Traumrückstand Winterknochen und die Vierte Internationale

Das geschriebene Wort von Wolfgang Bortlik

 

Isolierte Häuser gibt es selbstverständlich auch in geschriebener Form. Zumindest in der fantastischen Literatur sind sie ein gern gebrauchter Topos. Es bietet sich etwa das Haus Usher an, dieser bösartige, scheinbar lebendige Organismus in Hausform, welchen Edgar Allan Poe schuf: Das Gebäude selbst und die kargen Linienzüge der zugehörigen liegenden Gründe, die unwirtlichen Mauern, die blicklosen Fensteraugen, ein paar geile Binsenbüschel, die wenigen Rümpfe verstorbener Bäume, eine solche Verödung der Seele überkam mich, dass ich kein irdisches Gefühl passender damit vergleichen kann, als den Traumrückstand des Opiumsüchtigen, das bittere Abgleiten in Nüchternheit und Alltag, die scheusslich-schlimme Entschleierung. Dann hätten wir noch das Haus in den Dünen von Robert Louis Stevenson. Oder vielleicht auch Georges Perecs Pariser Mietshaus, welches in seinem Puzzle-Roman «Das Leben Gebrauchsanweisung» den Mittelpunkt bildet und die heimliche Hauptperson ist. Oder gar das Gebäude im Text von «Dub Housing», das im epochalen gleichnamigen Album von Pere Ubu besungen wird:

Have you heard about this house?
Inside, a thousand voices talk.
And that talk echoes around and around.
The windows reverberate.
The walls have ears.
A thousand saxophone voices talk.
You should hear how we syllogize.
You should hear.
About how Babel fell and still echoes away.
How we idolize, theorize, syllogize.
In the dark. In the heart.
All I hear is... Talk!


Der Sänger und Texter von Pere Ubu, David Thomas, hat sicherlich Edgar Allan Poe gelesen. Und möglicherweise hat der junge Mark Z. Danielewski den Song «Dub Housing» gehört, bevor er sich im Jahre 2000 entschloss, einen sperrigen Riesenroman auf die lesende Menschheit loszulassen. Inhaltlich hat dieses Buchmonster diverse Handlungsebenen, eine mäandernde Erzählweise mit tausend Stimmen, es ist voll von Referenzen, Zitaten, Anleihen aus der Hoch- bis zur Horrorkultur und jeder Menge Fussnoten. Aber auch darstellerisch ist das Ding sperrig, mit verschiedensten Typographien und uneinheit­lichem Layout. Der Originaltitel «House of Leaves» suggeriert ein Haus aus Blättern, also womöglich meint Danielewski damit sogar ein Buch. Deutsch heisst der Roman aber ebenso uneinsehbar wie eindeutig «Das Haus». Dieses Haus ist eigentlich ein «haunted house», denn unter ihm ist das bodenlose Grauen. Lovecraft und Tarantino wohnen in diesem Gebäude. Auch die Familie Navidson lebt und leidet hier, bis das Haus plötzlich verschwindet. Diese Horrorstory ist auf gute postmoderne Art verschachtelt in weitere mehr oder weniger überraschende Erzählstränge und Parallelhandlungen. Aber wenn Sie mich fragen, dann antworte ich gern mit Gerhard Polt: «Also brauchen tut man’s net!» Poe, Lovecraft, Pere Ubu und Tarantino reichen vollauf.

Jede Menge isolierter Häuser und Menschen gibt es in «Winters Knochen» von Daniel Woodrell. Die Verfilmung dieses grossartigen Romans, der im Original «Winter’s Bone» heisst, wurde letztes Jahr beim Sundance Film Festival als bester Streifen ausgezeichnet. Der kurze und knackige Roman enthält eine an sich rührende Geschichte, die aber alles andere als sentimental erzählt wird. Die 16-jährige Ree Dolly muss ihre Familie, eine trübsinnige Mutter und zwei kleinere Brüder, retten. Ihr Vater, ein Crystal-Meth-Produzent, ist abgehauen, nachdem er dank einer Kaution aus dem Gefängnis kam. Für diese Kaution aber hat er sein Haus belehnt. Wenn er nun nicht innert kürzester Zeit lebendig oder tot wieder auftaucht, verlieren die Dollys ihr Haus. Ree macht sich auf die Suche, die äusserst kompliziert und gefährlich ist. Das liegt auch am Schauplatz des Romans, den Ozark Mountains, einer wilden und anscheinend immer noch recht exotischen Gegend mitten in den USA. Der dortige Menschenschlag ist eher verschlossen, ziemlich inzestuös, lebt von der Drogenproduktion und löst seine Probleme gerne mit Gewalt. Man lässt sich keinesfalls mit der Polizei oder anderen staatlichen Autoritäten ein. Zur Not hat man ja eine Knarre. In diesen archaischen Verhältnissen eckt Ree mit ihren Fragen nach dem Verbleib ihres Vaters ziemlich an, denn offensichtlich hat ihr Daddy Verrat an seiner Sippe begangen. Der Roman ist glänzend geschrieben, da gibt es kein Wort zu viel und kein Bild zu wenig. Vor allem die Figur der Ree ist sehr eindrücklich dargestellt, und wie sie dann doch noch ihren Vater findet, das ist schon einen verdammten Albtraum wert.

Manchmal gibt es auch Menschen, die einem wie allein stehende Häuser in der Wüste vorkommen. Ein solcher «isolated man» war Lew Dawidowitsch Bronstein, besser bekannt als Leo Trotzki. Der grosse Widersacher von Josef Stalin verlor den Kampf um die Nachfolge Lenins, wurde verbannt und ging, unterstützt von internationaler Solidarität, ins Exil. Über die Türkei und Norwegen kam er nach Mexiko, auf die Initiative Diego Riveras hin. Dort wurde er dann von einem spanischen Kommunisten namens Ramon Mercader umgebracht. Dieser im direkten Auftrag Stalins handelnde Agent machte Trotzki mit einem Eispickel den Garaus. Die politische Rolle Lew Davidowitschs nach Lenins Tod 1924 wurde stets im Konjunktiv verhandelt: Die einen meinten, Trotzki sei einfach der verhinderte Stalin gewesen, andere hielten ihn für einen Verräter, wieder andere versuchten verzweifelt, in seinen Theorien den alternativen Weg zum Kommunismus zu erkennen. Vieles spricht für die erste These, wenn man beispielsweise an Trotzkis führende Rolle bei der Niederschlagung des Matrosenaufstands von Kronstadt 1921 denkt.

Der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura hat nun sozusagen eine Doppel-Biographie geschrieben, nämlich die von Trotzki und seinem Mörder Mercader. Er lässt die beiden Schicksale und Biographien in seinem neuen Buch parallel laufen und spart dabei nicht mit Sympathie für Lew Davidowitsch. Dieser ist in Paduras etwas sentimentalem Geschichtsbild manchmal so eine Art Super-Trotzki, der aber im Exil bzw. in der Verbannung seine Superkräfte verloren hat. Superkräfte, mit denen er einst die Kronstädter Matrosen und die ukrainischen Agrar-Anarchisten um Nestor Machno vernichtet hat. Spätestens die ebenso grotesken wie grausamen Schauprozesse, mit denen Stalin nach 1936 seine politischen Gegner ausschaltet, haben Trotzki aber all seiner Kräfte beraubt. Schaudernd muss er die Selbstbezichtigungen der Angeklagten hören: Nikolai Bucharin beispielsweise, der ehemalige Liebling der Partei, der behauptet, dass er Angehöriger einer trotzkistischen Verschwörung gewesen sei, welche die Revolution sabotieren wolle. Trotzki-Man, der seit Jahren macht- und sprachlos im Exil sitzt, soll die mächtige Sowjetunion angegriffen haben. Dabei machte sich Lew Davidowitsch in Mexiko wohl eher an Frida Kahlo ran.

Paduras Buch ist mehr ein historisches Werk als ein Roman und manchmal auch etwas zu akribisch und langfädig. Aber diese Geschichte der verlorenen Utopie des Kommunismus ist doch immer noch hochinteressant und spannend. Die Faszination Trotzkis auf mitteleuropäische Jugendliche in den 1970/80er-Jahren (in der Schweiz auf Filippo Leutenegger und Daniel Vasella) wird durchaus verständlich. Stalin wasn’t stalling!

Schlussendlich sind ja vielleicht sogar gewisse Schriftstellerinnen und Schriftsteller das isolierte Haus in der Literatur. Fast hätte ich geschrieben: einsames Haus. Stimmt aber nicht. Das von Absicht getriebene Adjektiv «einsam» kann zur Übersetzung von «isolated» nicht gebraucht werden. Isolieren bedeutet absondern, vereinzeln. Es kommt offensichtlich von isola, dem italienischen Wort für Insel. Niemand ist eine Insel. Jeder braucht seine Insel. Oder so ähnlich.

Eben fällt mir noch das «isolated house» meiner Kindheit ein. Das war ein einfaches «Scheisshaus», das in Respektsabstand hinter dem Haus meiner Grossmutter stand. Ob in die Tür – wie so üblich – ein herzförmiges Loch gesägt war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls kam ab und zu der Nachbarsbauer mit seinem Güllewagen und leerte die Sickergrube und ... äh bäh, lassen wir das. Wenden wir uns dem Geschäft zu.

Es gibt ein originelles Buch über die «dunkle Materie» mit der tollkühnen These: «Unsere Kultur gründet auf der Scheisse.» Florian Werner, der schon eine witzige Geschichte beziehungsweise eine Monographie der Kuh geschrieben hat, übt sich hier in fröhlicher Wissenschaft. Er untersucht brennende Themen wie: Warum eigene Kacke immer besser riecht als fremde; warum Kot in der psychoanalytischen Theorie als erste Währung gilt; warum der Prozess der Ausscheidung ein solcher Quell sinnlichen Wohlbehagens ist, dass selbst die grössten Theologen und Philosophen ihn in Gleichnissen beschreiben und in salbungsvollen Worten besingen? Ein kurzweiliges und humorvolles Werk über the greatest shit in Kunst, Religion, Technik, Philosophie und vor allem in der Psychoanalyse.

 

 

Playlist:

Pere Ubu: «Datapanik in the Year Zero».
4 CDs, darunter das Original-Album «Dub Housing», aber auch andere Schätze.
www.recrec-shop.ch, sFr. 38.–

Mark Z. Danielewski: «Das Haus».
btb Band 73970, 832 S., Softcover,
Euro 18.– / sFr. 27.90

Daniel Woodrell: «Winters Knochen».
Liebeskind Verlag, 223 S., Hardcover,
Euro 18.90 / sFr. 28.90

Leonardo Padura:
«Der Mann, der Hunde liebte».
Unionsverlag, 724 S., Hardcover,
Euro 28.90 / sFr. 42.90

Bertrand M. Patenaude:
«Trotzki. Der verratene Revolutionär».
Propyläen Verlag, 430 S., Hardcover,
Euro 24.95 / sFr. 41.90

Florian Werner:
«Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheisse».
Nagel & Kimche, 236 S., Hardcover,
Euro 18.90 / sFr. 28.90