Frauenporträts. Zuhause kopiert er die Kunstwerke mittels Bildern aus dem Internet. Hubert geniesst in Distanz, fühlt sich wohler zwischen Kopie (Kunstwerk), ­Kopie der Kopie (Internetbild des Kunstwerks) und Kopie der Kopie der Kopie (seine gemalten Bilder) als unter echten Menschen. Denen und vor allem den Frauen – der Dame aus dem Erdgeschoss, der Frau von gegenüber – geht der schüchterne Junggeselle jedoch möglichst aus dem Weg. Wenn das nicht ganz gelingt, hält er sich zumindest sehr ­zurück in der ihm meist unangenehmen Begegnung. Aber immerhin eine der komplexen Distanzierungsebenen, die er zwischen sich und den Frauen aufbaut, wird er im ­Laufe der Geschichte langsam überwinden.
Gijsemans schildert den in seiner Isolation gefangenen Protagonisten mit feiner Akribie. Die in gedeckten Tönen gehaltenen Zeichnungen haben selber die unauffällige Erscheinung des Protagonisten angenommen, der sich vor dem Hintergrund farblich kaum absetzt. Eine frühe Doppelseite in der Geschichte zeigt in einer unruhigen Collage, wie Hubert die Hektik und Unordnung der Wirklichkeit wohl wahrnimmt. Ihr zieht er die Ruhe des Museums vor. Auch Ben ­Gijsemans scheint dieser Ruhe zu erliegen, und man hat immer wieder Sorge, dass er sich wie sein Protagonist in seinem leisen Ästhetizismus verlieren könnte. Die Bilder sind tatsächlich von ausgesuchter Schönheit, stehen aber immer im Dienst der Geschichte und entfalten in ihrer Strenge eine Konzentration, die wahrscheinlich die für diese Geschichte einzig adäquate ist. Gijesemans ist ein echtes Talent – man darf also auf eine etwas längere und komplexere Geschichte von ihm ­gespannt sein.

Christian Meyer

Ben Gijsemans: «Hubert».
Jacoby & Stuart, 96 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 35.90

Peter Kuper: Ruins

Ein aufregendes Leben

Peter Kuper ist ein extrem unterschätzter amerikanischer Zeichner. Nicht nur war er in den frühen Achtzigerjahren Mitbegründer des einflussreichen Fanzines World War III, sein bewundernswertes Werk umfasst auch Adaptionen von Geschichten von Kafka, ein Dutzend oder mehr Comic-Alben, Skizzenbücher, Sammlungen von Zeitungsstrips und Illustrationen, zudem hat er zwanzig ­Jahre lang den witzigen Spy vs Spy-Comic für MAD Magazine gezeichnet. Was in ­seinem Portfolio noch fehlte, war ein «Grosses
Buch» – eine längere Erzählung, wie sie in der heutigen Welt der Graphic Novels unverzichtbar ist.
Ruins, ein 256 Seiten umfassendes Album, sollte dieses Manko beheben. 2015 erschienen, zeigt uns das reich ausgestatte Werk den Künstler im Zenit seines Schaffens. Kuper ist ein höchst talentierter Künstler, der mit Leichtigkeit meisterhafte Illustrationen und geschickt erzählte Comic-Geschichten zu kombinieren weiss. Die den langjährigen
Anhängern (zu denen ich mich auch zähle) bestens vertrauten Zeichnungen führen uns Kupers langen Weg seit seiner Punk-Zeit vor Augen und sind von einer kinetischen, von Graffiti inspirierten Energie beseelt. Ruins ist ein komplexer, tiefgründiger, introspektiver Comic über ein Paar, das in Oaxaca, ­Mexiko, ein Sabbatical verbringt. ­Samantha, mit der Arbeit an einem Buch überfordert, und George, der soeben seinen Job im Museum of Natural History verloren hat und wieder als Kunstmaler arbeiten will, suchen nach Neuorientierung in ihrem beruflichen und privaten Leben. Samantha möchte ein Kind, George eher nicht, und um ihre Ehe ist es schlechter bestellt, als sie zugeben. Die beiden Figuren sind nicht unbedingt ­liebenswert und die Geschichte entwickelt sich eher unvorhersehbar, was eine erzählerische Raffinesse erzeugt, wie man sie bei nicht autobiographischen amerikanischen Graphic Novels selten antrifft.
Über die Geschichte der zwei ­Figuren legt Kuper weitere Erzählstränge: Die von Gewalt begleiteten zivilen Unruhen des Lehrerstreiks von 2006 (den Kuper und ­seine Frau bei ihrem Aufenthalt in ­Oaxaca miterlebten); einen glücklosen, melancholischen Fotojournalisten und einen verwegenen Künstler, der sich um Samantha bemüht. Mit dem Auge eines langjährigen Reiseschriftstellers schildert Kuper den Alltag eines Exilierten im sonnengebleichten Mexiko, die täglichen Details des Lebens in einer Stadt, die Kuper ganz offensichtlich ans Herz gewachsen ist. Nicht nur die Geschichte überzeugt, es ist auch ein Vergnügen, in die Zeichnungen einzutauchen und einzelne Kapitel wieder und wieder zu lesen. Ein spezieller Bonus ist Kupers Interesse an Entomologie (Georges Museums-Job war das Katalogisieren von Insekten), seine Zeichnungen von Käfern sind wunderbar.
Der rote Faden in Ruins ist der (wort­lose) Bericht über die Migration der Monarch-­Schmetterlinge von Kanada nach Mexiko. Ehrlich gesagt, wirkt diese Metapher in der ersten Hälfte des Buches etwas aufgesetzt. Schmetterlinge haben eine lange und anstrengende Reise vor sich, die einige nicht überleben. Raupen werden zu Schmetterlingen, genau wie Menschen sich im Lauf ihres Lebens verändern. Schmetterlinge werden von ihrem Instinkt geleitet, Menschen ebenso – sind unsere Leben also genauso vorbestimmt wie die der Schmetterlinge? Können wir unser Schicksal ändern? Erst im Verlauf des Buchs macht die Metapher durchaus Sinn, und am Ende werden die Schmetterlinge – auf bittersüsse Art – zum Schlüssel für die überraschende Auflösung der Geschichte. Der Kreislauf der Natur geht weiter, ­unsere menschlichen Macken und Schrullen ­wirken dagegen unbedeutend.

Mark David Nevins

Peter Kuper: «Ruins».
Englisch­sprachige Ausgabe: SelfMadeHero,
328 S., Hardcover, farbig,
EUR 23,90 / CHF 37.90

Adrian Tomine: Eindringlinge

Ein Wunder der Aufmerksamkeit

Irgendwo da draussen in all den ­Städten dieser Welt gibt es Menschen. Normale Menschen wie du und ich. Menschen, die träumen; Menschen, die suchen; ­Menschen, die leben; Menschen mit kleinen Zielen und wenig Erfolg; Menschen, denen das Glück nicht hold ist und Menschen, die zwar irgend­wie nett und artig, aber auch nicht so wirklich sympathisch sind.
Da gibt es den Gärtner, der Künstler sein will, seine schrecklich schönen Pflanzenskulpturen aber nicht verkaufen kann. Da gibt es die Studentin, die sich bedrängt fühlt, weil sie ständig mit einer Pornodarstellerin verwechselt wird. Da gibt es die pummelige, stotternde Tochter, die unbedingt Stegreifkomikerin werden will. Da gibt es eine unsichtbare Mutter, deren Versuch, ein anderes Leben zu führen, misslingt. Da gibt es den namenlosen Mann, der in seine frühere Wohnung eindringt, nur um zu merken, dass er einer von uns werden sollte. Und da gibt es den kleinkriminellen Dealer, der die ­Beziehung seines Lebens versaut.
Diese Menschen stellt uns der Kalifor­nier Adrian Tomine in Eindringlinge in sechs ­trockenen Kurzgeschichten vor – und das Schöne daran ist: Konfrontiert mit der unerbittlichen Banalität des Lebens von Menschen, die einen eigentlich gar nichts angehen, lernt man, sich selbst ein Stück weit besser zu lieben und zu verzeihen. ­Schliesslich ist man ja auch nicht perfekt.
Ein kleines Wunder ist, wie bzw. womit Adrian Tomine erzählen kann. Denn es gibt wohl nichts, was er nicht als Mittel des Erzählens einsetzt: Bilder, Schriften, Farben, Formen, Worte, Layout etc. Sie alle tragen ihren Teil zum Sinn der Erzählung bei. Und wer ­Tomines Geschichten verstehen und seinen Figuren folgen will, schaut besser aufmerksam hin und wird genauso zu einem Beo­bachter des Alltäglichen wie der Autor einer ist.
Die Details sagen viel bei Tomine, und Entscheidendes wird nicht in Worten gesagt. Ein kleines, weisses Panel deutet an, dass die Mutter gestorben ist, und wenn eine Frau, gefangen in ihren Sorgen, einem Gespräch nicht folgen kann, verlieren sich die Sprechblasen in den Ecken eines Panels.
Die Widersprüche, welche die Menschen zeichnen, spiegeln sich in der Gestaltung: In einer Geschichte, in der jede einzelne Seite mit 20 mosaiksteinkleinen Panels besetzt ist, kommt man den Menschen ganz nahe. Hingegen bekommt man sie in einer anderen Geschichte, in der die Panels die Seiten halb bis ganz füllen, überhaupt nicht zu Gesicht.
Irgendwo ist überall, und Adrian Tomine zeigt uns wieso. Sehr lesenswert.

Florian Meyer

Adrian Tomine: «Eindringlinge».
Reprodukt, 120 S., Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 35.90

 

Nadia Budde: Durch & Durch

Nimm zwei

Tim ohne Struppi, Dick ohne Doof, Siegfried ohne Roy – was wäre die Welt doch langweilig, wenn sich diese Paare nicht gefunden hätten! Nadia Budde hat sich in ihrer aktuellen Veröffentlichung Durch & Durch in der Edition Büchergilde bekannten und weniger bekannten Paaren der Popkultur gewidmet, aus der Literatur, dem Film, dem Comic und der Welt des Glamours. Das Phänomen des Sidekicks – der Kombination von gut und böse, clever und smart, dumm und dümmer – könnte man auch philosophisch oder kulturwissenschaftlich betrachten, doch dies entspricht nicht dem Naturell Buddes. Auf ihre vertraut unnachahmliche Art generiert sie ihre Texte aus einem abstrakten Wortspiel heraus, worin sie eine wahre Meisterin ist. Erst dann zeichnet sie mit leichtem Strich die Protagonisten ihrer Geschichten. Es fällt schwer, den subtilen und hintersinnigen Humor Buddes in Wörter zu fassen, da er aus einer kongenialen Verbindung von Wort und Bild besteht. Fehlt eine der Hälften, aus denen er sich zusammensetzt, ist es weniger lustig, ähnlich der Paare in ihrem Tollen Heft. Oder findet jemand Bonnie, Starsky, Porgy, Obelix, Peppone und Kain – also Solisten – genauso interessant? Auch wenn Budde das Thema Paare auf eine humorvolle Weise behandelt, so stellt man beim Lesen fest, wie sehr unsere Kultur von der Kombination der Gegensätze geprägt ist.

Matthias Schneider

Tolles Heft 45,
Nadia Budde: «Durch & Durch».
Edition Büchergilde, 32 S.,
Softcover, farbig,
EUR 16,95 / CHF 23.90

Simon Spruyt: Junker: Ein preussischer Blues

Fin de siècle

Simon Spruyts Comic Junker: Ein preussischer Blues wurde 2014 als bester nieder­ländischer Comic ausgezeichnet. Beim Comic-Salon Erlangen war er dieses Jahr dagegen nur nominiert und ging bei der Preisverleihung leer aus, völlig zu unrecht. Aber irgendwie verständlich, denn wer widmet sich schon gerne einem Comic mit dem unpopulären Thema Krieg, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs angesiedelt ist und den Niedergang einer preussischen Adelsfamilie beschreibt? Keine Action, sondern der Alltag in der Kadettenschule erwartet den Leser. Darüber hinaus ist der Comic an Vielschichtigkeit bezüglich Kriegstrauma, Generationenkonflikt, Bruderzwist und gesellschaftlicher Umwälzungen kaum zu überbieten. Spruyt schafft ein düsteres und zugleich bewegendes historisches und gesellschaftliches Panoramabild, das in seiner Brüchigkeit Parallelen zu Manns Zauberberg und Viscontis Der ­Leopard aufweist. Dabei setzt der Niederländer die erzählerischen und grafischen Möglichkeiten des Comics für seine Geschichte virtuos ein. Ein besonderer Kunstgriff gelingt ihm allein mit der Darstellung der Statisten als austauschbare Mondgesichter, weiss umrandet, mit zwei Punkten als Augen und einem Strich als Mund, während die Mitglieder der Adelsfamilie und unter anderem der König nor­male Gesichtskonturen aufweisen. Das Schloss der von Schlitts steht für den Untergang ­einer Ära. Das Personal wurde grösstenteils bereits entlassen, ganze Wohnflügel stehen leer, die Länder sind verpachtet, während sich die Söhne an der Militärakademie befinden, weil ihr Vater ebenfalls Offizier war. Nicht nur die Karriere, auch das Trauma wird an die nächste Generation weitergegeben, mehr jedoch nicht. Im Aufkommen des Kapitalismus sind die Aristokraten die Verlierer. Und die Söhne kämpfen nicht mehr stolz hoch zu Ross mit Degen Mann gegen Mann, sondern das Töten mit dem Maschinengewehr hat Einzug gehalten. Äusserst eindrücklich erzählt Spruyt vom kulturellen Verfall einer ganzen Gesellschaft und Epoche, wie es in dieser Intensität zuvor noch keinem Comic-Autor gelungen ist.

Matthias Schneider

Simon Spruyt: «Junker:
Ein preussischer Blues».
Carlsen, 192 S., Hardcover, zweifarbig,
EUR 24,99 / CHF 35.90

Andy Fischli: Eins führt zum andern

Götter und Jäger

Es ist natürlich nicht einfach, Wildschweine zu erlegen, wenn einem der rechte Arm behelfsmässig an die Schulter genagelt ist – auch wenn man Orion heisst und in der griechischen Mythologie als grosser ­Jäger bekannt war. Da hat der andere mythologische Jäger, der Schönling Aktaion, die besseren Karten auf der Pirsch nach Wild, aber auch nach Weibern – wenn er etwa in ­Artemis’ Badezuber steigt, während ­seine Gattin Semele mit ihrem affenartig pelzigen Sohn Dionysos spielt. Artemis indes, hängebrüstig und stark behaart, lässt den Jäger auflaufen und verwandelt ihn in einen Hirsch … Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort hadert Poseidon (Orions Vater) mit seinem Pech beim Fischen – kein Wunder, wenn die Angel kaputt ist.
In Eins führt zum andern entführt uns der Zürcher Comic-Zeichner und Illustrator Andy Fischli in einen mythologisch aufgeladenen, in kühlen blauen Farben gezeichneten Wald, in welchem sich Götter und Gottheiten ein surreales Kammerspiel voll schwarzen Humors liefern. Die Götter sind Jäger und Fischer, die Göttinnen Mütter, Hausfrauen und Huren. Sie alle umkreisen sich in einer Choreographie des Begehrens, Abweisens und Hasses, deren Sinn und Zweck sich nie ganz erschliesst. Manchmal ist der Wald auch einfach leer, dunkel ragen die Stämme in den dunklen Himmel, es regnet oder es schneit, und dazwischen liegen Leichen in unterschiedlichen Verwesungszuständen – Opfer wilder Tiere oder der Schiesskünste Orions? –, die sich philosophische Wortgefechte liefern.
Die Geschichte, die Andy Fischli erzählt, ist bizarr. Sie ist düster, befremdlich und verstörend. Womöglich hilft uns der (einfach zu übersehende) vollständige Titel ­weiter: Eins führt zum andern und: Wie man zum Tier wird. Ein illustrierter Teufelskreis.
Auch das Bild des Waldes aus der Vogel­perspektive, noch bevor die Geschichte einsetzt, ist aufschlussreich: Der Wald hat die Umrisse ­eines menschlichen Gehirns, ein Pfad teilt ihn in eine linke und eine ­rechte Hälfte.
Fischlis illustrierter Teufelskreis taucht tief ins Unbewusste, arbeitet mit Traumbildern und entzieht sich einer klaren Deutung. Am Ende ist der Jäger in Hirschgestalt tot und der Leser «so klug als wie zuvor» (­Goethe, Faust), aber um eine ­ungewöhnliche ­Leseerfahrung reicher.

Christian Gasser

Andy Fischli: «Eins führt zum andern».
Picaverlag, 176 S., Hardcover, farbig,
EUR 29.90 / CHF 31.90

B. Eppenberger, G. Gilg, B. Schrag: «Golem im Emmental

Gotthelf und der Golem

An einem regnerischen Sommertag 1832 schleppt ein Mann eine Kiste durch das Berner Emmental. Mendel heisst der Mann, ist Jude und sieht aus wie ein Cowboy. Er ist durch ganz Europa gezogen und hat als Waffen­schmied, Soldat und Agent vielen Herren gedient. Nun ist er auf dem Weg zum Hof der Witwe Hanni Wüthrich, um Schulden für ­seinen Onkel einzutreiben. Danach will er weiterziehen in die Neue Welt. Doch als er sieht, wie die junge Frau von ihrem sadis­tischen Schwager und vom verliebten und antisemitischen Vikar Bitzius bedrängt wird, beschliesst er zu bleiben und der ­Witwe und ihrer kleinen Familie zu helfen. Seine Waffen sind sein Mut, seine Revolver und etwas, was er in der Kiste mitgeschleppt hat. Darin befindet sich Lehm und ein Davidstern, aus dem Mendel einen Golem erschafft, eine Art Frankensteins Monster aus der jüdischen Lite­ratur und Mystik. Zusammen bekäm­pfen sie den Grossbauer und den «Pfaffen» und helfen der Witwe, das Feld zu bestellen.
Es ist eine düstere und sonderbare Geschichte, die Benedikt Eppenberger zusammen mit Gregor Gilg und Barbara Schrag kreiert hat. Eine Mischung aus Western, Horror und religiöser Geheimlehre mit der öden Hügel­landschaft des ­Emmentals als Schauplatz. Die Kombination funktioniert. Sowohl Mendel als auch der Golem sind die schweigenden Heldenfiguren, wie wir sie aus Clint-Eastwood-Western kennen. Die Eröffnungsszene des Comics erinnert an den Italo-Western Django (1966), in dem die Hauptfigur ebenfalls einen Sarg mit sich rumschleppt. Der Golem wiederum wurde durch den (realen) Streit um einen ­unter Verschluss gehaltenen Teilnachlass des Schriftstellers Jeremias Gotthelf inspiriert, dessen Ururgrossneffe Eppenberger ist. Spekulationen darüber, was sich in diesem Nachlass verbergen könnte, brachten ihn auf die Idee. Dass die Kiste in der Geschichte schliesslich beim Vikar und späteren Pfarrer ­Albert Bitzius landet, ist kein Zufall. Denn so hiess Gotthelf mit richtigem Namen und war eben dieser Vikar. Wer weiss also, ob sich in diesem ­Teilnachlass nicht wirklich der Golem versteckt …

Giovanni Peduto

Benedikt Eppenberger, Gregor Gilg,
Barbara Schrag: «Golem im Emmental».
Edition Moderne, 304 S., Softcover, s/w,
EUR 29 / CHF 36.90

 

Frédéric Pajak: Ungewisses Manifest 1

Manifest eines Träumers

Wunderbar zu lesen ist Ungewisses ­Manifest 1
und wunderbar belesen ist sein Autor, der französisch-schweizerische ­Schriftsteller, Zeichner und Verleger Frédéric Pajak. Nichts weniger als ein Schatz ist dieses Mani­fest: «Ich horte Sätze und Zeichnungen», schreibt Pajak, «am Abend, am Donnerstagnachmittag, doch vor allem an Tagen mit Angina und Bronchitis, allein zuhause in der Wohnung, frei.»
Ungewissheit ist nicht Ratlosigkeit oder Verlorenheit, sondern eine Haltung. Es geht in Pajaks Manifest nicht um Forderungen oder Erwartungen, seien sie nun politischer oder künstlerischer Natur. Vielmehr verbindet es Essays mit Erinnerungen, Reflexionen mit Reisejournalen und Lektüre mit Lebenserfahrung. Wer es einmal zur Hand nimmt, den lässt der Fluss der Gedanken so schnell nicht wieder los.
Die grossen Manifeste des Industriezeitalters, das kommunistische ebenso wie das dadaistische und das surrealistische, streift Pajak mit der Geste des Träumers und des Wanderers, der, wenn er auch mal vom ­Regen in die Traufe tritt, seinen Weg nicht aus den Augen verliert. Ein wichtiger Begleiter auf diesem Weg ist ihm der Schriftsteller, ­Kritiker und Philosoph Walter Benjamin.
Für Pajak ist er ein «scharfsinniger Schürfer im Wörterschorf», unablässig auf der Suche nach einer neuen Theorie. ­Einer, der seine Laufbahn mit «Dumm­heiten für Rundfunk und Presse» beginnt und sich abseits der grossen künstlerischen Avant­garden bewegt. Auch Pajak lässt sich nicht von Moden leiten, sondern von ­seiner Überzeugung und nimmt in Kauf, dass seine Kunst lange als «nicht kommerziell genug» gilt.
«Ich träume von einem Buch, das Wörter und Bilder vereint», schreibt er und denkt dabei weniger an einen Comic als an ein eige­nes Genre, in dem Prosa und Zeichnungen ihre eigene Rolle spielen. Pajak sieht sich nicht als «Graphic Novelist»: Er erzählt nicht mit Bildersequenzen und illustriert auch keine Geschichten mit Bildern. Text und Bild sind ihm gleichwertige Ausdrucksmittel.
Was er nicht mit Texten sagen kann, drückt er mit Bildern aus. Und nicht immer sind sie inhaltlich direkt miteinander verbunden – und genau diese Spannung bereitet intellektuellen Genuss: Wie auf einer Entdeckungsreise findet der Leser selbst die Verbindungen, die sich zwischen Bildern und Text auftun, und was er findet, ist letztlich eine Ruhe in der Dauer, wie wenn eine lang gehegte Sehnsucht zu einem ­verdienten Ende gelangt.

Florian Meyer

Ein Interview mit Frédéric Pajak sowie weitere Artikel zum Thema Comic und Graphic Novel finden sich im Magazin «Literarischer Monat», Ausgabe 12, Juli 2013. www.literarischermonat.ch/archiv/heft/boom-der-bilder

Frédéric Pajak: «Ungewisses Manifest 1».
Edition Clandestin, 192 S., Hardcover, s/w,
EUR 35 / CHF 39.—

Marian Bodenstein & Joe Copplestone: Sleep Stalk

Sleep Stalk

Interessiert an Geheimgesellschaften, Verschwörungstheorien, Avantgarde-Kunst-Parties und anderen Absurditäten wie z.B. einer Prostituierten, in deren Körper – genauer: ihren Genitalien – Perlen wachsen, dann ist das Album von Marian Bodenstein (Zeichnerin) und Joe Copplestone (Schreiber) genau das Richtige. Sleep Stalk ist ein albtraumhafter Kunstcomic, der an die frühen Werke von Clowes, Burns und Sala erinnert und perfekt in eine Ausgabe von RAW oder Blab! gepasst hätte. Ein grosses Vergnügen!

Mark David Nevins

Marian Bodenstein & Joe Copplestone: «Sleep Stalk».
Limitierte Ausgabe von 50 Exemplaren;
erhältlich bei fuzzgun.bigcartel.com,
24 S., in Risograph-Technik gedruckt,
s/w und rosa, EUR 15

 

Kurz und Gut

Von Christian Meyer

Rein in die Fluten!

David Prudhomme & Pascal Rabaté: «Rein in die Fluten!».
Reprodukt, 120 S., Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 35.90

Zunächst wähnt man sich bei Rein in die ­Fluten! von David Prudhomme und Pascal Rabaté in einer etwas beliebigen Abwandlung von Tatis Die Ferien des Monsieur Hulot in Comic-Form. Aber beim Lesen fällt zunehmend auf, wie raffiniert dieser Bilderreigen komponiert ist. Vergleichbar mit einem Film, der in einer einzigen Plansequenz gedreht ist, hangelt sich die Geschichte von Protagonist zu Protagonist, werden Hintergründe zu Vordergründen, die wiederum an Ereignisse am Seitenrand weitergereicht werden. Und auch zurückliegende Momente und Figuren tauchen hier und da an anderer Stelle wieder auf. Das ist nicht nur virtuos, sondern macht zunehmend grossen Spass.

 

Post aus dem Jenseits

Éric Liberge: «Post aus dem Jenseits».
Splitter Verlag, 152 S., Hardcover, s/w,
EUR 29,80 / CHF 41.90

Mit Post aus dem Jenseits hat Éric ­Liberge einen Prolog zu seinem fantastischen Vierbän­der Monsieur Mardi-Gras – ­Unter ­Knochen verfasst. Hier wird auf 150 grossformatigen Seiten erzählt, wie dieses merkwürdige Totenreich mit lebenden Skeletten entstehen und zu einem Ort für
Geheimbünde und geheimnisvolle ­Elixiere, aber auch Besäufnisse und ­Schlägereien werden konnte. Liberge besticht ebenso durch ­Humor wie durch philosophische Gedanken. Und nicht zuletzt begeistert er mit ­seinen grossartigen, unglaublich ­detailreichen Schwarzweiss-Zeichnungen.

 

Sartre / Zátopek

Mathilde Ramadier & Anaïs Depommier: «Sartre».
Egmont, 160 S., Hardcover, farbig,
EUR 24,99 / CHF 35.90

 

Jan Novák & Jaromír 99: «Zátopek».
Voland & Quist,
300 S., Softcover, farbig,
EUR 24,90 / CHF 35.90

Mathilde Ramadier und Anaïs Depommier erzählen aus dem Leben von Sartre. Es ist wohl nicht die leichteste Aufgabe, einen Denker dieses Kalibers zu porträtieren. Grafisch und erzählerisch halten sie sich an einen konventionellen Stil: In schönen Farbzeichnungen erzählen sie ihre Chronologie des Literaten und Philosophen. Allerdings gelingt es ihnen vor allem in den langen Dialog­szenen, das Denken von Sarte, de ­Beauvoir und den Umstehenden aufzuzeigen, auch wenn vieles nur angerissen wird und Vorkennt­nisse nicht schaden, um alle Anspielungen zu verstehen.

Nicht annähernd so bekannt wie Sartre ist Zátopek. Der tschechische Läufer Emil Zátopek hat mit seiner ungewöhnlichen Trainingsmethode und seinem erstaunlichen Ehrgeiz, an die Grenze zu gehen, die Wettkämpfe der 1950er-Jahre beherrscht. Jan Novák und Jaromír 99 (Alois Nebel) haben dem Sportler mit ihrer aussergewöhnlich gestalteten, an kommunistische Propaganda-­Kunst erinnernden Biographie ein Denkmal gesetzt, das in Stationen von ­seinem Leben erzählt und nebenbei auch den politischen und sozialen Rahmen in dem Ostblockland skizziert.

 

Running Girl / Süsse Zitronen

Yi Luo: «Running Girl».
Reprodukt, 32 S., Softcover, farbig,
EUR 10 / CHF 14.90

 

Burcu Türker: «Süsse Zitronen».
Jaja Verlag, 72 S., Softcover, farbig,
EUR 14 / CHF 19.40

Bei den zwei folgenden Neuerscheinungen handelt es sich um kleinere Hefte von jungen Künstlerinnen: Yi Luo erzählt in Running Girl auf nur 30 Seiten von ihren Schwierigkeiten als Studentin in Deutschland: Sprach- und Kulturbarriere, Rassismus, Heimweh und Liebeskummer setzen der jungen Frau schwer zu – aber sie muss sich dem Leben stellen. Luo erzählt knapp, aber präzise und berührend, und ihre Aquarellzeichnungen sind beeindruckend. Burcu Türker scheint ihre dünnstrichigen Zeichnungen mit Farbflächen förmlich zu attackieren. Die Autorin steht ihren überwältigenden Gefühlen ähnlich hilflos gegenüber wie die dünnen Striche den Farbflächen, wenn sie nach dem Tod der Mutter ihr Selbstbewusstsein als Künstlerin verlässt. Süsse Zitronen ringt mit der Verzweiflung, ist aber zugleich eine ­Liebeserklärung an die früh verstorbene Mutter.

 

Wege aus dem Viertel

Gabi Beltrán & Bartolomé Seguí: «Wege aus dem Viertel».
Avant, 160 S., Hardcover, farbig,
EUR 19,95 / CHF 28.90

Mit Wege aus dem Viertel erscheint Gabi Beltráns Sequel zu Geschichten aus dem Viertel. Beltrán erzählte dort von seiner schwierigen Kindheit und Jugend in einem Palma de Mallorca, das so gar nichts mit unseren touristisch geprägten Vorstellungen gemein hat. Zwischen dysfunktionaler Familie und kleinkrimineller Clique ist auch Beltráns im neuen Band geschil­derte ­Jugend nicht gerade gesegnet mit ­Liebe und Geborgenheit. Bartolomé Seguí erweckt die ­Erinnerungen in gedeckten Farben
zum Leben.

 

Wir sehen uns dort oben

Christian de Metter & Pierre Lemaitre: «Wir sehen uns dort oben».
Splitter Verlag, 176 S., Hardcover, farbig,
EUR 29,80 / CHF 42.90

Christian de Metter hat Pierre Lemaitres Roman Wir sehen uns dort oben in aufwendigen Farb … (ja, man muss schon sagen) -gemälden umgesetzt. Schikaniert von ihrem Vorgesetzten, kehren zwei französische Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg mittellos und versehrt heim. Doch die Wege der drei kreuzen sich erneut. De Metter erzählt dicht und dringlich von den Nöten in der Nachkriegszeit und der Skrupellosigkeit der Kriegsgewinnler. Auch wenn der überdeutliche Antagonist das Thema vereinfacht, durchdringt die Tragik des Krieges die Bilder.

 

Die Favoritin

Matthias Lehmann: «Die Favoritin».
Carlsen, 160 S., Hardcover, s/w,
EUR 17,99 / CHF 26.90

Ein klassisches Horror-Märchen-­Szenario: kleines Mädchen, böse Grossmutter, ­altes Schloss! Dazwischen ein verweichlichter, versoffener Opa, der nicht einschreitet. Constance lebt in ständiger Anspannung – psychischer und physischer Missbrauch sind in diesem Landsitz an der Tagesordnung. Der Franzose Matthias Lehmann erzählt seine Geschichte in Die Favoritin in ­einem merkwürdigen Tonfall zwischen ­Funny und Gruselgeschichte, und auch die kontrastreichen Schwarzweiss-­Zeichnungen spiegeln diesen irritierenden, aber nicht uninteressanten Spagat.

Biografien

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Pierre Thomé
*1960, arbeitet seit 2002 als Leiter der Studien­richtung Illustration an der Hochschule Luzern. Zuvor arbeitete er als freischaffender Illustrator für Magazine, Zeitschriften, Kinder-, Sach- und Lehrbücher, Film- und Animationsprojekte. Als Herausgeber hat er 2015 Zeichner als Reporter, eine Anthologie über Reportage-Comics veröffentlicht. ­Pierre Thomé ist Mitbegründer von Strapazin und hat das erste Cover gezeichnet.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 7 (1986)
www.strapazin.ch/pierre_thome

Andrea Caprez & Christoph Schuler
Andrea Caprez, *1954, arbeitet als Illustrator, Comic-Zeichner und Musiker im ­Atelier Strapazin in Zürich. Er hat Buch- und CD-Umschläge, Kinderbücher, Trickfilme sowie Computerspiele gestaltet. Zusammen mit dem Texter Christoph Schuler hat ­Caprez Luna Hotel, Paare, Saratz und Out of ­Somalia publiziert.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 2 (1984)
www.andreacaprez.ch

Christoph Schuler, *1954, arbeitet in Zürich als Journalist, Comic-Autor sowie Übersetzer von Graphic Novels aus dem Französischen und Englischen. Er war auch schon als Buchhändler, Putzmann, Schauspieler oder Bauhandlanger tätig. Er ist Mitbegründer von verschiedensten Untergrundmagazinen wie das sagenhafte Stilett aus den Achtzigerjahren. Er hat mit Andrea Caprez als Zeichner mehrere Bücher publiziert. ­Christoph Schuler ist seit Anfang an Herausgeber von Strapazin.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 2 (1984)

Philip Schaufelberger
*1981, arbeitet als Illustrator, Layout- und Storyboard-Zeichner in Bern. Mit seinem Projekt über Frauen im Rotlichtmilieu in ­Zürich hat Schaufelberger 2014 das erste Comic­Stipendium der Städte Bern, Luzern, St. Gallen, Winterthur und Zürich gewonnen.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 111 (2013)
www.daslip.ch

Thomas Ott
*1966, arbeitet in Zürich als Comic-Zeichner und Illustrator und unterrichtet an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Von 1989 bis 1998 lebte er in Paris. Er ist u. a. Autor von Cinema Panopticum, Dark ­Country und The Number 73304-23-4153-6-96-8. Seine Bücher sind inzwischen in über zehn ­Ländern erschienen.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 2 (1984)
www.tott.ch

Kati Rickenbach
*1980, arbeitet als Comic-Zeichnerin seit 2005 im Strapazin-Atelier in Zürich. Sie zeichnet für zahlreiche Zeitungen und Magazine, bestreitet ­Live-Zeichenauftritte und versucht sich seit 2007 an einem Comic-­Tagebuch. 2015 ist ihr neuestes Buch ­Neuland erschienen. Zurzeit arbeitet sie an einem Trickfilm über den Reformator ­Huldrych Zwingli. Kati Rickenbach ist seit 2008 Herausgeberin von Strapazin.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 83 (2006)
www.katirickenbach.ch

Barbara Brunner
*1981, arbeitet im Atelier Strapazin, wo sie mit
Franziska Meyer das Büro für Animation & ­Illustration Brunner & Meyer leitet. Als Freelancerin hat sie für Institutionen und Firmen in Deutschland und in der Schweiz gearbeitet. Barbaras aktuellstes nimationsprojekt heisst Rapunzel.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 124 (2016)
www.brunnermeyer.ch

Christophe Badoux
*1964, arbeitet als Illustrator und Comic-Zeichner im Atelier Strapazin in Zürich. Die Comics von Stan the Hooligan, nach Szena­rien von Marcel Gamma erscheinen regelmässig im Internet. Krank geschrieben heisst seine letzte Publikation. Badoux zeichnet für die Schweizerische Ärztezeitung, die Schweizer Zeitschrift Velojournal und ist Dozent für Illustration.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 47 (1997)
www.strapazin.ch/badoux

Andreas Gefe
*1966, arbeitet in Zürich als Illustrator, ­Maler und Comic-Zeichner. Er zeichnet Comics für Greenpeace, Geo und Geo-­Energie Schweiz. Sein letztes Buch, Zwei mal zwei (mit Autor Charles Lewinsky), erschien in der Edition Moderne. Gefe ist Mitbegründer des Fumetto Comix-Festival in Luzern.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 30 (1993)
www.gefe.ch

Anna Sommer
*1968, arbeitet als Illustratorin und Comic-Zeichnerin in Zürich. Sie hat u.a. für NZZ ­Folio, Die Zeit und Libération illustriert und mit dem Kinderarzt Michael Grotzer drei Kinder­bücher gemacht. Ihre letzte Publikation Les grandes filles ist 2015 im Verlag Les cahiers dessinées in Paris erschienen.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 36 (1994)
www.annasommer.ch

Jean Christophe Menu
*1964, arbeitet in Lanas in Südfrankreich. Seit seiner Jugend ist er vom Medium Comics fasziniert. 1990 gründete Menu mit anderen französischen Autoren den Auto­renverlag L’Association. Heute ist er als Comic-­Autor und Publizist tätig. Seine ­letzte Publikation Croquettes ist 2016 bei Fluide Glacial erschienen.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 37 (1994)

Nicolas Mahler
*1969, arbeitet in Wien und zeichnet für österreichische, deutsche und schweizerische Zeitungen und Zeitschriften. Mahler ist der gefeierte Autor von Flaschko – der Mann in der Heizdecke und Planet ­Kratochvil sowie Comic-Adaptationen von Der Mann ohne ­Eigenschaften von Robert Musil, Alte ­Meister von Thomas Bernhard und diversen andern Büchern.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 55 (1999)
www.mahlermuseum.com

Peter Bäder
*1957, arbeitet als Graphic- und Game Designer, seltener als Comic-Zeichner, im Atelier Strapazin und ist Dozent für Illus­tration und digitale Medien. Peter Bäder gehört seit Anfang an zum Herausgeberteam von Strapazin.
Erste Publikation in Strapazin: Nr. 4 (1985)
www.strapazin.ch/bildwerk