Porträts aus Chicagos Küchen / Gabi Kopp

Porträts aus Chicagos Küchen - Gabi Kopp

 

Als ich 2008 nach Chicago kam, entschied ich mich, zurück zu meinen zeichnerischen Anfängen zu gehen und mit Blei- und Farbstiften zu arbeiten. Da Chicagos Geschichte sehr stark von der Lebensmittelproduktion geprägt ist – man denke nur an die gigantischen Schlacht­­höfe, die Upton Sinclair im Roman «Der Dschungel» beschrieb – , interessierte es mich als ehemalige Köchin die Arbeitsbedingungen meiner Berufsgenossinnen und -genossen kennenzulernen. Ich setzte mich also in die Küchen und zeichnete die Leute vor Ort. Kochen und Zeichnen haben gemeinsam, dass sie sich beide als Türöffner und zur Überwindung von Sprachbarrieren eignen. Ich besuchte kleine Restaurants verschiedener Nationalitäten, das Fünf-Sterne-Hotel Four Seasons, aber auch Suppenküchen, in denen für Obdachlose gekocht wird; so entstand eine Sammlung von Immigrantengeschichten. Ich war beeindruckt, wie viele Leute in den USA für wenig Geld, ohne Ferien und Kranken­versicherung arbeiten.

 

Porträts aus Chicagos Küchen - Gabi Kopp

 

La Patisserie P – Chinesische Bäckerei in Uptown Chicago

In derselben Woche, in der ich Peter besuchte, erschien sein Foto auf der Titelseite des Chicago Reader, da er an der Weltmeisterschaft für Konditoren in Paris teilgenommen hatte. Bei meinem Besuch in seiner engen Backstube traf ich auf drei chinesische Bäcker, die mit kleinen Hölzchen und Lebensmittelfarbe rote Zeichen auf Brötchen malten, um die verschiedenen Füllungen zu bezeichnen: Barbecue, Schwein, Rind, rote Bohnen. Weil die drei Bäcker kein Englisch sprachen, konnte ich nur Peter interviewen.

Peter Yuen
Bis er zehn Jahre alt war, lebte Peter Yuen (37) in Hongkong, dann kam er mit seiner Familie nach Chicago. Sein Vater, ein Konditor, eröffnete die New Hong Kong Bäckerei im Chicagoer Quartier Argyle; bei ihm lernte Peter das Handwerk. 1994 heiratete er Susan, auch sie aus Hongkong stammend; die Bekanntschaft hatte Peters Tante in die Wege geleitet. Im Jahr 2000 machte Peter eine halbjährige Ausbildung in französischer Patisserie. Nachdem er in Fünf-Stern-Hotels wie dem Four Seasons gearbeitet hatte, kaufte Peter die Bäckerei von seiner Familie und änderte den Namen in Patisserie P.; seine Frau übernahm die Geschäftsleitung. Peter erzählt, dass er mit qualitativ guten Zutaten arbeite, die Kundschaft aber wisse das oft nicht zu würdigen. 60% seiner Kunden sind Filipinos, 15% weisse Amerikaner, 15% Vietnamesen und etwa 5% sind Chinesen. Peter ist froh, wenn er Ende Monat die Angestellten bezahlen kann. Wie viel für ihn und seine Familie übrigbleibt, kann oder will er nicht sagen. Er und seine Frau arbeiten 7 Tage in der Woche, 12 Stunden am Tag – ohne Krankenversicherung, ohne Ferien. Wenn sie jeweils völlig ausgebrannt sind, schliessen sie die Bäckerei für ein, zwei Tage, um sich zu erholen. Peters Stolz sind seine Viennoiserien (Feingebäcke) und süsse Teige, wozu vor allem Mehl, Reis und Schweinefleisch verwendet werden. Sein Traum ist es, eines Tages die erfolgreichste Feinbäckerei in den USA zu führen und die Produkte an Fünf-Sterne-Hotels verkaufen zu können. Wenn er genug Geld hätte, um sich früh pensionieren zu lassen, würde er sich rund um die Welt essen.

www.lapatisseriep.com

 

Porträts aus Chicagos Küchen - Gabi Kopp

 

The Old Lviv – Ukrainisches Restaurant im Ukrainian Village

Das Old Lviv bietet neben A la Carte-Gerichten ein Buffet mit ukrainischen, russischen und polnischen Spezialitäten an: Kohlrollen, Fleischbällchen, Piroggen, Russische Ravioli (Pelmeni), gefüllte Hühnchenbrust und anderes mehr. Die meisten Gäste sind Ukrainer aus dem Quartier. Liliana, die Chefin des Old Lviv, war erst skeptisch, als ich ihr meinen Wunsch vortrug, in der Küche zu zeichnen. Dabei wurde mir klar, dass Restaurantküchen intime Orte sind, in die man nicht jeden Fremden eintreten lässt. Doch nachdem sich Liliana mit einem Freund be­sprochen hatte, gab sie mir ihr OK. Liliana bietet auch Essen zum Mitnehmen an, hat aber kein Personal für den Hauslieferdienst. Ein Nach-teil in diesen harten Zeiten, wie sie sagt. Sie kämpft mit der harten Wirtschaftslage, denn die Leute bleiben zu Hause und geben kein Geld aus.

Liubow Sobko – Köchin
Liubow Sobko ist in der Stadt Lviv in der Ukraine geboren. In der Sowjetunion lernte sie Köchin, heute ist sie 53 Jahre alt und lebt seit 1990 im Ukrainian Village; seit damals, als sie mit ihrem Mann nach Chicago kam, um ihre Grosstante zu besuchen. Ihr Mann, ein ehemaliger Lastwagenfahrer, arbeitet als Bauarbeiter, Kinder haben sie keine. Liubow arbeitet seit zehn Jahren sechs Tage in der Woche und acht Stunden am Tag im Old Lviv. Sie steht um sieben auf, arbeitet von neun bis fünf und erhält 10 Dollar in der Stunde. Ihr grösster Wunsch ist es, einst wieder in der Ukraine zu leben.

Liliana Fedechko – Managerin
Liliana Fedechko ist 42 Jahre alt. Sie kam 1997 aus Lviv mit Ehemann und Sohn in die USA, weil sie eine Greencard erhalten hatte. Eigent-lich ist sie ausgebildetete Geografielehrerin, doch in Chicago schlug sie sich zehn Jahre lang als Putzfrau durch. Vor ein paar Monaten übernahm sie das Old Lviv. Auch sie arbeitet sechs Tage pro Woche von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends. Ihr Stundenlohn beträgt ca. 25 Dollar in der Stunde. Liliana lebt mit ihrer Familie in Winchester, einem Vorort im Südwesten, von wo sie in 45 Minuten zur Arbeit fährt. Ihr Mann, ein ehemaliger technischer Zeichenlehrer, arbeitet für die U.S. Food Company; fünf Tage pro Woche hat er Nachtdienst. In Zukunft möchte sie dort leben, wo ihre Söhne sind.

www.yelp.com/biz/old-lviv-chicago

 

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