MAGAZIN

Horizonte einer verkehrten Welt

Alles laufe irgendwie verkehrt, sagt Yee Chuen, die in Chihois Geschichte über Trauer und Depression aus England nach Hongkong zurückkehrt. Sie spricht damit ein Problem an, unter dem viele Grossstadtbewohner leiden, deren Umgebung sich schneller verändert, als sie zu begreifen im Stande sind.
Von den Ambivalenzen hypermoderner Lebenswelten in den Metropolen berichtet der Hongkong-Chinese Chihoi in seinen Kurzgeschichten, die der Genfer Verlag Atrabile unter dem Titel »À l’horizon« herausgegeben hat. Welche Art von Begräbnis organisiert man, wenn der Vater konfessionslos gestorben ist, seine Frau jedoch Katholikin und die Eltern Buddhisten waren? Wie liebt man einen verstorbenen Lebenspartner in einer Welt, in der die U-Bahnen und Strassen zwar überfüllt sind, viele Menschen aber einsam leben?
Chihoi, der schon mehrmals Gast am Comix-Festival Fumetto in Luzern war, antwortet auf die Widersprüche der Welt mit überraschenden Bildern. An einer Stelle wird ein Hochhaus in der Horizontalen ausgebreitet, um Rücksicht auf Menschen mit Höhenangst zu nehmen. In einer anderen Geschichte wird ein Stadtbewohner aus seiner »Zelle« befreit, nur um wie ein Hund in die Stadt zurückzukrabbeln.
Viele Stimmungsbilder korrespondieren mit dem Wandel des Lebens in Hongkong seit der Wiederangliederung an China. Zum einen nimmt der politische Druck auf die Meinungsfreiheit zu, zum anderen ist der Lebensstil zu hundert Prozent kapitalistisch, wie Chihoi in einem auf der Website des Comix-Festivals Fumetto veröffentlichten Interview darlegt: »Wir zahlen den Preis der Freiheit; wir arbeiten zu viel, schlafen zu wenig und machen eine Arbeit, die wir nicht mögen.«
Die kommunistische Partei und die Konzerne beschränken die Freiheit der Märkte, indem sie Stellen schaffen, die überkomplex oder sterbenslangweilig sind. Am deutlichsten sagt dies einer von Chihois Protagonisten, der als Korrektor bei einer Zeitung arbeitet: »Man muss es positiv sehen, die Fehler anderer korrigieren und berichtigen zu dürfen.« Das könnte so auch ein Parteifunktionär gesagt haben.
Trotz ihrer Rätselhaftigkeit bleiben Chihois Geschichten allemal verständlich, weil sie, wie Strapazin-Mitherausgeber Christian Gasser im Vorwort sowie in den Beiträgen zum Fumetto 2010 darlegt, von einer »universalen inneren Intimität« getragen werden.

Florian Meyer

Chihoi: »À l’horizon«.
Editions Atrabile (collection fiel), 2008, 120 Seiten, Softcover, s/w,
Euro 16.— / sFr. 26.50.—

Interview von Christian Gasser mit Chihoi.
Podcast für das Internationale Comix-Festival Fumetto 2010:
http://www.fumetto.ch/

 

 

Cover-Illustrationen von Liu Yan 刘燕


»À l’horizon«
 

Leben und Sterben mit Mao

China in den 1950er bis 1970er Jahren: Die Kommunisten haben unter der Führung von Mao Zedong die Macht übernommen und formen das Land unerbittlich nach ihren Vorstellungen. Die Schulen spielen bei der Verbreitung der maoistischen Doktrin eine zentrale Rolle. Die Person und die Parolen Maos werden zu den Wegweisern einer Generation, die darauf getrimmt wird, das »alte China« aus dem Weg zu räumen und Platz zu schaffen für den «Grossen Sprung nach vorne». Kulmination dieser Entwicklung ist die »Proletarische Kulturrevolution«, in der Jugendliche systematisch Parteikader, Lehrer, Gewerbe und Eltern überwachen und «Rechtsabweichler» denunzieren.
Die Phase von der Machtergreifung bis zum Tod Maos schildern Li Kunwu (Zeichnung) und P. Ôtié (Szenario) im ersten Band ihrer Serie über das chinesische Leben. Die Mao-Jahre werden dabei aus der Perspektive des jungen Xiao Li aufgerollt. Dieser lebt als Sohn des Chefs des Parteibüros in Kunming, der Hauptstadt der südlichen Provinz Yunnan. Seine Kindheit und die Schulzeit sind von Maos Kampagnen geprägt: Sei es, dass Familien ihr Hausmetall abliefern, um die Stahlproduktion anzukurbeln, sei es, dass Kinder die Rattenplage bekämpfen oder dass Jugendliche anhand des »Kleinen Roten Buchs« (»Mao-Bibel«) die Erwachsenen disziplinieren – der Alltag wird ganz auf die Glaubenssätze der Partei getrimmt. Xiao Lis Weltbild erhält erst dann erste Risse, als sein Vater, ein treuer Parteikader, ebenfalls denunziert und verhaftet wird.
»Une vie chinoise« lehnt sich an die Biographie Li Kunwus an, der seit über 30 Jahren als ComicZeichner arbeitet und sich nach Jahren als Zeichner propagandistischer Comics dem »ethnographischen Comic« im Vielvölkerstaat Yunnan zugewandt hat. P. Ôtie und Li Kunwu verzichten auf eine Schwarzbuch-artige Abrechnung mit dem Maoismus. Sie blenden die Schattenseiten von Maos Regime nicht aus, ihre Erzählung rückt aber den Menschen, seine Hoffnungen und seine Enttäuschungen in den Mittelpunkt. Plausibel zeichnen sie nach, wie der Glaube an das Gute, an den Fortschritt und die Grösse Chinas kippt und die Menschen zu Handlangern der politischen Unterdrückung und Verfolgung macht. Allein Li Kunwus anschauliche und variantenreiche Zeichnungen machen aus dem Comic ein regelrechtes Schaufenster des Alltags in der Mao-Zeit.

Florian Meyer

P. Ôtié, Li Kunwu: »Une vie chinoise. 1. Le temps du père«.
Editions Kana (Made in), 2009, 254 Seiten, Softcover, s/w,
Euro 19.95 / sFr. 38.20

Der zweite Band schildert die Regierungsjahre der »Zweiten Führungsgeneration« um Deng Xiaoping:

P. Ôtié, Li Kunwu: »Une vie chinoise. 2. Le temps du Parti«.
Editions Kana (Made in), 2009, 240 Seiten, Soft­cover, s/w,
Euro 19.95 / sFr. 37.10

 

 

 


»Une vie chinoise«

 

Kulturrevolution

Die Kluft zwischen der jugendlichen Belle Xuan Yang und ihren Eltern, die in Amerika ein traditionelles chinesisches Leben zu führen versuchen, während ihre Tochter sich der neuen Welt zugewandt hat, ist der Ausgangspunkt des autobiografischen Graphic-Novel-Debüts der Kinderbuchautorin Yang. Fast schon erleichtert scheinen die Eltern, als Belle nach dem Studium ins Elternhaus zurückkehren muss, weil ein Ex-Freund sie verfolgt und bedroht. In der Isolation sieht sie Parallelen ihrer persönlichen und der Familiengeschichte ihres Vaters. Während sie selbst von einem Menschen, dem sie vertraute, enttäuscht worden ist, hat ihr Grossvater eine ähnlich bittere Erfahrung mit einem seiner Söhne gemacht, der ihn in der Not zurückgewiesen und vor die Tür gesetzt hatte.
Weil Belle ans Haus ihrer Eltern gefesselt ist, kommt es zu einer kulturellen Annäherung in Form von Familiengesprächen über die Vergangenheit, die Rolle und Bedeutung von Familie und das eigene Verhältnis zur chinesischen Kultur und Geschichte. Und Belle beginnt, die Geschichte ihres Vaters chronologisch in vorsichtigen Schwarzweiss-Zeichnungen festzuhalten, beginnend mit den 1940er Jahren, als die Familie Yang erstmals seit Generationen unter einem Dach vereint in der Mandschurei im Nordosten Chinas lebte, und endend mit dem Tod des Grossvaters 1960.
Sie wolle denen eine Stimme geben, die sonst vergessen würden, schreibt Belle Yang an einer Stelle. Doch leider sind es viele, die sie vor dem Vergessen erretten will. So erzählt sie die Geschichte des Grossvaters, seiner vier Söhne, der angeheirateten Frauen und auch noch die deren Kinder, beschreibt die Flucht des Vaters nach Amerika, ihre eigenen Reisen nach China, und all dies eingebettet in die »grosse Geschichte« des zwanzigsten Jahrhunderts – der Zweite Weltkrieg ist ebenso präsent wie der Übergang zum kommunistischen China. Kurz: Das Projekt platzt aus allen Nähten und der Leser verliert spätestens nach dem zweiten Neffen des dritten Onkels den Faden und die Geduld. Was schade ist, denn der Comic enthält viel Erzählenswertes. Besonders aufschlussreich ist er immer dann, wenn es um die autoritären Strukturen chinesischer Familien geht, die bis heute überlebt haben, und sich etwa im Verhältnis zwischen Belle Yang und ihrem Vater zeigen, das von absolutem Gehorsam Belles geprägt ist. Nur selten wird die Autorität des Vaters in ironischen Zeichnungen seiner Person gebrochen, und in diesen Momenten der Ambivalenz funktioniert die Grundfrage des Comics nach dem Leben zwischen zwei Kulturen, die beide gleichberechtigt das eigene Leben geformt haben, doch leider bleiben diese Momente in »Forget Sorrow« allzu selten.

Jonas Engelmann

Belle Yang: »Forget Sorrow, An Ancestral Tale«.
Norton, New York 2010, 250 S., Hardcover, s/w, $ 23.95

 

 

 


»Forget Sorrow, An Ancestral Tale«
 

Verwunderliche Reaktionen

Grosse Aufregung herrscht bei den Garniers: Das Verhältnis zwischen Oma und Opa ist eh schon höchst angespannt, da hat eine Blut weinende Madonna gerade noch gefehlt. Als die religiöse Oma Emilie von einer Wallfahrt zurückkehrt, verschanzt sich Opa Edouard demonstrativ in seiner Gartenlaube. Der überzeugte Kommunist verachtet den Religionsfimmel seiner Frau, und sie verachtet seinen politischen Dogmatismus. Zu leiden haben darunter vor allem die Tochter, der Schwiegersohn und die Enkelkinder, mit denen sie unter einem Dach wohnen. Als Emilie ihre neu erworbene Plastikmadonna auf dem Fernseher platziert, ist das für Edouard schon ein Scheidungsgrund. Doch als die Madonna dann auch noch anfängt, Blut zu weinen, bleibt der Streit nicht in den vier Wänden der Garniers – schnell ist die gesamte Kleinstadt in helle Aufregung versetzt.
David Prudhomme und Pascal Rabaté zelebrieren den Irrsinn jedes Dogmatismus in ihrer Komödie in gedeckt-farbigen Zeichnungen mit dünnem, beschwingtem Strich. Dabei erinnern sie an die Grotesken eines Ephraim Kishon: Die ausserordentlichen Umstände lassen die latenten Probleme der Grossfamilie aufbrechen. An ihrer novellenartigen Geschichte überzeugt vor allem die genaue psychologische Figurenzeichnung und die komische Schilderung des Alltsagslebens dieser Familie – von den störrischen und streitlustigen Alten über die sympathischen Eltern bis zu den Enkeln mit ihren kleinen Rangeleien. Auch das Kleinstadtleben wird amüsant karikiert: Wie der religiöse Wahn nimmt auch der bestens funktionierende Klatsch und Tratsch unberechenbare Formen an. Am Ende will die Familie den Katalysator der dramatischen Ereignisse nur noch loswerden. Ein paar Wunder scheinen sich zwar tatsächlich ereignet zu haben, aber ob das nun an der Madonna liegt, oder ob auch etwas anderes die Ereignisse hätte ins Rollen bringen können – das lassen Prudhomme und Rabaté angenehm im Unklaren.

Christian Meyer

David Prudhomme & Pascal RabatE: »Die Plastikmadonna«.
Carlsen, 121 S., Hardcover, farbig, Euro 18,90 / sFr. 34.50

 

 

 


»Die Plastikmadonna«
 

Zauberhaft!

Anne Marie Fleming, eine kanadische Dokumentarfilmerin, hat 2003 mit »The Magical Life of Long Tack Sam« einen Film und neu einen sehr aussergewöhnlichen dokumentarischen Comic geschaffen, in dem sie höchst lebendig und detailreich die Lebensgeschichte ihres Urgrossvaters, des einstmals berühmten chinesischen Zauberers Long Tack Sam erzählt und dem Leser gleichzeitig einen Überblick über Sozialgeschichte und populäre Kultur des 20. Jahrhunderts verschafft.
Long Tack Sam wurde 1885 im Norden Chinas geboren, verbrachte den Rest seines Lebens aber rund um den Globus, meist auf Tournee mit seiner Truppe, in der auch seine Frau und seine zwei Töchter auftraten. Wo immer sie hinkamen, wurden sie in den höchsten Tönen gelobt, sie traten zusammen mit Berühmtheiten wie den Marx Brothers und Harry Houdini auf, von dem man sagt, er habe Sam einige Tricks abgeschaut. Andererseits hatten Sam und seine Familie oft unter Armut, Rassismus und anderen Schwierigkeiten zu leiden – die Wirtschaftskrise der Zwanzigerjahre, die japanische Invasion Chinas, der Nazi-Faschismus, die chinesische Kulturrevolution und dann die wachsende Popularität des Kinos machten den Vaudeville-Artisten zu schaffen.
Anne Marie Fleming wollte herausfinden, warum Long Tack Sam – im Gegensatz zu anderen Artisten dieser Zeit – bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist. Ihr Buch ist eine überwältigende Sammlung von Fotografien, Film Stills, alten Plakaten, Erzählungen, und im Ligne-Claire-Stil gehaltenen Comics (gezeichnet von Julian Lawrence), die sich mit Sams frühen Lebensjahren beschäftigen. Aber es ist auch eine verblüffende Arbeit über die Herausforderungen, die sich beim Verfassen einer akkuraten Biografie stellen, über die Rätsel der menschlichen Identität, über Selbstdarstellung, und über die Palimpseste, die uns die Geschichte hinterlässt.
Manchmal ertönt die Stimme der Autorin vielleicht etwas gar laut, doch abgesehen davon ist »The Magical Life of Long Tack Sam« ein höchst vergnügliches und intelligent gemachtes Werk, das dem Leser ein paar interessante Fragen stellt, etwa, wie eines Menschen »wirkliche« Lebensgeschichte aussieht, und wie man all deren widersprüchliche Fragmente verbindet, oder auch, warum sich die Geschichte an gewisse Menschen erinnert, an andere, viel interessantere, aber nicht. Und welche unglaublichen Geschichten sind wohl in unseren eigenen Stammbäumen verborgen?

Mark David Nevins

Anne Marie Fleming: »The Magical Life of Long Tack Sam«.
Penguin Riverhead Books 2007, 170 Seiten, farbig.

Weitere Informationen über Anne Marie Fleming: www.sleepydogfilms.com

 

 

 


»The Magical Life of Long Tack Sam«
 

Veränderungen

Irgendwo in Osteuropa, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Teppichknüpfer Mendleman begibt sich im Morgengrauen zum Markt, verkauft dort seine Teppiche und geht sich dann betrinken, um bei Sonnenaufgang wieder zu seinem Haus zurückzukehren. Auf diese Handlung lässt sich James Sturms neuestes Werk zusammenfassen, das in düsteren, kargen Bildern das eintönige Leben des Protagonisten schildert. Und doch werden in diesen 24 Stunden im Leben des jüdischen Teppichknüpfers Mendleman zentrale Themen des 20. Jahrhunderts gestreift: Migration, Antisemitismus, die Entfaltung des Kapitalismus.
Das Leben Mendlemans befindet sich in einer Umbruchphase, seine Frau – sie ist krank – erwartet ein Kind, und er fragt sich auf dem Weg zum Markt, ob er es verantworten kann, in diese gewalttätige und unsichere Welt ein Kind zu setzen. Am Markt angekommen, wird aus der persönlichen Umbruchsituation eine gesellschaftliche: Als er gemeinsam mit zwei Kollegen den Kaufmann Finkler aufsuchen will, werden sie vom neuen Inhaber des Ladens zurückgewiesen. »What a difference one man can make«, denkt Mendleman, doch der neue Besitzer des Ladens, der statt der Qualität der Waren nur den eigenen Profit im Kopf hat, ist mehr als nur eine personelle Veränderung, er ist Symptom einer neuen Zeit – die industrielle Revolution hat die osteuropäische Provinz erreicht und bringt das Leben der traditionellen Handwerker ins Wanken. Mendleman sieht bald keine andere Möglichkeit mehr, als die Teppiche einem Grosshändler zu einem Spottpreis zu überlassen. Auf dem Heimweg betrinkt er sich mit Fremden und wird schliesslich von besorgten Nachbarn unweit seines Hauses schlafend aufgefunden; zumindest die Schutz bietenden Strukturen des Schtetls sind noch intakt. Jedoch entlässt Sturm den Leser in einen Moment des Morgengrauens, in dem sich andeutet, dass auch diese Sicherheit nicht von Dauer sein wird. (Die Folgen gesellschaftlicher Veränderungen, die Migration osteuropäischer Juden nach Amerika, hat Sturm in seinem vorherigen Album »The Golem’s Mighty Swing« untersucht.)
»Market Day« kann aber auch als eine Parabel auf die Situation des Künstlers, gefangen zwischen dem eigenen Anspruch und den Zwängen des Marktes, gelesen werden. Immer wieder reflektiert Mendleman in inneren Monologen diese Widersprüche und immer wieder verwandeln sich die Panels in Teppichmuster, verschwimmen Alltag, Wahrnehmung und Kunst zu einer grossartigen Gesamtkomposition – wie auch »Market Day« selber eine ist.

Jonas Engelmann

James Sturm: »Market Day«.
Drawn & Quarterly, Montreal 2010, 96S., Hardcover, farbig, $ 21.95

 

 

 


»Market Day«
 

24 Stunden der Leidenschaft

»Rembetiko« – schon der Name klingt nach Musik und Sehnsucht. Tatsächlich ist der Rembetiko – wie der amerikanische Blues, der argentinische Tango oder der portugiesische Fado – Musikstil und Lebensform in einem. Entstanden ist er in den 1920er-Jahren in den Hafenvierteln von Piräus, Athen und Thessaloniki als die Musik der »Rembetes«, der griechischstämmigen Flüchtlinge, die 1922, nachdem die griechischen Träume eines neuen Grossreichs durch die Niederlage bei Smyrna besiegelt wurden, Kleinasien verlassen und nach Griechenland auswandern mussten.
Der Rembetiko ist ein hypnotischer Gesang, der die Musik des Okzidents und des Orients vereint, und von den Sorgen, Freuden und Hoffnungen der einfachen Leute berichtet. »Wir Rembetes waren die kleinen Kraken aus der Unterwelt, mit viel schwarzer Seele«, erinnert sich einer der Musiker in der Comic-Novelle, die der Franzose David Prudhomme dem Rembetiko gewidmet hat.
Prudhomme beginnt seine Erzählung im Jahr 1936 mit der Haftentlassung des einflussreichen Rembetes Markos Vamvakaris: Er folgt den insgesamt fünf Musikern während 24 Stunden und zeigt ihre Auseinandersetzungen mit der Diktatur, der Polizei, der Drogensucht, der Liebe, der Kunst und der Musikindustrie. Dabei erweisen sich die Rembetes als leidenschaftliche Genies und Vagabunden, die mit dem faschistischen Programm des griechischen Diktators Ioannis Metaxas in Konflikt geraten.
»Rembetiko« ist kein politischer Comic, sondern eine Hymne auf die Künstler, die sich kompromisslos der Musik verschreiben, ohne irgendwelche Konzessionen an die Politik oder die Schallplattenindustrie zu machen.
Mit satten, unaufdringlichen Farbtönen und einem eleganten Federstrich zeichnet Prudhomme ein Stimmungsbild, das einen über den Faschismus nachdenken lässt und die Neugierde für einen Musikstil weckt, der nicht im Mittelpunkt der Weltmusik steht.

Florian Meyer

David Prudhomme: »Rembetiko«.
Reprodukt, 2010, 104 Seiten, Softcover, farbig, Euro 20.- / sFr. 34.-

Weitere Informationen finden sich im dokumentarischen Blog, den David Prudhomme zu »Rembetiko« verfasst hat: http://bderebetiko.blogspot.com/

 

 

 

 

Paris noir

Gleich mit drei Bänden hat Schreiber & Leser sein neues, auf Krimis spezialisiertes Sublabel Schreiber & Leser Noir gestartet. Einer davon ist «Die lange Nacht von Saint Germain des Prés», eine Adaption eines Romans aus der Reihe um den Privatdetektiv Nestor Burma des französischen Schriftstellers Léo Malet. Fünf der insgesamt 29 Nestor-Burma-Romane wurden bereits von Jacques Tardi als Comic umgesetzt (auf Deutsch bei Edition Moderne erschienen), seit 2005 wird die Serie von Emmanuel Moynot mit Tardis Figuren fortgesetzt. «Die lange Nacht von Saint Germain des Prés» ist der erste von Moynot gezeichnete Band, der auf Deutsch erschienen ist.
Nestor Burma verkörpert den klassischen Typus des Privatdetektivs im Stil der Hard-Boiled-Detektive wie Philip Marlowe und Sam Spade. Mit seinem eleganten Auftreten und hintergründigen Humor wirkt er aber wie eine französische Antwort auf die amerikanischen Vorbilder und geht bei seinen Ermittlungen auch weniger raubeinig vor. In «Die lange Nacht von Saint Germain des Prés» soll er eigentlich nur gestohlenen Schmuck für eine Versicherung wieder finden, doch bei den Ermittlungen gerät er schon bald in einen Mordfall. Seine Untersuchungen führen ihn quer durchs 6. Pariser Arrondissement, in Jazzkeller, heruntergekommene Absteigen und die luxuriöse Wohnung eines berühmten Schriftstellers. Lange tappt Burma im Dunkeln, und diverse Ereignisse und Wendungen sorgen dafür, dass der Fall immer undurchsichtiger wird. Durch Recherche und Kombination, aber auch durch Zufälle, Intuition oder Informationen diverser Kontaktleute, gelingt es ihm am Ende aber doch noch, die Teile des Puzzles zusammenzusetzen.
Die Story ist spannend, originell und auch sehr unterhaltsam erzählt, und besonders der Hauptfigur sind immer wieder amüsante Dialoge zu verdanken. Allerdings scheinen einige Passagen stellenweise etwas verkürzt dargestellt zu sein, und in Verbindung mit der schnell nicht mehr überschaubaren Anzahl an Personen verliert man oft den Faden und muss zum hilfreichen Personenverzeichnis am Anfang des Bandes zurückblättern. Auf zeichnerischer Ebene fällt auf, dass sich Moynot nicht nur bei den Figuren, sondern auch bei den Bildkompositionen stark an Tardi orientiert. Wie bei diesem sind die Zeichnungen realistisch und detailreich gehalten, muten altmodisch an und spiegeln, gerade auch aufgrund der Darstellung real existierender Gebäude und Plätze, das Paris der 50er-Jahre wider. Zwar wäre es spannender gewesen, wenn sich Moynot mehr von Tardis Stil gelöst und eine wirklich eigene Note in die Zeichnungen eingebracht hätte, doch kann man ihm dies kaum vorhalten, da die Vorgabe offensichtlich war, eine Serie mit den bereits geschaffenen Figuren ohne grosse Brüche in der Darstellung fortzuführen.

Jan Westenfelder

Léo Malet, Emmanuel Moynot: »Die lange Nacht von Saint Germain des Prés«.
Schreiber & Leser, 80 Seiten, Hardcover, farbig, Euro 18.80 / sFr. 31.90

 

 

 


»Die lange Nacht von Saint Germain des Prés«
 

Kriegstrauma l

Die USA und ihre militärischen Interventionen hinterlassen ihre Spuren auch in den Comics des asiatischen Raumes: Nicht wenigen Manga- oder Manhwa-Autoren dienen die Aktionen der US Army als Inspirationsquelle. Ein bekanntes Beispiel ist »Barfuss durch Hiroshima« (1973), ein Comic, der von den traumatischen Ereignissen nach dem Abwurf der Atombombe berichtet.
Auch zwei weniger bekannte, aber ebenso traumatische Erlebnisse, welche die US-Regierung zu verantworten hat, haben den Weg zum Comic gefunden. »Massacre Au Pont de Noguri« erzählt von der Erschiessung hunderter südkoreanischer Flüchtlinge im Koreakrieg. Der Zeichner Park Kun-Woong hält auf über 600 Seiten das von amerikanischen Militärs am 26. Juli 1950 begangene Massaker fest. Die verwaschenen Aquarelle von Park Kun-Woong wirken wie Poesie in Bildform. Umso krasser der Gegensatz zur brutalen Geschichte, insbesondere zum über 300 Seiten langen Kapitel, welches das viertägige Gemetzel bis ins kleinste Detail beschreibt und illustriert. Ein eigenartiger Mix aus Brutalität und Schönheit entsteht, wenn der Autor abgetrennte Körperteile mit der Kunstfertigkeit eines Kalligrafen darstellt. Die Schönheit der Bilder macht die Geschichte umso ergreifender.

Giovanni Peduto

Park Kun-Woong: »Massacre Au Pont de Noguri«.
Vertige Graphic, 2007, 624 S., Softcover, farbig, Euro 27.–

 

 

 

 

Der Schweiss, das Wasser, das Chlor

Bastien Vivès hat mit »Der Geschmack von Chlor« einen aussergewöhnlichen Comic geschaffen, dessen faszinierende Ruhe und hypnotisierender Rhythmus den Leser in eine andere Welt eintauchen lässt. Kein Wort ist zu viel, keine Geste ist überflüssig, Vivès hat sich in seinem in Grün gehaltenen Comic voll und ganz auf des Wesentliche konzentriert. Wie ein Schwimmsportler, der eine Bahn nach der anderen zieht, um seine Bewegungsabläufe zu perfektionieren, erzählt der Comic-Zeichner in bildreichen Sequenzen und kleinen Variationen die sich wiederholenden Hallenbadbesuche seines Protagonisten. Die Handlung ist schnell geschildert. Ein Jugendlicher erhält von seinem Physiotherapeuten den Tipp, regelmässig schwimmen zu gehen. Im Hallenbad lernt der Unsportliche eine Wettkampfschwimmerin kennen, die sich seiner annimmt und ihn allwöchentlich unterrichtet – beim Jungen schlägt die anfängliche Bewunderung in eine zarte Liebe um. Verdientermassen hat Vivès 2009 in Angoulême für »Der Geschmack von Chlor« den Preis für den besten Nachwuchskünstler erhalten, denn der 1984 in Frankreich geborene Grafiker und Animationsfilmemacher vertraut ganz auf die Erzähl- und Aussagekraft seiner grosszügigen Bildstrecken und charakterisiert mit wenigen Worten und virtuosen Bewegungsstudien das Schwimmbad als einen rituellen Ort. Beim Lesen meint man, das Hallenbad zu riechen, das Chlor, die Feuchtigkeit, den Schweiss und die Shampoos. Man spürt, wie der Protagonist von der Anonymität des Ortes und der gleichzeitigen Intimität mit Unbekannten fasziniert ist. »Der Geruch von Chlor« ist auch die Geschichte über einen jugendlichen Aussenseiter, der noch nicht weiss, wohin ihn sein Weg führt. Ein eindrucksvoller Comic, in den es sich einzutauchen lohnt.

Matthias Schneider

Bastien Vivès: »Der Geschmack von Chlor«.
Reprodukt, 144 S., Softcover, farbig, Euro 18.– / sFr. 27.90

 

 

 


»Der Geschmack von Chlor«
 

Tollkühne Unschuld

Nach ihrem niedlich-schockierenden Album »Jenseits« mit seiner Kombination aus süssen Zeichnungen und grausamem Sozialdarwinismus waren die Erwartungen an Kerascoëts neue Reihe gross. Zwar hat das Künstlerduo Kerascoët, bestehend aus Marie Pommepuy und Sébastien Cosset, für die Serie »Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An« »nur« die in kräftigen Farben gehaltenen Zeichnungen beigesteuert, doch bereits diese verstören mit ihrer Mischung aus Komik und Schrecken. Die Figuren sind einmal freundlich-puppenhaft, ein anderes Mal sehen sie aus wie wild gewordene Bestien. Dieser psychologisch bedingte extreme Wechsel der Physiognomien erinnert an Manga, wenngleich der Zeichenstil natürlich ganz und gar westlich ist.
In den 1930er Jahren muss Blanche in Paris mitansehen, wie ihre Schwester ermordet wird, weil auch sie Zeugin eines Verbrechens wurde. Fortan ist die brave Blanche besessen vom Gedanken, ihre Schwester zu rächen, wofür sich das zarte Mädchen in ein Bordell begeben muss. Dort versucht sie, zwischen SM-Sessions und Kaffeepausen mit den Kolleginnen, die Mörder ihrer Schwester zu finden.
Die Hauptfigur ist in ihrer kecken Naivität äusserst charmant, der Kontrast zum Rotlichtmilieu umso reizvoller. Doch führt dies nicht zu groben Karikaturen, die Psychologie der Figuren bleibt immer nachvollziehbar. Daneben weiss die vom Szenaristen Hubert verfasste Geschichte auch mit Spannungsmomenten und actionreichen Szenen zu fesseln. Eine nahezu perfekte Erzählung, deren Verfilmung wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit ist. Die ersten beiden Bände dieses tollkühnen Thrillers mit seiner liebenswerten Protagonistin sind soeben erschienen, der dritte, in dem Blanches Zukünftiger just am Tag der Verlobung verschwindet, ist bereits für Dezember angekündigt (in Frankreich sind bereits vier Bände erschienen, ein fünfter ist in Vorbereitung).

Christian Meyer

Hubert & Kerascoët: »Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An« 1. & 2. Band.
Reprodukt, je 48 S., Softcover, farbig, Euro 12.- / sFr. 20.90

 

 

 

 

Die fantastischen Vier

Blexbolex hat nach »Leute« ein weiteres preiswürdiges, in Konzeption und Grafik wegweisendes Kinderbuch veröffentlicht. Er beschreitet mit seinen Kinderbüchern neues Terrain, und so finden sich seine Publikationen sowohl in Kinderbuch- als auch in ausgewählten Kunst- und Grafikbuchabteilungen. »Jahreszeiten« ist kein »Kunst-Kinderbuch« für Erwachsene, denn da es keine stringente Narration hat, sondern auf verschiedenen Ebenen zum assoziativen Lesen von Bildern und Begriffen einlädt, sind Kinder begeistert davon. Einerseits kann man über die Verbindung zwischen den einzelnen Bildideen und den dazugehörigen Begriffen rätseln, andererseits inspirieren die Illustrationen und Wörter zu eigenen Geschichten. »Jahreszeiten« erzählt nicht nur eine einzige Geschichte; es sind unzählige, die sich darin verbergen und die es zu entdecken gilt. Erwachsene erfreuen sich sowohl an der spielerischen Erzählweise als auch an der grafischen Fertigkeit des französischen Künstlers, die durch eine virtuose Reduktion und Klarheit in Bild und Farbgebung besticht. Während das mehrfach preisgekrönte »Leute« noch künstlerische Parallelen zur klassischen Ligne Claire sowie zu den russischen Avantgardezeichnern der 30er-Jahre aufweist, wie Vladimir Lebedev oder Kirill Zdanevich, hat Blexbolex bei »Jahreszeiten« seinen Illustrationsstil erneut modifiziert. Überhaupt ist es faszinierend, wie der inzwischen in Leipzig lebende Illustrator stetig seinen Stil verändert, mit neuen Darstellungsformen experimentiert, und dabei dennoch einen starken Wiedererkennungseffekt beibehält. »Jahreszeiten« versammelt Blexbolex’ Assoziationen zu Frühling, Sommer, Herbst und Winter, die beim Betrachter persönliche Erinnerungen an die Kindheit, Jugend und auch das Erwachsensein wiederkehren lässt. Wer das Buch sein Eigen nennt, wird es wie einen Schatz hüten, egal, in welchem Alter man es erstmals in die Hände bekommen hat.

Matthias Schneider

Blexbolex: »Jahreszeiten«.
Jacoby & Stuart, 200 S., Hardcover, farbig, Euro 18,95 / sFr. 31.90

 

 

 


»Jahreszeiten«
 

Kriegstrauma ll

»Citizen 13660« ist ein Erlebnisbericht aus einem kalifornischen Internierungslager. Kurz nach dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 wurden 11 000 in den USA lebende Japaner der ersten bis dritten Generation in Gewahrsam genommen und in Lagern in verschiedenen Bundesstaaten interniert. Ihr Besitz wurde konfisziert, und jeder Lagerinsasse bekam eine Nummer, die Familie Okubo die titelgebende Nummer 13660. Da in den Lagern keine Kameras erlaubt waren, hielt die Kunststudentin Miné Okubo den beschwerlichen Alltag in Kohlezeichnungen fest. Nach Ihrer Freilassung veröffentlichte sie 1946 ihre Erlebnisse in Form eines illustrierten Tagebuchs, das in den USA ein grosses Echo auslöste. Okubos Erfahrungsbericht ist knapp, nicht wertend. Im Stil einer neutralen Beobachterin beschränkt sie sich darauf, mit sehr sachlich gehaltenen Kohlezeichnungen – und manchmal humorvollen Bemerkungen – ihre Erlebnisse aus fünf Jahren Internierungslager aufzuzeichnen.

Giovanni Peduto

Miné Okubo: »Citizen 13660«.
University of Washington, 1946/1983, 209 S., Softcover, s/w,
Euro 13 / sFr. 19.50

 

 

 


»Citizen 13660«