MAGAZIN

Emma und Gemma

Der Plot klingt nicht ganz unvertraut: Die junge Engländerin Gemma Bovery zieht mit ihrem Gatten Charlie, einem Möbelrestaurator, in die Normandie. Die Idylle des Landlebens verflüchtigt sich im dunklen, alten Haus jedoch schnell; Gemma langweilt sich, trauert einem Ex-Geliebten nach, verabscheut die Kinder ihres Manns, lernt diesen zu verachten und lässt sich auf gefährliche Liebschaften ein – bis zum bitteren Ende. Dass es zur Tragödie kommen muss, macht nicht nur der Verweis auf Gustave Flauberts „Madame Bovary“ klar, auch der Erzähler, der literarisch ambitionierte Dorfbäcker Joubert, der von Gemma, in der er eine Wiedergängerin von Flauberts Emma zu erkennen glaubt, fasziniert ist, lässt schon auf der ersten Seite keinen Zweifel an ihrem Schicksal.
Bei seiner Veröffentlichung in Frankreich im Jahr 2000 löste „Gemma Bovery“ eine Kontroverse aus. Dabei ging es keineswegs darum, dass sich Posy Simmonds als Engländerin erfrecht hatte, einen Klassiker der französischen Literatur umzuformulieren, sondern um die Frage, wie textlastig ein Comic sein darf. Die 1945 geborene Cartoonistin und Kinderbuchautorin stieß erst spät zum Comic und veröffentlichte „Gemma Bovery“ und „Tamara Drewe“ zunächst als Fortsetzungsgeschichten im Feuilleton des Guardian, also außerhalb eines Comic-Kontextes und für eine literarisch gebildete Leserschaft. Deshalb der Rückgriff auf literarische Vorlagen und deshalb auch ihre ungewöhnliche Erzählweise: Als Quereinsteigerin missachtet Simmonds viele Konventionen des Comics – so unterbricht sie die Bildfolgen immer wieder durch reine Textpassagen, innere Monologe, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Beschreibungen, mit denen sie Jouberts Perspektive aufbricht.

Mit dieser multiperspektivischen Erzählweise erzielt sie eine hohe literarische Dichte und psychologische Tiefenschärfe. Aber auch zeichnerisch ist „Gemma Bovery“ außerordentlich differenziert: Posy Simmonds‘ realistischer und nur hauchfein karikierender Stil fängt Mimik und Körpersprache der Figuren so präzise ein, dass wir immer genau wissen, wie es in ihnen aussieht, was sie denken und fühlen – und was sie verschweigen.

Obschon sich „Gemma Bovery“ stark an Flauberts Klassiker anlehnt und ihn auf eine raffinierte und vielschichtige – in entscheidenden Momenten auch überraschende – Weise aktualisiert, besticht Simmonds graphischer Roman auch unabhängig vom Spiel mit literarischen Referenzen als subtile und humorvolle Tragödie über Schein und Sein, Träume und Lebenslügen, die englische Idealisierung des ländlichen Savoir-vivre in Frankreich – und natürlich über Liebe, Untreue, Verrat und Enttäuschungen. Eine Geschichte, deren unbestreitbare Qualitäten der spitzfindigen formalistischen Diskussion schon bald ein Ende setzten.

Christian Gasser

Posy Simmonds: „Gemma Bovery“.
Reprodukt Verlag, 112 S., Klappenbroschur, s/w,
Euro 20.– / ca. sFr. 29.–

 

 

 


 

llustrationen: Simon Schwartz

«Gemma Bovery»
«Jetzt kommt später»
«Hau die Bässe rein, Bruno!»

Hamburg, acht Grad, Regen

Autobiographische Erzählungen sind eine heikle Angelegenheit. Oft ist das, was man erlebt und erfahren hat, für andere weniger spannend und bedeutungsvoll als für einen selbst. Dass man alltägliche Begebenheiten und persönliche Entwicklung aber auch wirklich unterhaltsam schildern kann, beweist Kati Rickenbach in ihrem zweiten Comic-Band „Jetzt kommt später“. Dort schildert die in Zürich lebende Baslerin ihre Erlebnisse während zweier Auslandsaufenthalte in Hamburg und damit auch die dazwischen liegenden inneren und äußeren Veränderungen.

2004 muss sie sich noch als Zeichnerin finden, ist noch etwas schüchtern, dabei aber auch offen für alles und will etwas erleben. Gleichzeitig knüpft sie die ersten Kontakte zur deutschen Comic-Szene. Fünf Jahre später kehrt sie mit ihrem Freund nach Hamburg zurück; inzwischen wurden bereits diverse ihrer Arbeiten – darunter ihr erster Band „Filmriss“ – veröffentlicht, und es kommen Themen wie Kinder und Zusammenleben auf. Dabei werden jedoch nicht einfach nur verschiedene Episoden geschildert, sondern es gibt immer wieder Verknüpfungspunkte zwischen den beiden Zeitabschnitten.

Auf einer weiteren Ebene thematisiert Rickenbach auch das Entstehen von „Jetzt kommt später“ selbst. So erfährt man z. B., dass es ihr unmöglich war, Begebenheiten zu verändern oder auch nur den Namen einer Person abzuändern, weil sich sonst auch deren Charakter verändert hätte: „Priska ist nur Priska, wenn sie auch so heißt!“ An einer anderen Stelle zeigt sie jemandem, wie sie ihn gezeichnet hat, was wiederum von ihm kommentiert wird. Es bleibt also nicht bei der bloßen Darstellung von Ereignissen, sondern der Prozess der Dokumentation wird immer wieder direkt mitdokumentiert.

Aber schon die Bilder an sich machen Spaß. Die klaren, lebendigen Linien, die immer auch leicht verwackelt scheinen, verleihen den Zeichnungen einen speziellen Charme. Besonders schön sind dabei auch die Details am Rande, die aber immer nur eingesetzt werden, wo sie wirklich notwendig sind. Jeder, der Hamburg ein bisschen kennt, wird sich z. B. darüber freuen, bekannte Ecken wiederzuerkennen, vor allem an der Sternschanze und in St. Pauli, oder auch das Logo der dort allgegenwärtigen Biermarke Astra. „Jetzt kommt später“ ist also viel mehr als nur ein in Comic-Form umgesetztes Tagebuch, sondern bietet eine spannende und vergnügliche Lektüre, die man – einmal angefangen – nicht mehr aus der Hand legen möchte. Jan Westenfelder

Jan Westenfelder

Kati Rickenbach: „Jetzt kommt später“.
Edition Moderne, 304 S., Softcover, s/w,
Euro 24.– / sFr. 36.–

 

 

 

 

 

Prächtig amüsiert

Dass ich einen Comic alle paar Monate wieder in die Hand nehme und lese, einfach so, aus lauterem Vergnügen, kommt viel zu selten vor. Barus „Hau die Bässe rein, Bruno!“ ist eine dieser Ausnahmen; seit ihrem Erscheinen in Frankreich verschlinge ich diese Gaunerkomödie alle paar Monate wieder, jedes Mal mit demselben Vergnügen.

Worum geht‘s? Um Slimane, ein Fußballtalent aus Afrika, der illegal in Frankreich einwandert und als ausgebeuteter Taglöhner zu überleben versucht. Um Zizou, der jedoch kein Fußballer ist, sondern ein kleinkalibriger, von unterbelichteten Kumpanen umgebener Vorstadtgangster. Kaum aus dem Knast entlassen, plant Zizou seinen nächsten Coup, einen Überfall auf einen Geldtransporter. Dafür sucht er die Unterstützung von drei italienisch-stämmigen Altgaunern. Diese Ganoven im Ruhestand, die längst zu geachteten Mitgliedern der kleinstädtischen Gesellschaft mutiert sind (der eine hat‘s sogar zum Bürgermeister und zum Präsidenten des örtlichen Fußballklubs gebracht), können dem Lockruf des Abenteuers und des Geldes nicht widerstehen.

Diese Ingredienzen – und vor allem die starken Charaktere – verknüpft Baru, der Realist mit dem freien, expressiven Strich, geschickt zu einer überaus süffigen Komödie. Dabei bleibt der Sohn italienischer Einwanderer sich und seinen Themen – Immigration und Rassismus, Unterschicht und Unterwelt, gesellschaftliche Auf- und Abstiege – durchaus treu. Doch diese Reise ins dunkle Herz des heutigen Frankreichs ist furioser, unterhaltsamer und vor allem witziger als seine anderen Comic-Romane. Dass man sich immer wieder an die klassischen französischen Gangsterfilme der Sechziger- und Siebzigerjahre erinnert fühlt, ist kein Zufall. – „Hau die Bässe rein, Bruno!“ ist nicht zuletzt auch eine Hommage an all die Filme, die Baru zum Lachen gebracht haben. Ganz in diesem Geist ist „Hau die Bässe rein, Bruno!“ eine rasante Geschichte voller Verwicklungen und Brüche, in der natürlich alles (oder zumindest das meiste) schief geht, was schief gehen kann. „Aber wir haben uns gut amüsiert, was?“, fasst der eine der alten Ganoven ihr Abenteuer zusammen, und die anderen brechen in Gelächter aus. Der Leser auch – vor allem er wurde bestens unterhalten.

Christian Gasser

Baru: „Hau die Bässe rein, Bruno!“.
Edition 52, 128 S., Softcover, farbig,
Euro 22.– / ca. sFr. 32.–

 

 

 


 

 

Zersiedelung und Pubertät

Der studierte Architekt und Comic-Zeichner Matthias Gnehm hat in seinen bisherigen Arbeiten – mal mehr, mal weniger – zwei entscheidende Merkmale eingebracht: eine komplexe Erzählweise und das Interesse an den Themen Architektur und Urbanismus. Für „Die Bekehrung“ reduziert er beides. Matthias Gnehm geht hier an den räumlichen Rand seines Leib- und Magenthemas Urbanismus – an die zersiedelte Peripherie. Zugleich schiebt er aber das Thema an den Rand der Geschichte. Zwar spielt die Geschichte in einer zersiedelten Landschaft, doch eine versteckte Hauptrolle scheint die Landschaft zunächst nicht zu spielen, obschon die vielen Bilder aus der Vogelperspektive – einmal macht er gar eine kurze „Kamerafahrt“ ins Weltall wie bei Google-Earth – gerade die Topografie immer wieder betonen. Und auch das verschachtelte Erzählen steht nicht mehr so im Mittelpunkt wie beispielsweise in seinem letzten Album „Selbstexperiment“. Hier gibt es lediglich eine knappe Rahmenhandlung, die den Leser immer wieder in die Geschichte der Vergangenheit entführt.

Kern der Handlung ist eine Liebe und die Problematik religiöser Missionierung. Kurt trifft am Bahnhof zufällig einen alten Schulkameraden. Der Architekturjournalist ist auf dem Weg in seine frühere Heimat. Als 14-Jähriger wohnte er in einer zersiedelten Gegend, jetzt will er über diesen hässlich gewachsenen Ort, der sich ständig wandelt, schreiben. Doch durch den Zusammenprall mit dem Schulfreund gerät seine Reise in die alte Heimat zu einer Reise in die Vergangenheit: Kurt erinnert sich an seine erste große Liebe Patrizia. Ihretwegen ist er einst in eine Bibelgruppe eingetreten.

In luftigen Kohlezeichnungen macht Gnehm den Muff der Provinz ebenso spürbar wie die verworrene Gefühlswelt der Pubertät. Beides spiegelt einander: die langen Radfahrten zwischen den recht leblosen Orten sind auch eine Reflexion der pubertären Orientierungs- und Heimatlosigkeit. Zudem weiß Gnehm auch erzählerisch zu begeistern, wenn er mit außergewöhnlichen grafischen Mitteln die Zeitebenen wechselt.

Christian Meyer

Matthias Gnehm: „Die Bekehrung“.
Edition Moderne, 304 S., Softcover, s/w,
Euro 24.– / sFr. 36.–

 

 

 


 

«Die Bekehrung»
«Obsolete»
 

Der unbekannte Soldat

Mit erst 23 Jahren scheint der dänische Illustrator und Comic-Autor Mikkel Sommer bereits einen ausgereiften Stil und – was noch wichtiger ist – eine narrative Stimme gefunden zu haben. „Obsolete“ ist Sommers erste eigene Publikation, die in Zusammenarbeit mit dem lobenswerten englischen Verlag Nobrow entstanden ist. Nobrow bietet für aussichtsreiche Künstler und deren Elaborate eine Plattform, setzt dabei aber auch auf guten Druck. So ist „Obsolete“ nicht nur inhaltlich eine gelungene Kurzgeschichte, man blättert gerne im Heft und freut sich über die Papier- und Farbqualität.

Aber nun zur Geschichte: Der Titel der Erzählung bezieht sich auf zwei Soldaten, die von der Regierung vergessen worden sind und nach brutalen Einsätzen im Nahen Osten ihren Alltag mit Alkohol und Pillen bestreiten, im ständigen Kampf gegen die Geister ihrer unheldenhaften Vergangenheit. Ein geplanter Banküberfall soll den beiden aus ihrer Misere helfen. Einer klassischen Banküberfall-Geschichte treu, hält Mikkel Sommer für die Protagonisten kein Happyend bereit, findet in der ganzen Tragik und eiskalten Brutalität des Vorfalls aber unerwartet Platz für einen kleinen Hoffnungsschimmer und menschliche Wärme.

Was „Obsolete“ zu einem Lesegenuss macht, ist Sommers visuelle Erzählstruktur, die den Hauptfiguren ohne viele Worte und auf wenigen Seiten Tiefe verleiht und in Sachen Bildkomposition und -rhythmus stark ans Kino angelehnt ist. Der nervöse, skizzenhafte Strich kehrt das Innenleben der Protagonisten nach außen. Sommers Zeichenstil macht den Anschein, als wäre der Autor dem Zeichnungsdrang verfallen (einen entsprechenden Hinweis gibt auch der Name seines Blogs Satan Said Draw) und ähnelt jenem des italienischen Autors Gipi.

Die einzige Kritik, die man an Mikkel Sommers gelungenem Debüt anbringen kann, ist die etwas knappe Seitenzahl seiner Publikation. Von einem Autor mit solch erzählerischen Fähigkeiten würde man gerne tagefüllende Geschichten lesen. Ein Comic-Roman ist aber bereits geplant. Man darf also gespannt sein.

Giovanni Peduto

Mikkel Sommer: „Obsolete“.
Nobrow Press 2011, 24 S., Softcover, farbig,
£ 6.50 / Euro 8.–
www.mikkelsommer.com

 

 

 


 


«Grenzfall»
«The Influencing Machine»
«Even the Giants»

Die Medien und wir

Während einer Party anfangs dieses Jahres tauchte eine ebenso simple wie interessante Frage auf: „Warum verfolgen wir eigentlich Nachrichten?” Warum sollen wir uns um Dinge kümmern, die sich meistens weit weg abspielen, die uns kaum betreffen, und auf die wir vermutlich keinen Einfluss haben? Mache ich mich nicht zum Komplizen des Leidens und der Entmenschlichung der Opfer, wenn ich mir erst einen Fernsehbericht über eine Naturkatastrophe, einen Krieg oder einen Völkermord ansehe, und anschließend nichts dagegen unternehme?

Brooke Gladstone und Josh Neufeld erforschen diese Fragen in ihrem Buch „The Influencing Machine”, einer dichten und reichhaltigen Geschichte der Medien in unserer Gesellschaft. Das Buch dreht sich nicht nur darum, dass wir die Nachrichten unbedingt verfolgen sollten, sondern auch, warum wir das tun sollten, selbst wenn es zwar meinungsbildend, aber auch voyeuristisch ist. Gladstone, eine in Amerika bekannte Journalistin und Medienkritikerin, erklärt uns in der Figur eines charmanten Avatars – mit Hornbrille und wilder Frisur –, wie sich die Medien über die Jahrhunderte veränderten. Sie fragt sich, ob Objektivität möglich ist, und wie wir Medienkonsumenten mit deren Unvollkommenheit umgehen.

„The Influencing Machine” beginnt mit einer Suche nach den Ursprüngen der Reportage in der präkolumbianischen Welt der Mayas, in den Zivilisationen der antiken Griechen und Römer und nimmt uns dann mit auf eine faszinierende Reise durch die Entwicklung des Journalismus während der Aufklärung bis zur Moderne, beschreibt, wie neue Technologien das Nachrichtengeschäft veränderten und kommt doch immer wieder zurück zu dessen unstabilem Charakter zwischen Störenfried einerseits und Machtstrukturen erhaltendem Medium andererseits. Gladstones Stil ist witzig, sie bedient sich einer energiegeladenen Umgangssprache, und sie schafft es meistens, den Standpunkt einer Unparteiischen einzunehmen, was ihren Argumenten betreffend Notwendigkeit und Verabscheuungswürdigkeit der Medien Überzeugungskraft verleiht. Auch verfügt sie über eine gut ausgebildete Fähigkeit zur Analyse, wenn es darum geht, all die Vorurteile und Befangenheiten zu erklären, die dem Journalismus innewohnen. Sie wird laut und bestimmt, wenn sie sich vernichtend über das Geschwätz von „Medien-Verschwörungen” äußert, und wirkt gleichermaßen beruhigend wie verunsichernd, wenn sie über die zwar stets fehlerhafte, aber lebensnotwendige Rolle der Medien schreibt.

Der Untertitel des Buches – „Brooke Gladstone on the Media, illustrated by John Neufeld” – trifft nicht ganz zu, denn obwohl wir von der Stimme Gladstones geleitet werden, entfaltet das Buch seine Wirkung erst durch die Arbeit von Neufeld, der mit seinen Illustrationen ein eigentliches Comic-Album schuf, in dem Worte und Zeichnungen eine gleichwertige Rolle spielen. Während der letzten zehn Jahre war Neufeld bestrebt, sich mittels der unterschätzten Form des Comic-Journalismus einen Namen zu machen. In „Titans of Finance” (2001) untersuchte er lange vor der Finanzkrise die Mysterien von Wall Street, und in „A.D.: New Orleans After the Deluge” (2009) schilderte er auf eindrückliche und bewegende Weise das Leben nach dem Hurrikan Katrina. Mit „The Influencing Machine” hat Neufeld endlich seinen Stil gefunden, seine einfachen, von Hergé beeinflussten Zeichnungen und die Gestaltung der Seiten zeigten noch nie eine solche Kraft und Klarheit wie hier. Sicher wären Gladstones Ausführungen auch ohne Neufelds Zeichnungen interessant, aber erst durch diese wird das Buch zum Klassiker, zu einem der besten Comics seiner Art seit Scott McClouds „Comics verstehen”.

Mark D. Nevins

Gladstone/Neufeld: „The Influencing Machine: Brooke Gladstone on the Media”.
W.W. Norton & Company New York, 170 S., Hardcover, s/w,
$ 23.95

 

 

 


 

Einsamer Riese

Es gibt zwei Gründe, wieso Jesse Jacobs’ Taschenbuch ins Auge springt. Erstens liegt es am leicht geheimnisvollen und poetischen Titel „Even the Giants“, zweitens am minimalistischen und zugleich detailreichen Cover, das eine karge Eislandschaft darstellt. Doch die erste Lektüre dieses durchaus schön gestalteten und experimentellen kleinen Büchleins war eine Enttäuschung. Das Buch ist eine unruhige Mischung aus verschiedenen, nicht zusammengehörenden Kurzgeschichten (der Titelgeschichte „Even the Giants“, der geschwätzigen Serie „One Million Mouths“ und ein paar Geschichten ohne Titel), welche sich gegenseitig in die Quere kommen und dadurch nicht zum stilistischen Konzept und zur stillen Atmosphäre des Covers passen. Der Hinweis eines Rezensenten im The Comic Journal jedoch, sich bei einer zweiten Lektüre nur auf die titelgebende Geschichte zu beschränken, offenbart Jesse Jacobs’ Talent schließlich doch noch. Der Leser begleitet darin einen Bewohner der Arktis und seinen Hund beim Iglu-Bauen und Fischen. Sein Weg wird von einem sagenhaften Riesen durchkreuzt, der ziellos in den Weiten des Nordpols herumwandert und seine einsamen Tage mit dem Geist einer wohl verflossenen Liebe verbringt. Ein blinder Passagier strandet in einem Frachtschiff auf einer Eisscholle und ernährt sich von Schoko-Osterhasen. Jesse Jacobs vermag mit „Even the Giants“ Ruhe und Einsamkeit in einer grafisch sehr poetischen Form zu vermitteln und dies ohne den Gebrauch von Worten, nur mit seinem minimalistischen Strich. Die Geschichten des Kanadiers, der auch als Grafiker arbeitet (unter anderem gestaltet er T-Shirts und Skateboards), basieren nicht auf einer traditionellen Erzählstruktur, sondern einer emotionalen. Wie er in einem Interview sagt, möchte er nicht Geschichten erzählen, sondern Stimmungen erschaffen. Die experimentelle Form seiner Erzählung rühre daher, dass der Entstehungsprozess des Buches ein Versuch sei herauszufinden, in welcher Form er Comics dazu verwenden könne, diese Stimmungen zu vermitteln.

Man muss dem Rezensenten des TCJ Recht geben: Die Titelgeschichte „Even the Giants“ ist eine sehr gelungene Geschichte, die aber durch den Einschub anderer, qualitativ mittelmäßiger Erzählungen stark an Schönheit und Eleganz einbüßt. Es hätte gereicht, „Even the Giants“ alleine – vielleicht in einem größeren Format – abzudrucken, um sie in einem Zuge ungestört lesen zu können.

Giovanni Peduto

Jesse Jacobs: „Even the Giants“.
Adhouse Books, Richmond 2011, 80 S., Softcover, zweifarbig,
$ 9.95
www.jessejacobs.ca

 

 

 


 

 

Das Leben eines Anderen

„Grenzfall“ erzählt spannend wie ein Krimi die Entstehung der wichtigsten gleichnamigen oppositionellen Zeitung der DDR. Die illegale Veröffentlichung „Grenzfall“ berichtete als einzige Publikation unzensiert über gesellschaftliche Probleme und politische Missstände, und wurde sogar von den Westmedien als Quelle verwendet. Die geringen Auflagen fanden reißenden Absatz und eine große Streuung, da sie an Gleichgesinnte in der ganzen DDR weitergereicht wurden. Um dem regimekritischen Blatt Einhalt zu gebieten und dessen Herausgeber zu überführen, bot die Staatssicherheit schließlich ihren gesamten Überwachungsapparat auf.

Peter Grimm ist Schüler in Ost-Berlin, als er 1982 durch die Familie Havemann in Kontakt mit Oppositionellen gerät. Der politisch Interessierte wird schnell in den Freundeskreis der Freidenker und Regimekritiker aufgenommen. Selbst als Grimm daraufhin an der Schule Probleme bekommt, da die Staatssicherheit überwacht, wer bei den Havemanns ein und ausgeht, lässt er sich nicht unter Druck setzen. Der Preis, den Grimm dafür zahlen muss, ist hoch, denn er wird deswegen nicht zum Abitur zugelassen. Ohne Schulabschluss bekommt er nur durch Beziehungen einen Job, den er tagsüber erfüllt. Nachts und am Wochenende steckt Grimm seine ganze Energie in den „Grenzfall“, recherchiert mit Gleichgesinnten und druckt die Publikationen im Verborgenen.

Thomas Henseler und Susanne Buddenberg haben nach ihrem Designstudium die Filmhochschule besucht, was man an dem ausgefeilten Szenario und der fesselnden Dramaturgie ihres Comics erkennen kann. Das Autoren-Zeichner-Gespann präsentiert fernab geschichtsverklärender Ostalgie eine der spannendsten Episoden in der Geschichte der DDR. Als es der Staatssicherheit schließlich gelingt, einen Mitarbeiter in den inneren Kreis des „Grenzfall“ zu schleusen, scheint das Ende der oppositionellen Stimme besiegelt zu sein. „Grenzfall“ ist ein Comic, der Pflichtlektüre in jedem Geschichtsunterricht sein sollte und darüber hinaus in jede anspruchsvolle Comic-Bibliothek gehört.

Matthias Schneider

Thomas Henseler / Susanne Buddenberg: „Grenzfall“.
Avant Verlag, 100 S., Softcover, s/w,
Euro 14.95 / sFr. 23.90