Kennenlernen / Therese Schreiber

Jul Gordon - Mr. Pete Ole Skullis Jul Gordon - Mr. Pete Ole Skullis

Illustrationen: Jan Pisarski


I Kennen

Dunkle Haare in bester Hanglage über einer sanft am Nachdenken orientierten Stirn, klassizistische Nase, kurz vorm Beginn epochaler Romantik, und ein Mund, der nicht in erster Linie zum Sprechen geschaffen worden sein kann. Das übernehmen ja auch in gewisser Art und Weise bereits formvollendet seine Augen. Zwei stille, graublaue Wasser, aus denen sich allein schon die Geschichten schöpfen ließen, mit hohlen Händen, und nichts und niemand hält die meinen im Moment, hält meine Hände und diese auch nicht davon ab, sich zu erschöpfen.

Zugegeben, hier wurde sicher nichts dem Zufall überlassen. Der Lichteinfall, der ganz besonders sinnlich seine Lippen konturiert. Der leichte Faltenwurf in Armbeuge und Augenwinkel, was ihn mir näher bringt statt ihn mir abzutragen. Dann noch die unscharfe und trotzdem tiefe Ahnung eines privaten Hintergrunds, helle und dunkle Flecken im Raumausschnitt hinter seiner linken Schulter, die mich an hohe Fenster und an schwere, alte Möbel denken lassen. Und über all dem herrscht scheinbar ein ästhetisch motivierter Inszenierungswille, der sich das Materielle sparen kann. Tatsächlich spart. Kein Auto im Rücken, kein Snowboard im Arm. Kein sandkörniger, nackter Oberkörper an einem austauschbaren Strand, kein trunkener Mittelpunkt von Freunden, auf deren Stirnen noch die letzte Happyhour glänzt. Wie angenehm. Auch lassen sich die üblichen Beweise praktizierter Abenteuerlust nicht blicken. Es fehlen die verwackelten Wildwasserraftingschnappschüsse genauso wie das plakative Abhängen in irgendeiner halbdomestizierten Steilwand. Er scheint mir auch nicht unbedingt zu pendeln, von Brücken, kopfüber am Ende eines Gummiseils. Und wie um dem Ganzen in seiner unausgesprochenen Bescheidenheit die Krone aufzusetzen, sehe ich ihn nirgendwo verschmitzt den Turm von Pisa stützen, nicht vor thailändischen Tempeln dümpeln und nicht dem Weißen Haus vorstehen. Das kann natürlich daran liegen, dass er, schlicht gesagt, nicht reist. Vielleicht ist aber auch für seine Begriffe Weltläufigkeit eben kein Synonym für Motivjagd.

Sein Profil ist mehr ein Halbprofil. Auch da nämlich schweigt er, mein Goldmund. Aber ich vermag zwischen den Zeilen zu lesen und schätze die Abwesenheit von oft verräterischer Selbstdarstellung mehr, als sie ihm vorzuwerfen. Im Gegenteil, mir gefällt seine Motto-Autonomie. Denn auch ich verspüre nicht die Notdurft, „jeden Tag so zu leben, als wäre es mein letzter“. Das würde mich derartig ermüden, dass „lange Strandspaziergänge“ oder besser noch „stundenlanges Kuscheln“ sowieso nicht durchzuhalten wären. Ganz zu schweigen vom gemeinsamen Pferdeentwenden auf Vertrauensbasis. Doch auf seiner Seite findet nichts davon Erwähnung. Kein einziger rotweinglasiger Sonnenuntergangsanspruch an Zweisamkeit. Auch nicht der Wunsch nach Tiefgang, Intelligenz, Verständnis, Harmonie, Kommunikation und Transparenz. Keiner einzigen Erwartung muss ich also standhalten. Nochmal, wie angenehm. Hier wird nicht vorbeugend an den Absperrzäunen persönlicher Freiräume entlang geführt. Hier werden Lücken gelassen. Und ganz ehrlich: Lieber gar keine Selbstauskunft als die, „ein bisschen verrückt“ zu sein. Denn dieser Zustand wäre, für sich betrachtet, mehr als mitleidserregend. Er wäre grausam.

Ich bin es. Er ist es. Online. Ich geb’ ihm grünes Licht und öffne wiedermal ein Fenster.



II Lernen

{Ich and Er just entered the private chatroom}

Ich: Guten Abend, schöner Fremder...
Er: hi!

Okay. Anfangs tänzelt es sich besser auf spitzer Zunge umeinander her, und jeder ins Chatfenster gelegte Satz gleicht einer Messlatte, die es zu überspringen gilt –

Er: Hey, süsses Lächeln ;)

...

Ich: Ähm, danke.
Er: ;)

Ich: Das kann ich nur zurückgeben...
Er: hehe :-*

Na gut. Einen Versuch ist es wert.

Ich: ...Dunkle Haare in bester Hanglage über einer sanft am Nachdenken orientierten Stirn, klassizistische Nase, kurz vorm Beginn epochaler Romantik, und ein Mund, der nicht in erster Linie zum Sprechen geschaffen worden sein kann...

Er: ???
Ich: ...
Er: Hast du ’ne Cam?

...

Ich: Ja
Er: Cam2Cam?
Ich: ???
Er: Camsex?
Er: ;)

...

{Ich initialized webcam}

Ich: ;)

{Er initialized webcam}

Auch gut.