Kafka, Glasgow, Mackie Messer und Mongolen

Das geschriebene Wort von Wolfgang Bortlik

 

Schon Anfang Juli will der gnadenlose Herausgeber des September-Strapazins das „Geschriebene Wort“ haben. So ist das hier: Druck, ständiges Plansoll, brutalstmöglicher Stachanow, Themen- und Terminterror. Was bleibt dem Skribenten da anderes, als zu fliehen, zu flüchten in ein Tessiner Tal, fernab vom Internet, mitten in ein Handy-Loch. Dort wird der hier Schreibende wieder zu seiner Menschenwürde finden. Er wird aber auch jeden Tag mindestens ein Buch lesen, zwei Stunden Velo fahren und dann ein „Geschriebenes Wort“ hin- und heraushauen, welches geprägt ist von der Schönheit des klaren Melezza-Wassers, vom Rhythmus des Grillengezirps und der Ekstase durch einen kleinen Americanello Rosato von Delea/Losone.

Es beginnt aber schon lange vorher: Nach sieben Kilometern, inmitten des Bergs, stoppt die zähe Autokolonne durch den Gotthardtunnel. Ein Belgier, hypnotisiert von den vielen Lichtern oder vielleicht vom Sekundenschlaf übermannt, steht quer. Pannenfahrzeug kommt, aber es dauert! Motor abstellen und zum Buch greifen. Der Schreibende erwischt ein kleinformatiges Bändchen mit dem Titel: „Kafka war jung und er brauchte das Geld. Eine rasante Kulturgeschichte für Vielbeschäftigte“. Das klingt ein bisschen sehr nach tongue-in-cheek, zu flott anbiedernd bei der humorhungrigen Mittelschicht; dieser Titel schwingt schwer Richtung deutsche TV-Comedy, doch für ein bisschen Stau-Lektüre mag das Büchlein gut genug sein. Wer aber beschreibt das Erstaunen, ja Entzücken des Schreibenden, nachdem er ein bisschen im schmucken, himmelblauen Band geschmökert hat. Das ist Spitzenware! Total gut! Lustig und intelligent! Trostreich! Es handelt sich hier nicht um einen drög-humorigen Ratgeber, sondern um einen eigenständigen Roman, der durch die abendländische Hochkultur fegt, von der Renaissance bis hin zur Postmoderne. Protagonist der Erzählung ist ein gewisser Schwenn, ein gestandener Berufsmann und Banker, der von seiner Frau verlassen wird, weil er eine kulturelle Taubnessel ist. Diesem Schwenn muss also Kultur, das heisst Literatur, bildende Kunst und Musik, nahe gebracht werden. Und zwar für ihn verständlich, in seinen eigenen Begriffen und Reizwörtern. Also hat der 1971 geborene Autor Konstantin Richter im Dienste dieses geistig armen Schwenns fest die Wirtschaft und die Rentabilität im Blick, er operiert nicht mit verschwurbelten Kulturtheorien oder germanistischen Wunderkammern, sondern misst die Kultur und ihre Geschichte an ökonomischen Begriffen. Das allein schon ist sehr lustig und ziemlich gescheit, doch wie Richter dann die Ikonen abendländischer Kultur wie Nietzsche, Kafka, Proust, Vasari et al. in seinen Pseudobildungsroman einbaut, das ist schon grosse Klasse. Selbstverständlich hat Schwenn am Ende der Geschichte eine umfassende abendländische Bildung und weiss diese auch ganz handfest einzusetzen.

Kurz nach der Autobahnausfahrt Bellinzona-Süd steht ein Wohnwagen mit holländischem Kennzeichen in Flammen. Wahrscheinlich überhitzte Tulpen! Der nächste Stau! Das nächste Buch wird hervorgekramt, ein sogenanntes Lese-exemplar. Zur Erklärung: Der Schreibende kriegt in seiner Eigenschaft als Beschreibender bzw. Rezensent oder Kritiker von vielen Verlagen erfolgversprechende neue Bücher im Voraus zur Lektüre, lange bevor sie auf dem offiziellen Markt sind. Damit das Werk dann gelesen ist und rechtzeitig zum öffentlichen Erscheinungstermin besprochen werden kann. Es handelt sich in diesem Falle um „Liebe am Ende der Welt“, den neuen Roman von Anthony McCarten, hoch gelobt und gepriesen als Stückeschreiber und Romancier. Er soll ja der ureigentliche Erfinder des „Full Monty“ sein, also dieser proletarischen Männer-Striptease-Truppe mit dem erfolgreichen Film.

McCarten hat jedenfalls Chuzpe: Er erzählt von einem kleinen Kaff in Neuseeland, in der Nähe seiner eigenen Geburtsstadt, in der drei Teenager zugleich schwanger werden. Die eine schiebt es auf einen Kontakt mit Ausserirdischen, die zweite glaubt an eine unbefleckte Empfängnis und die dritte will einfach nur auch die Beachtung, die ihre beiden Freundinnen plötzlich bekommen haben. Vor allem auf der Story mit den Ausserirdischen reitet der Autor etwas ungesund lange und unlogisch herum. Er muss ja doch immerhin eine gewisse erzählerische Stringenz und Logik oder Wahrscheinlichkeit wahren. Schliesslich stellt sich dann heraus, dass das erste Mädchen hypnotisiert und dann geschwängert worden ist, dass das zweite Girl einen heimlichen Termin mit dem Pfarrer hatte und die Dritte mit einem Revolverjournalisten, der genau wegen der UFO-Geschichte in dieses neuseeländische Kaff gekommen ist. Dass das Ganze dennoch einigermassen glaubwürdig und spannend zu lesen ist, hat wohl was mit McCartens Schreibkunst zu tun. Der Mann scheisst sich nicht viel um die Wirklichkeit, wenn er eine Idee hat. Angesichts der jämmerlichen Literatur hierzulande durchaus eine Errungenschaft!

Nachdem all der geschmolzene Edamer von der Autobahn gekratzt ist, geht es weiter, mühsam durch die Magadino-Ebene und in ein Tal hinein. Während auf der Piazza Grande von Locarno Bryan Adams vom Blitz erschlagen wird, liegt der Schreibende schon auf einem grossen Stein an der Melezza und liest in einem düsteren schottischen Krimi.

Im Westend von Glasgow ist die von Krankheit dezimierte Besatzung einer Polizeiwache am Rande des Nervenzusammenbruchs. Kurz vor Weihnachten sind zwei blonde Knaben spurlos verschwunden, offensichtlich entführt, und in einem Supermarkt tauchen hochgiftige Kopfwehtabletten auf. Ausserdem ist da noch ein berühmter Rockstar zurück in seiner Heimatstadt, dessen Absichten auch nicht gerade die ehrenhaftesten sind. Die polizeilichen Ermittlungen werden schliesslich immer wieder durch Rivalitäten und persönliche Animositäten oder durch persönlichen Stress der Polizistinnen und Polizisten erschwert. Das hat insofern fatale Folgen, als nun auch der kleine Junge eines Polizeiinspektors verschwindet. Der zweite auf Deutsch erschienene Thriller der bekennenden Glasgowerin Caro Ramsay, „Sein eigen Fleisch und Blut“, ist ziemlich nervenaufreibend, besticht durch düsterste Atmosphäre, eine komplexe Handlung und eine ebenso spannende wie sachkundige Auflösung des ganzen Kuddelmuddels.

Das Düstere zu vertreiben steht dem Schreibenden im Sinne, als sich das Wetter im Tessin für das Gegenteil entscheidet und plötzlich Wolken, finster wie die deutsche Gegenwartsliteratur, aufziehen. Die letzten hellen Minuten verbringt der Schreibende noch mit den kurzen Texten des deutschen Autors Christian Y. Schmidt. Der war einst Chefredakteur des Satire-Magazins „Titanic“ und lebt mittlerweile, verheiratet mit einer Chinesin, in Peking. Von dort berichtet er auf nicht uncharmante Weise unter anderem in der deutschen „Tageszeitung“. Eine Sammlung dieser Kolumnen ist unter dem Titel „Im Jahre des Tigerochsen“ auch als Buch erschienen. Dort erklärt uns Schmidt das gewaltig grosse Land China, und zwar nicht so eurozentristisch, wie es beispielsweise die Schweizer Ai Weiwei-Kunstmafia hierzulande immer wieder versucht. Das geht dem Schreibenden sowieso schon längst auf den Geist, dieses ewig selbstgerechte europäisch-amerikanische Geklöne von Demokratie und so. Dieses saudumme Getue wegen sogenannter Diktaturen, seien es China oder Kuba oder was immer auch. Was ist denn das eigentlich hier für ein Scheiss-Staat, in dem wir hier leben? Eine Demokratur!

Nun, in diesem China-Buch wird sachte an der Voreingenommenheit und an der westlichen Wahrheitspose gerüttelt. Es ist nicht alles so, wie es aus der engen euroamerikanischen Sicht aussieht. Schmidt berichtet von Megacities in der Mongolei, von einer Aufführung der Dreigroschenoper in Peking, von einem Fussballorakel in einer Nation, die sich nicht für Fussball interessiert, von Geldratgebern und einem deutschen Minister, der sich blamiert. – Notizen aus China 2009 bis 2011, lehrreich, lustig, lobenswert!

Dann regnet es auch schon einen Tag und eine Nacht durch. Mit zäher Beharrlichkeit fällt der Regen, da hilft kein Flehen und Fluchen. Während der Berg langsam abrutscht, kommt das dickste Buch aus dem Gepäck dran, 540 Seiten warten auf den Schreibenden. Eine Biographie, teils erfunden, teils empfunden. Es geht um einen gewissen Kurt Gerron. Er wurde bekannt durch ein Lied: „Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht. Doch Macheath, der hat ein Messer, und das Messer siehst du nicht!“ Das kennt jeder, genau, Dreigroschenoper. Gerron heisst eigentlich Gerson und war in den 1920er-Jahren ein bekannter Schauspieler und Filmregisseur in Deutschland, unter anderem spielte er auch mit Marlene Dietrich in „Der blaue Engel“ mit. Und Gerson war Jude. Er floh nur halbherzig vor den Nazis, nach Holland statt nach Hollywood, und landete schliesslich in Theresienstadt.

In der Propaganda des Dritten Reichs wurde Theresienstadt als angebliche „jüdische Mustersiedlung“ verschiedenen ausländischen Besuchern vorgeführt. In Wirklichkeit war es ein KZ mit mehreren Aufgaben: ein Gestapogefängnis, ein Transitlager für Auschwitz und es diente im Rahmen der Nazi-Propaganda als „Altersghetto“ bzw. als Musterlager für prominente Juden. Wie ebendieser Gerron. Der soll dann im Auftrag des Lagerchefs Rahm sogar einen Werbefilm über Theresienstadt drehen. Vielleicht retten die Dreharbeiten Gerron das Leben, es ist schon 1944 und das Dritte Reich wankt. Vielleicht aber ist es auch ein gänzlich sinnloser Verrat an allem, was Gerron heilig ist.

Charles Lewinsky erzählt gewohnt üppig und eindrücklich. Es dürfte keine falsche Voraussage sein, dass dieses Buch in diesem Herbst ganz gross rauskommt. So wie der Schreibende anderntags aus dem verregneten Tessin!

 

 

 

Playlist:

Konstantin Richter:
"Kafka war jung und er brauchte das Geld".
Kein & Aber, 174 Seiten,
20.90 Franken

Anthony McCarten: "Liebe am Ende der Welt".
Diogenes Verlag, 360 Seiten,
38.90 Franken

Caro Ramsay: "Sein eigen Fleisch und Blut".
Blanvalet Verlag, 478 Seiten,
24.90 Franken

Christian Y. Schmidt:
"Im Jahre des Tigerochsen".
Verbrecher Verlag, 188 Seiten,
19.50 Franken

Charles Lewinsky: "Gerron".
Nagel & Kimche, 540 Seiten,
34.90 Franken