MAGAZIN

XXI

XXI ist der Name einer neuen französischen Zeitschrift, die 2008 gegründet wurde, vierteljährlich erscheint, 208 Seiten umfasst und gänzlich ohne Werbung auskommt. Die Artikel sind mehr als 10 Seiten lang, außer einer Fotostrecke sind sämtliche Beiträge illustriert. Dazu enthält jedes Heft einen 30-seitigen Reportage-Comic.

XXI steht für 21. Jahrhundert und kostet 15 Euro. Verrückt? unmöglich? Nein, die Zeitschrift ist mit 45'000 verkauften Exemplaren ein Erfolg. Die Gründer, Laurent Beccaria und Patrick de Saint-Exupéry, haben einfach das gemacht, wonach sie Lust hatten, eine Art französischer New Yorker, mit einem Comic dazu. Und diese Lust spürt die Leserin und der Leser.

Die Qualität der geschriebenen und gezeichneten Beiträge, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurden, macht jede einzelne Aus­gabe zu einem Lesevergnügen. Jedem Artikel folgt auf einer Doppelseite ein Anhang mit themenbezogenen Lese-, Musik- und Filmempfehlungen sowie nähere Erläuterungen zur politischen und kulturellen Situation sowie eine Landkarte.

Im Gegensatz zum Geo werden hier aber nicht nur schöne Länder und Kulturen präsentiert, sondern auch handfeste politische Skandale aufgedeckt.

In jeder Ausgabe präsentieren mehr als 10 Illustratorinnen und Illustratoren ihre Beiträge. Hierbei findet man eine gelungene Mischung aus unbekannten und bekannten Zeichnern. Der 30-seitige Reportage-Comic dreht sich hauptsächlich um das Alltagsleben: In der aktuellen Ausgabe (Nr. 15) etwa erzählt Didier Tronchet von seiner Wohnstraße in Quito, in Ausgabe 12 begleitet Olivier Kugler einen LKW-Fahrer durch den Iran oder Joe Sacco berichtet in Ausgabe 13 über das desolate Leben von Tagelöhnern in Indien.
www.revue21.fr

David Basler

«XXI»
Rollin publication Paris, 208 Seiten, Softcover, farbig,
Euro 15.–

 

 

Cover-Illustrationen von
Philip Schaufelberger, www.daslip.ch

 

«XXI»
 

Grrrl Comics

Die in «Queen of the Black Black» zusammengestellten Comics erschienen in den frühen Neun­zigern in Megan Kelsos Comicreihe «Girlhero». Aufbruch und Selbstbesinnung standen zu dieser Zeit für Frauen in der unabhängigen amerikanischen Musik- und Comicszene im Fokus. Auf der Ebene der Musik war die Riot-Grrrl-Bewegung ein Versuch, über die Aneignung der Produktionsmittel die unausgewogenen Geschlechterverhältnisse im Musikbetrieb ins Wanken zu bringen; davon angespornt begannen auch Zeichnerinnen der mangelnden Sichtbarkeit von Frauen als Comicautorinnen abzuhelfen. Neben «Girlhero» entstanden selbstverlegte Reihen wie «Deep Girl» von Ariel Bordeaux, «Dirty Plotte» von Julie Doucet oder «Slutburger» von Mary Fleener, die sich auf feministische Traditionen im damals wie heute männlich dominierten Comicbetrieb beriefen.

Dieser politische Anspruch findet sich auch in einigen der Stories in «Queen of the Black Black» wieder, etwa wenn der Protagonistin in «The Father Mask» auf einer Party erklärt wird, sie als Mädchen könne die Musik nicht verstehen: «Girls just don’t get it». Doch geht es Megan Kelso weniger darum, in ihren Comics Missstände zu beklagen; ihr politisches Programm, wie auch das vieler ihrer Zeitgenossinnen, besteht vielmehr darin, in Alltagsbeschreibungen die Erwartungen an die Frau in der Gesellschaft (wie auch im Comicbetrieb) abzubilden und zu reflektieren sowie die Comicszene um eine weibliche Perspektive zu bereichern.

Das mag heute, nach den Erfolgen von Marjane Satrapis’ «Persepolis» oder Alison Bechdels «Fun Home» nicht mehr so bedeutsam erscheinen, zu Beginn der Neunziger jedoch waren die Comics von Kelso und ihren Kolleginnen Pionierarbeiten, die den Weg dafür bereitet haben, dass mittlerweile erfreulicherweise das Medium Comic auch für Frauen als künstlerisches Ausdrucksmittel interessant geworden ist.

Die zwölf Stories in «Queen of the Black Black» sind zwischen 1993 und 1998 entstanden und geprägt von Experimenten mit unterschiedlichen Stilen und Ausdrucksmöglichkeiten; mal mit vorsichtigem, reduziertem Strich wie in «Reunion», mal expressiv und düster wie in «Frozen Angel». Sie dokumentieren die Suche Kelsos nach einer eigenen Sprache, die sie in ihren späteren Arbeiten wie der Graphic Novel «Artichoke Tales» schliesslich gefunden hat.

Jonas Engelmann

Megan Kelso: «Queen of the Black Black».
Fantagraphics - Seattle 2011, 160 Seiten, Softcover, teilweise farbig,
USD 20.–

 

 

 


 

«Queen of the Black Black»
 

Model, Fotografin, Kommunistin

Tina Modotti, 1896 in Italien geboren, folgt 1913 ihrem Vater nach Kalifornien; sie arbeitet als Näherin und Model, spielt in mehreren Hollywoodfilmen, wird Modell, Muse und Geliebte des Fotografen Edward Weston, mit dem sie 1923 nach Mexiko zieht. Dort gerät sie in die nachrevolutionären Künstlerkreise um den Muralisten Diego Rivera, wird erfolgreiche Fotografin, tritt der kommunistischen Partei Mexikos bei und hat eine Liaison mit Julio Antonio Mella, dem Gründer der kubanischen KP, der vor ihren Augen erschossen wird. 1930 wird Tina Modotti ausgewiesen; über Paris und Berlin landet sie in Moskau. Sie wirft ihre Kamera in die Moskwa, arbeitet für die Internatio­nale Rote Hilfe und geht eine Beziehung mit ihrem Landsmann und Kominternagenten Vittorio Vidali ein, einem der mutmasslichen Mörder von Trotzki und Mella. Es folgen Geheimdienstaufträge in Wien, Paris und Warschau; im spanischen Bürgerkrieg arbeitet sie im Dienste Stalins für die internationalen Brigaden, nach Francos Sieg zieht sie mit Vidali zurück nach Mexiko, wo sie 1942 einen mysteriösen Tod – war es ein Herzinfarkt? – stirbt.

Nicht weniger dicht und spannend als diese geraffte Vita liest sich Angel de la Calles Biographie «Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts». Der 1958 geborene Spanier Angel de la Calle ist zwar kein sonderlich begnadeter Zeichner – seine wild schraffierten Zeichnungen bleiben zu skizzenhaft, um seine Protagonisten psychologisch zu deuten – doch er ist ein begeisterter Erzähler, der Modottis bewegtes Leben mit Verve schildert. Immer wieder baut er auch autobiographische Passagen ein, in denen er über seine Obsession für die atemberaubend schöne Revolutionärin, sein Aufwachsen unter Franco und seine eigenen politischen Überzeugungen, aber auch über die blinden Flecken in Modottis Biographie sinniert – war sie eine Komplizin im Anschlag auf Mella? Warum gab sie die Fotografie auf?

Der Untertitel von de la Calles Modotti-Biographie ist nicht übertrieben. In ihrem Leben spiegeln sich wesentliche kulturelle und politische Strömungen ihrer Zeit; sie verkehrte nicht nur mit vielen bedeutenden Künstlern, Intellektuellen und Politikern, sondern war selber als Fotografin und Kommunistin in vielen Kampfzonen ihrer Zeit engagiert; damit vermittelt de la Calle über Modottis Leben hinaus einiges über die bewegte Zeit zwischen den Weltkriegen.

Christian Gasser

Angel de la Calle: «Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts».
Rotbuch Verlag, 272 Seiten, Klappenbroschur, s/w,
Euro 16.95 / sFr 25.90

 

 

 


 

«Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts»
 

Sprechblasen in Aktion

Es ist ein ungewöhnlicher Einstieg: «Irgendwie dazwischen» beginnt mit dem kurzen Selbstporträt von vier Mädchen: Maria, Lola, Violet und Ashley. Sie kennen sich nicht persönlich, aber sie alle haben eine gemeinsame Freundin. Dann folgt das Deckblatt einer Patientenakte aus einer psychiatrischen Anstalt – und dann zwei sehr schwarze Seiten mit zwei sehr schwarzen Sätzen: «Ich will mich nach mir anfühlen. Ich weiß nur nicht mehr, wer ich bin». Es sind die Worte von Tracy. Die 17-Jährige wurde nach einem Zusammenbruch direkt in die Klinik eingewiesen. Nun soll sie in Einzel- und Gruppengesprächen wieder zu sich selbst finden, ihren Weg in den Abgrund verstehen lernen und aus dem seelischen Loch wieder herausfinden.

Tracy White erzählt ihre autobiografische Geschichte in ihrem Comic-Debüt mit erschreckender Offenheit. Der Leser erfährt viele Details über ihr Suchtverhalten, ihre Depressionen und ihre Magersucht via die kapitelweise wiederkehrenden Kommentare der vier Freundinnen – das nimmt ihnen ein wenig vom schambehafteten Charakter des Seelenstriptease. Andererseits verdeutlicht es die Hilflosigkeit von Tracys Umgebung. Das gilt auch für die Erzählgegenwart in der Psychiatrie: Dort findet Tracy zwar auch Freundinnen, darunter Ashley, doch diese eckt auch ständig an. Ihre Agressivität trägt Tracy White als Schutzschild vor sich her. Im Kontrast dazu stehen die Zeichnungen, mit denen sie ihre «zu 99 Prozent wahre Lebensgeschichte» erzählt. Ihren Aufenthalt in der Klinik skizziert sie in zarten, fragilen Zeichnungen, die adäquat ihre gebrechliche Psyche widerspiegeln. Die Bilder zeigen wenig Bewegung und kaum Raumtiefe oder Hintergrund. In der Klinik sitzt man bei der Therapie oder liegt im Bett, die wirkliche Welt beginnt erst hinter den weißen Wänden. Das Wichtigste hier sind Worte. Und so sind auch die Sprechblasen die aktionsreichsten Momente dieses Comics. Sie wabbern aus den Mündern, ziehen sich in langen Ketten durchs Panel, schlängeln sich umeinander oder greifen über in die nächsten Panels. Das hat bei aller Statik der Figuren etwas sehr Dynamisches. Tracy White ist ein so berührendes wie beunruhigendes Debüt gelungen. Und man ist froh, nach dem wenig tröstlichen Ende, per Suchmaschine zu erfahren, dass es ihr nach dem halbjährigen Aufenthalt wohl inzwischen wieder gut geht. Sie bloggt jedenfalls regelmäßig auf traced.com und arbeitet an einem zweiten Buch.

Christian Meyer

Tracy White: «Irgendwie dazwischen»
Walde + Graf, 152 Seiten, Hardcover, s/w,
Euro 18.95 / sFr 26.–

 

 

 


 

«Irgendwie dazwischen»
 

Die Komik beim Sandwichmachen

Kann ein Kochbuch zugleich als Comic überzeugen? Sozusagen Gaumen und Gemüt gleichermassen erfreuen? Von der Natur her spricht eigentlich nichts dagegen. Eine gute Mahlzeit und ein guter Humor gehören schliesslich zu den ältesten Heilmitteln des Menschen überhaupt. Das weiss auch der Schweizer Comic-Zeichner Andy Fischli: In seinem neusten Comic «Ein Eingeklemmtes. Und andere leckere Sachen zum Selbermachen» tischt er frische Kost auf und würzt sie pikant mit einer Prise feinem Witz. Mit dieser Mischung trifft er ganz den Geschmack jener, für die Genuss nicht bei der glamourösen Etikette beginnt, sondern beim Schalk hinter den Ohren.

Im Vergleich zum eher düsteren und nachdenklichen Vorgängerwerk «Der Sinn», in dem dürre Gestalten ohne Gesichter durch die Welt tappen, ist «Ein Eingeklemmtes» einiges lebenslustiger. Die jeweils um ein Rezept herum aufgebauten Kurzgeschichten und Gags drehen sich um einen kleinen, etwas tapsigen Koch mit koboldartigem Aussehen und Verhalten, dessen cholerische Ausbrüche und Missgeschicke die sachlichen Rezepte auf amüsante Weise kontrastieren. «Ein Eingeklemmtes» unterhaltet bis zum letzten Bild und überzeugt mit seiner leichten Lesbarkeit. Diese verdankt sich der dreifarbigen, schwarz-weiss-grünen Kolorierung und der Abwechslung durch laufend variierte Panelgrössen und ein sehr schönes Lettering.

Für deutsche oder österreichische Leser mag die eine oder andere Speise etwas gar schweizerdeutsch klingen (das beginnt beim Titel: «Ein Eingeklemmtes» ist ein schweizerisches Umgangswort für Sandwich) – dies sollte jedoch nicht weiter vom Konsum abhalten: Fischlis Humor überwindet solche Kulturgrenzen spielend. Mit der Veröffentlichung im Eigenverlag und mit den spitzen Anmerkungen – etwa zur «Cervelat-Krise» von 2006, als ein EU-Importverbot für Rinderdärme aus Brasilien die Schweizer Wurstproduktion gefährdete – erinnert Fischli ein bisschen an Mike Van Audenhoves «Koch Komix», die Ende der Achtzigerjahre im «Tagblatt der Stadt Zürich» und im Selbstverlag erschienen.

Florian Meyer

Andy Fischli: «Ein Eingeklemmtes. Und andere leckere Sachen zum Selbermachen».
Picaverlag, 96 Seiten, Hardcover, dreifarbig,
Euro 29.– / SFr 38.–

 

 

 


 

«Ein Eingeklemmtes. Und andere leckere Sachen zum Selbermachen»
 

Ein Leben aus Eishockey und Einsamkeit

Die Erinnerung kann versöhnen, und sie kann belasten. Das erfahren auch die Brüder Lou und Vince Lebeuf sowie ihr Verwandter Jimmy Lebeuf, die unberührt vom grossen Weltgeschehen in der südkanadischen Provinz Ontario aufwachsen. Das Leben in der landwirtschaftlich geprägten Region Essex County ist eintönig, und die Tatsache, dass die Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts laufend an wirtschaftlicher Bedeutung verliert, macht das Leben der Lebeufs nicht reichhaltiger. Eishockey ist die einzige Leidenschaft, die ihrer täglichen Tristesse etwas Sinn gibt. Alle drei sind talentierte Spieler, doch keinem gelingt der Aufstieg in die Profihockeyliga NHL. Enttäuschungen und Schicksalsschläge verhindern ihre Sportkarrieren: Vince zieht sich auf die Farm der Familie zurück und verliert seine Frau und Tochter bei einem Autounfall. Lou und Jimmy verletzen sich auf dem Eis so schwer, dass sie mit dem Hockeyspielen aufhören müssen. Lou fristet danach ein einsames Leben als Tramführer in der Finanzmetropole Toronto, und Vince übernimmt eine Tankstelle in Essex County. Erst als sich sein Weg mit demjenigen des verträumten Waisen Lester kreuzt, heitert sich das Leben der beiden auf. Dauerhaftes Glück ist freilich keinem vergönnt.

Mit der Essex-County-Trilogie widmet Jeff Lemire seiner Heimatstadt eine feinfühlige Hommage. Indem er die Hochs und Tiefs der Familie Lebeuf über drei Generationen nachverfolgt, verdichtet er ihr Schicksal zugleich zu einem Porträt der ganzen Region. Lemires mehrfach ausgezeichnete Graphic Novel fasziniert durch die unaufdringliche und doch intensive Art, wie er die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen schildert und aufzeigt, wie sich die Lebeufs immer wieder verlieren und erneut zusammenfinden.

Flüchtig und zerrissen wie die Beziehungen der Lebeufs sind auch Lemires Zeichnungen. Die leicht verzerrten Landschaften und die expressiven Gesichtszüge erinnern an Ted McKeever und an Baru. Mit seiner direkten Erzählweise reiht sich Lemire in die Traditionslinie grosser Comic-Autoren wie Will Eisner, David Mazzucchelli oder Craig Thompson ein.

Florian Meyer

Jeff Lemire: «Geschichten vom Land. Essex County Band I».
Edition 52, 112 Seiten, Softcover, s/w,
Euro 11.– / SFr 16.50

Jeff Lemire: «Geistergeschichten. Essex County Band II».
Edition 52, 224 Seiten, Softcover, s/w,
Euro 18.– / SFr 25.90

 

 

 


 

«Geistergeschichten. Essex County Band II»
 

Short Cuts

Ein skurriles und unterhaltsames Figurenpersonal tummelt sich in Andreas Dierssens Episoden-Comic «Die besten Zeiten». Rentner bessern durch Taschendiebstahl ihren Unterhalt auf und zücken in brenzligen Situationen auch mal den Revolver, ein kleines Mädchen hat Spaß daran, Lügen zu verbreiten, woraufhin ein wildgewordener Mob zwei Männer verprügelt und eine männliche Fee versucht, Wünsche an den Mann zu bringen, was aber gar nicht so einfach ist. Denn wer glaubt schon daran, dass es Feen tatsächlich gibt – und erst recht männliche? Real und surreal zugleich sind die Geschichten, die Dierssen in Hamburg angesiedelt hat und um den Protagonisten kreisen lässt; einen Misanthropen, der am Ende von seinem besten Freund ein ganz besonderes Geschenk erhält, das hier aber nicht verraten werden soll. Bei jedem einzelnen Wort und Bild spürt man, dass Dierssen ein sehr genauer Beobachter seiner Umwelt ist. Nicht nur in Gestik, Mimik und Habitus charakterisiert er seine Figuren äußerst realistisch; die lebendigen Dialoge lassen den Leser vor allem vergessen, dass er einen Comic liest, und nicht wirklich mit dem Protagonisten in der U-Bahn sitzt oder durch die Hamburger Straßen zieht. In tristem Grau und Weiß sind die Zeichnungen gehalten und spiegeln die Grundstimmung der melancholischen Episoden wieder. Dierssen ist ein Lakoniker, der seine Figuren mit all ihren Marotten und Schrägheiten liebevoll portraitiert und ihnen Gutes widerfahren lässt, was leider nur zu selten in der Realität passiert. Die verschiedenen Episoden sind von einer solch intensiven Stimmung geprägt, dass jede einzelne den Comic zu einem nachhaltigen Leseereignis macht.

Matthias Schneider

Andreas Dierßen: «Die besten Zeiten».
Carlsen Verlag, 160 Seiten, Hardcover, s/w,
Euro 19.90 / SFr 32.90

 

 

 


 

«Die besten Zeiten»

Ground Zero

Es verwundert nicht, dass es nach «9/11» einen immensen kreativen Output bei amerikanischen Comic-Zeichnern gab. Einerseits dienten die Comics der Traumabewältigung und andererseits lieferten die Terroranschläge genau den Stoff, aus dem Comic-Storys bestehen. Neue Helden wurden geboren, Feuerwehrmänner, Polizisten und Sanitäter, die am Ground Zero ihr Leben riskierten, sowie mutige Fluggäste, die Zivilcourage bewiesen. Nicht zu vergessen der Superschurke Bin Laden, der es gewagt hatte, die USA in ihrem eigenen Land anzugreifen. Er löste in den USA eine Welle des Patriotismus aus, wie es das Land seit Pearl Harbour nicht mehr erlebt hat. Eine der wenigen kritischen Stimmen gehört Art Spiegelman. Seine Zeitungscomicserie «Im Schatten keiner Türme», die für die deutsche Wochenzeitschrift Die Zeit entstand, wurde hauptsächlich in europäischen Zeitungen nachgedruckt. Warum? Stein des Anstosses für das US-amerikanische Publikum scheint ein Bild mit Spiegelman an seinem Zeichentisch zu sein, links und rechts flankiert von George W. Bush mit Revolver und Bin Laden mit blutigem Krummschwert in der Hand. Alle grossen Medien in den USA lehnten die Serie aufgrund dieser «kritischen» Abbildung ab, bis auf eine kleinere jüdische Zeitung. 2004 erschienen der Comic erstmals als Album in den USA, nun liegt auch die deutsche Ausgabe vor. Da die zehn Zeitungsseiten auf normalem Papier nicht einmal ein Heftchen abgeben würden, druckte man sie auf dickem Karton, sodass die Publikation aufgrund der Haptik an ein Kinderbuch erinnert, was sie wegen des Inhalts wahrlich nicht ist.

Spiegelman spricht offen über das Trauma, das der Anschlag bei ihm verursacht hat. Seine Tochter ging in unmittelbarer Nähe der Türme zur Schule, und die Familie Spiegelman erlebte, wie die Aschewolken durch die Strassenschluchten schossen. Spiegelman behält jedoch weiterhin eine kritische Distanz und verurteilt den blinden US-amerikanischen Patriotismus. Diese ambivalente Spannung spiegelt sich in seinen Comic-Zeitungsseiten wieder. Autobiografische Erlebnisse stellt er Alltagsbeobachtungen und politischen Ereignissen gegenüber und flüchtet sich darüber hinaus immer wieder in die Welt der Comic-Klassiker. Spiegelmans Tableau-Comics sind verstörend und berührend zugleich. Manches wirkt zwar konstruiert und vermittelt so vielleicht Spiegelmans Anstrengungen bei der Auseinandersetzung mit dem Thema, doch gehört die Publikation «Im Schatten keiner Türme» sicherlich zu den reflektiertesten Reaktionen auf den Terroranschlag. Ein unverzichtbares Zeitzeugnis.

Matthias Schneider

Art Spiegelman: «Im Schatten keiner Türme».
Atrium Verlag, 42 Seiten, Hardcover, farbig,
Euro 34.90 / SFr 47.90

 

 

 


 

«Im Schatten keiner Türme»

Wenn die Einfälle ausbleiben

Fehlende Inspiration, die Angst vor der leeren Seite, die Schwierigkeit, ein Thema mit Inhalt zu füllen – viele Schriftsteller und sicher auch Comic-Zeichner kennen diese Probleme. Vielleicht hat auch der Kasseler Zeichner Leonard Riegel persönliche Erfahrungen mit dem Thema in seiner Erstveröffentlichung gemacht. Denn in den zwei Geschichten seines Albums geht es genau darum – um Inspiration oder vielmehr deren Fehlen. Wer Riegels Strips aus der Titanic kennt, weiss, dass hier mit viel Humor erzählt wird. So geht es in der ersten Geschichte um einen Autoren von Glückskeks-Sprüchen und in der zweiten um jemanden, der seine Memoiren schreiben möchte, aber trotz Schriftgrösse 22 nicht über sieben Seiten hinauskommt.

Riegel vermag seinen Figuren dabei mit kleinsten Details Ausdruck zu verleihen, obwohl sie nicht einmal Augen besitzen. Überhaupt hält er seine Zeichnungen möglichst minimalistisch und stellt immer nur die für die Handlung unmittelbar wichtigen Elemente dar. So verzichtet er fast komplett auf Hintergründe, wodurch der Eindruck entsteht, die Figuren seien von Leere und Ideenlosigkeit umgeben. Dazu passt, dass es immer wieder Panels gibt, in denen nichts geschieht und nicht gesprochen wird. Bilder wie Momentaufnahmen, die das Verstreichen von Zeit und Gedankengängen der Figuren darstellen; gerade sie sind oft die witzigsten Stellen. Die skurrilen Dialoge und Situationen erinnern stellenweise an die Comics von Katz und Goldt, auch wenn Riegels Humor nicht gar so absurd daherkommt.

Riegels Erstling macht viel Spass, ausserdem ist der kleine Band wirklich schön gestaltet. Schade nur, dass man ihn so schnell durchgelesen hat. Von diesem Zeichner wird man sicherlich noch viel zu hören und zu sehen bekommen, und darauf darf man sich jetzt schon freuen!

Jan Westenfelder

Leonard Riegel: «Die Jagd nach der zündenden Idee».
Edition Moderne, 72 Seiten, Hardcover, farbig,
Euro 12.80 / SFr 18.–

 

 

 


 

«Die Jagd nach der zündenden Idee»

Magier, Monster, Meuchelmörder

Schon die grandiose Cover-Illustration mit dem riesigen, gehörnten Dämon wird jedem Horror-/Fantasy-Fan die Freudentränen in die Augen treiben. Wenn dann noch in Versalien «UNGEHEUER!» darüber steht, kann eigentlich schon nichts mehr schief gehen. Aber gut, erst mal schauen, ob der Inhalt halten kann, was der Titel verspricht. Bei «UNGEHEUER!» handelt es sich um eine neue Reihe des kleinen Weissblech Verlags aus dem hohen Norden Deutschlands. Deren erster Teil vereint von Klaus Scherwinski gezeichnete Geschichten aus teilweise vergriffenen Ausgaben der Anthologiereihe «HORRORSCHOCKER», daneben gibt es aber auch zwei deutsche Erstveröffentlichungen und eine Erzählung, die hier weltweit erstmals erscheint. Man mag es erahnen: Hier werden kleine, aber gemeine Gruselgeschichten erzählt.

Am Ende steht in der Regel eine überraschende Wendung, die eigentlich immer irgendwie fies ist. Inhaltlich geht es dabei um Dämonen, Zombies, Geister und Massenmörder. Mehr soll hier nicht verraten werden – der besondere Clou der Geschichten steckt eben in den Pointen und deren meist ziemlich bösem Witz. Allzu ernst nehmen sollte man das alles nicht, denn zwischen den Zeilen taucht auch immer wieder ein gewisses Augenzwinkern auf. Ein leichter Grusel befällt einen beim Lesen dann aber trotzdem hin und wieder. Fast schon im Gegensatz zum eher trashigen Sujet stehen Scherwinskis Zeichnungen. Diese sind nämlich toll aufgebaut und detailreich ausgearbeitet. Dazu spielt er mit Perspektiven und geht vielseitig mit den Panels um, lässt diese immer wieder überlappen, durchbricht sie oder löst sie sogar auf. Positiv anzumerken ist auch die insgesamt sehr schöne Aufmachung des Softcover-Bandes. Dieser enthält ferner ein Interview mit Scherwinski, und zusätzlich wurde nach dem Ende jeder Geschichte eine Seite mit Skizzen u.  ä. eingefügt, die von ihm kommentiert wurden und einem Einblick in den Entstehungsprozess verschaffen. Klar, Tiefgang ist anders. Dafür bietet «UNGEHEUER!» aber gut gemachte und äußerst kurzweilige Unterhaltung und dürfte aufgrund der hervorragenden Umsetzung auch bei dem Horror-Genre eher abgeneigten Lesern Anklang finden.

Jan Westenfelder

Klaus Scherwinski (Zeichnungen) Josef Rother, Levin Kurio & Boris Koch (Text): «UNGEHEUER! #I»
Weissblech Verlag, 68 Seiten, Softcover, farbig,
Euro 9.80 / ca. sFr 16.–

 

 

 


 

«UNGEHEUER! #I»