MAGAZIN

Die Pappkoffer packen

Ein Mann wird von der Last seines Reisekoffers, den er bei jedem Schritt vorwärts schwingt, in eine andere Richtung geführt als geplant. Einem Taxifahrer erklärt er, er habe den mit alten medizinischen Lehrbüchern gefüllten Koffer zum Flughafen geschleppt, um das Gepäckstück dem „rauen Umgang der Gepäckabfertigung eines grossen Flughafens“ zu unterwerfen. Die Bücher seien im übrigen in einem Müllcontainer gefunden worden und würden Krankheiten beschreiben, an denen heute niemand mehr leidet ... Schon auf den ersten Seiten von Ben Katchors „The Cardboard Valise“ betritt man eine Welt überflüssiger Artefakte und sinnloser Beschäftigungen, die man schon aus den Abenteuern von Katchors bekanntester Figur, dem Immobilienfotograf Julius Knipl, kennt. In den Geschichten des us-Amerikaners sind Gegenstände und skurrile Figuren die heimlichen Protagonisten, welche die Erzählhandlung vorantreiben. Der titelgebende Pappkoffer ist ein überdimensionales Gepäckstück, das der xenophilen Hauptfigur Emile Delilah erlaubt, ihren gesamten Besitz auf die Reise zur Insel Tensint mitzunehmen, deren grösste Touristenattraktion die Ruinen öffentlicher Toiletten aus vergangenen Zeiten sind. Elijah Salamis hingegen ist ein „Supernationalist“, entschlossen, die Landesgrenzen, welche die Länder der Erde voneinander trennen, aufzuheben. Indem er nur in Unterwäsche unterwegs ist, versucht er die „bröckelnde Fassade der kulturellen Vielfalt“ abzuschaffen.

„The Cardboard Valise“, Katchors erste Publikation seit zehn Jahren, vereint die gleichnamige Comicstrip-Serie aus den 1990er Jahren, ergänzt durch einige neue Seiten. Dank der Zeitlosigkeit der Bilder und dem surrealen Humor sind Ben Katchors „Picture Stories“ noch heute hochaktuell und eine unterhaltsame Lektüre.

Giovanni Peduto

Ben Katchor : „The Cardboard Valise“.
Pantheon Books 2011, 128 Seiten, Hardcover, s/w,
$ 25.95

 

 

 


 

«The Cardboard Valise»
 

Knallhart: Darwyn Cooke legt sich mit Richard Stark an

„Parker stiehlt, Parker tötet. Das ist sein Job…“, so lautet der ebenso knappe wie zutreffende Klappentext auf der 1970er Ausgabe der Parker-Romane, diesen rasant geschriebenen, trockenen und ausserordentlich bösartigen Geschichten über einen professionellen Dieb, der so gnadenlos tüchtig ist, dass wir niemals seinen Vornamen erfahren. Geschrieben in den Jahren zwischen 1962 und 2008 von Donald Westlake unter dem abgebrüht tönenden Pseu-donym Richard Stark, stellen diese 24 Bücher zweifellos den Gipfel des „Hard-boiled“-Genres dar.

Für lange Zeit kannten nur ausgebuffte Krimi-Leser die Parker-Romane. Westlake liess seinen Antihelden 1974 in der Versenkung verschwinden und die Bücher wurden nicht mehr aufgelegt. Hingegen lebte Parker im Film weiter, in Godards merkwürdigem „Made in usa“, Boormans brillantem „Point Blank“ und in „Payback“ mit Mel Gibson, der besser ist als der Hauptdarsteller es vermuten lässt. Aber den grössten Eindruck hinterliess der Meisterdieb wohl in der Literatur selbst – fast jeder Krimi-Autor der letzten 40 Jahre nahm Bezug auf Westlakes Werk, sei es stilistisch oder erzählerisch. Westlake selbst liess die Serie 1997 nochmals aufleben, das letzte Buch, 2008 erschienen, war „Dirty Money“, auf Deutsch „Das Geld war schmutzig“ (Zsolnay Verlag).

Darwyn Cooke, ein kanadischer Zeichner, hat vier der Parker-Bücher zu Comicsadaptionen gemacht : „The Hunter“ (dt. Originaltitel „Payback“ bzw. „Jetzt sind wir quitt“) und „The Outfit“ (dt. „Die Gorillas“), sind bereits in englischer Sprache publiziert worden, das nächste Album sollte 2012 erscheinen. Ich glaube, behaupten zu dürfen, dass Cooke nur geboren wurde, um die Parker-Geschichten in Bilder umzusetzen, ist er doch ein äusserst talentierter Zeichner mit einem visuellen Stil, der Vorbildern wie Kirby, Moebius oder Eisner in nichts nachsteht. Cookes erste Adaption, „The Hunter“, liest sich wie das Vorbild für alle weiteren Geschichten dieses Genres : Kurz vor dem Abschluss eines gewagten Raubes wird Parker von seinen Komplizen übers Ohr gehauen. Schlecht für sie, denn Parker will seinen Anteil, und Parker bekommt immer, was er will. Cooke hat diese Geschichte ziemlich werkgetreu umgesetzt – Westlake hat ihm sogar noch ein paar Tipps gegeben – und das Resultat befriedigt rundum. Schon in der ersten, über mehrere Seiten reichenden Szene, in der Parker über die George-Washington-Brücke nach Manhattan geht, fühlt man sich in Parkers bzw. Cookes Welt bestens aufgehoben. Sie beginnt – genau gleich wie im Buch – mit dem Satz : „Als der Lenker eines Chevys, ein blankgesichtiger Junge, ihn zum Mitfahren einlud, antwortete Parker, er solle sich zum Teufel scheren.“

In Cookes zweitem Album, „The Outfit“, geht’s erst recht los – die Geschichte besteht aus mehreren von Westlakes Büchern, in denen Parker, noch immer auf Rache aus, sich mit dem organisierten Verbrechen anlegt. Cooke bedient sich verschiedener Stile und Methoden, um vertrackte Themen wie Geldwäscherei zu erklären, und hält dabei so meisterlich die Balance zwischen exakter Erzählung und spannenden Bildern, dass man sich sofort von der Geschichte fesseln lässt. Ich kenne schlicht keine bessere und exaktere Comic-Adaption eines Romanes als diese. Dabei bin ich eigentlich kein grosser Freund von Adaptionen jeder Art, stehen sie doch meist weit hinter dem Original zurück. Romane funktionieren anders als Filme, als Comics, als Gedichte oder als Videogames. Wir brauchen keine Filmversionen von Comics, auch wenn Hollywood und ein Teil des Publikums dies anders sieht, und wir brauchen keine Comicversionen von Romanen. Cookes Parker-Serie ist die regelbestätigende Ausnahme.

Nur mit Mühe fand ich zwei kleine Makel in Cookes Werk. Zum einen zeigen seine Bilder ein für meinen Geschmack ein wenig zu glattes, glänzendes, Raymond-Loewy-gestaltetes Fünfzigerjahre-Amerika. In meiner Vorstellung aber spielen die Parker-Bücher an klebrigen Resopal-Tischen in billigen Hotelzimmern, die nach kaltem Zigarettenrauch und feuchten Lederschuhen stinken. Zum zweiten ist es so, dass man im Roman nichts über Parkers Innenleben erfährt ; der Comic hingegen muss, um die Handlung voranzutreiben, immer ein wenig zu viel erzählen. (Eigentlich interessant, dass der Roman zu mehr fähig ist, weil er weniger tun muss !).

„The Hunter“ hat unterdessen einen Haufen Auszeichnungen gewonnen, „The Outfit“ wird sicher bald denselben Erfolg feiern können. Und, wer weiss, vielleicht wird der eine oder andere Leser der Comics auch zu den Originalromanen greifen. Aber Vorsicht, sie sind extrem süchtig machend!

Mark David Nevins

Darwyn Cooke : „The Hunter“.
IDW Publishing 2009, 144 Seiten, Hardcover, zweifarbig,
ca. $ 25.–

Darwyn Cooke : „The Outfit“.
IDW Publishing 2010, 160 Seiten, Hardcover, zweifarbig,
ca. $ 25.–

 

 

 

 


 

«The Hunter»

 


 

«The Outfit»
 

Nimm Zwei

Sinniert man über Literatur und Comics, fällt einem vielleicht die Huhn-Ei-Frage ein : Was war zuerst da – das Erzählen mittels geschriebenem Wort oder mittels Bildern ? Eine Frage, die sich bei den hier beschriebenen Publikationen leichter beantworten lässt, denn beide Male dienten Kurzgeschichten von Brigitte Kronauer als Vorlage. Sascha Hommer setzte bereits für das „Schreibheft 68“ Kronauers Kurzgeschichte „Dri Chinisin“ als Comic um, in der vermeintlich süsse Kleinkinder, die von ihren Müttern wie Puppen verhätschelt werden, einer unheimlichen Nachtaktivität nachgehen. Nun ist Hommers gleichnamiger Sammelband mit seinen Kronauer Adaptionen erschienen, insgesamt sechs an der Zahl. Hommer setzt die atmosphärisch dichten und verstörenden Erzählungen der Schriftstellerin kongenial um, in stark abstrahierten Bildern, ungewöhnlichen Ausschnitten und Blickwinkeln. Es ist, als ob ihm die Erzählweise Kronauers als Eingebung für seine Bildsequenzen dienen würde, und er daraus eine zweite, völlig eigenständige Erzählspur in Wort und Bild generierte. Wurde Literatur jemals so genial als Comic umgesetzt ?

Im Gegensatz zu Hommer wählt die Illustratorin Gosia Machon für ihre Publikation „Im Gebirg’“ eine weitaus freiere und assoziativere Herangehensweise. In der ersten Hälfte des Heftes erzählt sie Kronauers Geschichte über den absurden Zweikampf zwischen Mensch und Natur einzig in Bildern, erst dann wird die literarische Vorlage komplett als Text abgedruckt. Dem wandernden Protagonisten ähnlich stolpert man durch eine unwirtliche Bilderwelt, die von schemenhaftenDarstellungen, widrigen Gebirgslandschaften und surrealen Erscheinungen geprägt ist. Eine rätselhafte Bilderwelt eröffnet sich dem Betrachter, die beim anschliessenden Lesen des Textes wie Traumbilder vor dem inneren Auge erneut auftaucht. Während der Wanderer am Gebirge scheitert, haben sowohl die Illustratorin Gosia Machon als auch der Comic-Zeichner Sascha Hommer eine grosse Herausforderung bezwungen, sich nämlich nicht am Text festzuhalten, sondern ihn als Inspiration für eine weiterführende Erzählweise in Bildern zu nutzen. Chapeau !

Matthias Schneider

Sascha Hommer/Brigitte Kronauer: „Dri Chinisin“.
Reprodukt, 80 Seiten, Softcover, s/w,
chf 22.90 / eur 14.–

Gosia Machon/Brigitte Kronauer : „Im Gebirg’“.
Tollen Hefte, Edition Büchergilde, 32 Seiten, Softcover, vierfarbige Original-Flachdruckgrafiken,
chf 28.90 / eur 16.90

 

 

 


 

«Dri Chinisin»

 


 

«Im Gebirg’»
 

Rip it up and Do it yourself

Der Comic wird ja immer wieder mit dem Film verglichen : Bei beiden gibt es das Zusammenspiel der visuellen und der verbalen Ebene, es gibt einzelne Einstellungen, Szenen und Schnitte, es gibt Farbbilder und Schwarzweiss. Ein entscheidender Unterschied ist, dass es im Comic keine Tonspur gibt. Für dieses Fehlen, dass kein Fehler, sondern eine erzählerische Herausforderung ist, werden immer wieder spannende Lösungen gefunden.

Martina Lenzin findet dafür keine Lösung in ihrer Geschichte über die ersten Schritte einer fiktiven britischen Post-Punk-Band. Aber auch das ist kein Fehler, sondern eine Konsequenz aus Lenzins Erzählhaltung. Denn die Geschichte handelt zwar von Musik, aber nicht von Sound. Es geht um Strategien, sich im Popdiskurs zu positionieren. Dazu gehören Entscheidungen, betreffend Manager, Auftreten, Studio, Tonträger etc. Überlegungen, die zu jener Zeit manchmal offen diskutiert wurden, beispielsweise bei der zweiten Single der avantgardistischen Popband „Scritti Politti“, wo die Produktionskosten der selbstverlegten Platte akribisch auf
dem Cover dokumentiert wurden. Lenzin spürt aber nicht nur solchen historischen Diskursen nach ; sie verlinkt ihre Geschichte mit der Gegenwart, indem sie in der Rahmenhandlung eine junge Musikjournalistin begleitet, die solche Diskussionen in einem Interview mit ihren historischen Helden ausgräbt. Aktuell ist das auch heute noch, in Zeiten der Digitalisierung, und auch für den Comic –
denn die Fragestellungen sind durchaus auf andere Gattungen als Musik anwendbar. So ist „rpm“ zugleich ein Comic über ein Thema und das Thema selbt. Auch Lenzin muss ihr kulturelles Erzeugnis platzieren : Ihr Verlag Reprodukt als der grösste deutsche Independent-Comic-Verlag ist da sicherlich vergleichbar mit dem britischen Plattenlabel Rough Trade. Und die Frage, ob Hochglanzcover oder Recycling-Karton wie bei „rpm“, kann
zu einem bedeutenden Statement werden. Auf dem Rückcover gibt es dann noch ein nerdiges Referenzrätsel, wo Plattencover von „Père Ubu“, „Associates“, „The Normal“ u.a. mit dem anthropomorphen Tierarsenal des Comics nachgezeichnet wurden.

Christian Meyer

Martina Lenzin : „rpm“.
Reprodukt, 142 Seiten, Softcover, s/w,
chf 24.90 / eur 15.–

 

 

 


 

«rpm»
 

Am Arsch am Mars

Der Wiener Leopold Maurer dürfte ausserhalb Österreichs noch nicht allzu bekannt sein. Seit 1998 arbeitet er als freischaffender Künstler in den Bereichen Comic, Cartoon, Illustration und Animation und ist ausserdem Mitglied der Comic-Gruppe Mixer. Deren bekanntestes Projekt sind die in Wien und Berlin aufgestellten Automaten, an denen man sich für wenig Geld österreichische Comic-Kunst ziehen kann. „Mann am Mars“ ist Maurers zweiter Band und beim Wiener Verlag Luftschacht erschienen, der neben Belletristik und Kinderbüchern ein kleines aber feines Comic-Programm herausgibt.

In zweiseitigen Strips erzählt Maurer hier die Geschichte des ersten Menschen auf dem Mars. Dessen Mission besteht vor allem darin, Marsgestein zu beobachten, nebenbei muss er aber auch eine Tankstelle betreiben – im Auftrag der Sponsoren der Mars-Reise. Ihm zur Seite steht dabei einzig eine Schildkröte namens Darwin, die bei jeder möglichen Gelegenheit Weisheiten anbringt, die in der Regel mit einem Verkehrskreisel zu tun haben. Obwohl es auf dem Mars ziemlich öde ist, begegnen sie Ausserirdischen, prüfen, ob hinter dem nächsten Hügel tatsächlich Gott wohnt, und müssen schliesslich auch noch ihr verloren gegangenes Raumschiff suchen. Man merkt es schon : Auf Maurers Mars geht es recht skurril zu.

Ein Detail am Rande : Die Überschriften der Strips bestehen aus Songtiteln, die sich auf den jeweiligen Inhalt beziehen. Die letzten beiden Titel, „Also sprach Zarathustra“ und „An der schönen blauen Donau“, kann man wohl als direkte Anspielung auf „2001: A Space Odyssey“ verstehen. Und tatsächlich fühlt man sich am Ende, als der Mann am Mars sich immer weiter in seine Wahnvorstellungen hineinsteigert, an die beklemmende Atmosphäre am Schluss des Sci-Fi-Klassikers erinnert.

Maurers Zeichnungen enthalten mit ihren klaren Linien und den vollflächigen Hintergründen, die – natürlich – vor allem in Rottönen gehalten sind, nichts Überflüssiges und lassen einen die Leere der Marsoberfläche förmlich spüren. In Kombination mit ihrem oft absurden und zum Teil auch bösen Witz machen sie das Büchlein zu einem grossen Lesevergnügen.

Jan Westenfelder

Leopold Maurer : „Mann am Mars“.
Luftschacht, 80 Seiten, Softcover, farbig,
chf 33.20 / eur 18.50

 

 

 


 

«Mann am Mars»
 

Hergé in Afrika

Kein Comic, sondern der Ausstellungskatalog eines der einflussreichsten südafrikanischen Comiczeichner, in dessen Werk vor allem ein Thema dominiert : die Aneignung und Umdeutung eines der einflussreichsten europäischen Comiczeichner, Hergé. Bereits das Cover ist ein Zitat von „Tim im Kongo“, das in der Variante Kannemeyers jedoch all jenes abbildet, was in Hergés umstrittenem Klassiker ausgeblendet bleibt : die Gewalt des Kolonialsystems und die Brutalität der Kolonisatoren beim Eindringen in das „unentdeckte Land“. Kannemeyer ist nicht der erste Comiczeichner, der sich des Werkes Hergés annimmt und es gegen den Strich neu liest bereits die Arbeiten etwa der OuBaPo-Gruppe haben sich intensiv mit dem stilprägenden Übervater des europäischen Comics so ironisch wie kritisch auseinandergesetzt. Eine gänzlich andere Dimension auf Hergés Afrika bestimmt jedoch zwangsläufig den Blick eines Vertreters des Kontinents, den zwar Hergé nie betreten, aber dennoch mit „Tim im Kongo“ ein für das Afrikabild in Europa einflussreiches Werk produziert hat.

Der „Bitterkomix“-Mitgründer Kannemeyer, 1967 geboren, der oberen weissen Mittelklasse entstammend, ist mit der auf Rassismus und Religion aufbauenden Erziehung des Apartheidstaates aufgewachsen, was er in seinen Werken auch immer wieder thematisiert. Arbeiten wie „Pappa in Afrika“ weisen in ihrer Drastik darauf hin, dass die rassistischen Strukturen in den Köpfen der weissen südafrikanischen Bevölkerung nach wie vor wirksam sind, was er auch selber zu spüren bekam – 1995 wurden Arbeiten von ihm bei einer Ausstellung mit Farbe beschädigt.

Er wolle das Bild des weissen Mannes untergraben, hat Kannemeyer in einem Interview gesagt, und seine Strategie ist die der Provokation ; wie bereits frühere Arbeiten bildet „Pappa in Afrika“ Tabuthemen der südafrikanischen Gesellschaft ab : Sex zwischen Weissen und Schwarzen, Homosexualität, einen ironischen Umgang mit Religion oder Rassismus im Alltag. Der dabei immer wieder zitierte Hergé, dessen ästhetische Qualität Kannemeyer durchaus schätzt, ist in der Auseinandersetzung mit rassistischen Stereotypen interessant : Die in „Tim im Kongo“ abgebildeten Stereotypen bilden bei Kannemeyer die Basis für eine Auseinandersetzung mit der Wirksamkeit und auch Langlebigkeit solcher Bilder. Hinter den aufgeräumten Bildern der Ligne Claire tun sich Abgründe auf, die sichtbar werden zu lassen Kannemeyer sich zur Aufgabe gemacht hat. Statt Verdrängung setzt Kannemeyer auf Provokation, die manchmal über das Ziel hinaus zu schiessen scheint, aber womöglich gerade in jenen Momenten dem Anspruch Kannemeyers nahe kommt, über den Widerspruch zu einer produktiven Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten zu gelangen.

Jonas Engelmann

Anton Kannemeyer : „Pappa in Afrika“.
Jacana Media, South Afrika 2010, 96 Seiten, Softcover, farbig,
chf 46.90 / eur 26.–

 

 

 


 

«Pappa in Afrika»
 

Werden wir es je erfahren?

Das einzige Problem in Carol Tylers „You’ll Never Know“ ist ein kleiner Etikettenschwindel : Auslöser dieser Arbeit war, wie Tyler im ersten Band beschrieb (siehe strapazin 96), ein Telefonanruf ihres Vaters, der nach jahrzehntelangem Schweigen plötzlich von seinen Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg zu erzählen begann. Und in diesen Erinnerungen sei eine ganz schreckliche Erfahrung vergraben – auf deren Enthüllung der Leser seither vergeblich wartete … Ein Etikettenschwindel ist der Fokus auf den Zweiten Weltkrieg insofern, als im zweiten Buch klar wird, was sich im ersten bereits abzeichnete : „You’ll Never Know“ erzählt nicht die Geschichte von Carol Tylers Vater, sondern ihre eigene, allenfalls die Geschichte ihrer Familie. Der Zweite Weltkrieg wird im zweiten Band gerade noch auf ein paar Seiten gestreift, dafür inszeniert sich Carol Tyler als Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs : Ihre Eltern sind alt, krank und hilfsbedürftig, trotzdem will der Vater in einem abgelegenen Wald eigenhändig ein neues Haus bauen ; ihre Tochter steckt, wie die Mutter zu spät erkennt, in tiefsten Teenagerwirren, und der im ersten Band ausgebüxte Gatte sucht im fernen Kalifornien immer noch sich selber …

Nichts Besonderes eigentlich, keine spektakulären Katastrophen und Schicksalsschläge, sondern der gewöhnliche Alptraum des amerikanischen Mittelstands, beobachtet, erlebt und verarbeitet von einer Künstlerin und Comicautorin mit Sinn für Humor selbst in den grössten Gefühlen. Die Klasse und die Relevanz von „You’ll Never Know“ liegt nicht zuletzt in Carol Tylers Erzählweise. Virtuos hantiert sie mit den verschiedenen Ebenen ihrer Autobiographie, ebenso virtuos springt sie von Storyline zu Storyline, hüpft zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her und passt dabei, um im Gewirr der Handlungsstränge die Übersicht nicht ganz zu verlieren, auch ihren Zeichenstil und das Lettering an die jeweilige Geschichte an. „You’ll Never Know“ ist eine erzählerische und grafische Tour-de-Force, in der Carol Tyler bisweilen etwas zu dick aufträgt oder zuviel übereinanderschichtet – aber verglichen mit der Selbstgenügsamkeit vieler heutiger Autobiographien ist „You’ll Never Know“ eine beeindruckende Wohltat. Und man wartet gespannt auf den abschliessenden dritten Band, der vielleicht die Frage nach jener ganz besonders scheusslichen Kriegserfahrung ihres Vaters beantworten wird. Oder auch nicht. Eigentlich egal – Tyler hat auch so einiges zu erzählen.

Christian Gasser

Carol Tyler : „You’ll Never Know. Book 2 : Collateral Damage“.
Fantagraphics Books, Seattle 2011, 104 Seiten, Hardcover, farbig,
$ 25.–

 

 

 


 

«You’ll Never Know. Book 2 : Collateral Damage».