Schon siegt der Affect

Das geschriebene Wort mit Büchern von Schriftstellerinnen
von Wolfgang Bortlik

 

 

Playlist:

Michèle Roten: «Wie Frau sein».
Essay, Echtzeit Verlag 2011, 140 Seiten,
Sfr. 29.—

Sandra Hughes: «Zimmer 307».
Roman, Dörlemann Verlag 2012, 184 Seiten,
Sfr. 27.50

Milena Moser: «Montagsmenschen».
Roman, Verlag Nagel & Kimche 2012,
395 Seiten, Sfr. 30.—

Jessica Durlacher: «Der Sohn».
Roman, Diogenes Verlag 2012, 408 Seiten,
Sfr. 38.90

Dorothy Parker:
«Morgenstund hat Gift im Mund»
Erzählungen, Verlag Kein & Aber 2011,
208 Seiten, Sfr. 21.90

Dann wollen wir an dieser Stelle doch wieder einmal mit einem Gedicht, nämlich mit einem Ausschnitt aus „Der Sieg der Liebe“ von Johanne Charlotte Unzer (1725–1782) in diese kleine Abhandlung starten:

Schon siegt der Affect!
Entzückende Schmerzen
In Freude versteckt.
Erwachen im Herzen

Es tobt in der Brust
Bey Seufzern und Thränen
Ein Vorwitz zur Lust
Ein treibendes Sehnen

So oft ich dem Witz
Zu lächeln befehle
Durchdonnert ein Blitz
Von Schrecken die Seele


Diese hübschen und sinnigen Verse umschreiben eigentlich Thema und Inhalt der gesamten momentanen Erfolgsliteratur und, wenn ich das so sagen darf, vor allem der Literatur, die von Frauen geschrieben wird.
Johanne Charlotte Unzer wurde zu ihrer Zeit als „anakreontisches Mädchen“ bezeichnet. Keine Beleidigung, beileibe nicht! Sie gehörte zu den Dichtern und ganz wenigen Dichterinnen, die nicht mehr nur über Philosophie und Moral und deren Verkörperung in der Idee von Gott dichteten. Sie schmiedeten ihre Reime vielmehr über die Freuden des Lebens: Locker in schöner Landschaft sitzen, Wein trinken, lieben, Freundschaft und Geselligkeit pflegen und anderes. Man benannte sie nach dem antiken Dichter Anakreon, der eine Art Kolumnist und Gebrauchsdichter bei diversen griechischen Tyrannen war.

Ich hätte hier als Einleitung selbstverständlich auch aus Michèle Rotens Buch „Wie Frau sein. Protokoll einer Verwirrung“ zitieren können, in dem die umtriebige Kolumnistin versucht, den Feminismus und den befrachteten und verhunzten Begriff der Emanzipation von der Last seiner Geschichte und Irrtümer zu reinigen.

Ich glaube, ein zeitgemässer Feminismus ist keine Theorie, keine Ideologie und auch keine politische Bewegung, er hat keine Parolen und typischen Kleidungsstücke. Zeitgemässer Feminismus ist ein Bewusstsein, eine gewisse Sensibilität für allgemeine Ungerechtigkeit (nicht nur frauenbezogene!); er ist jede Frau, die ihren Weg geht.

Das sagt sie doch ziemlich gut, oder?

Trotz all ihrer verdammten Autonomie und Tüchtigkeit ist Felicitas wehrlos der Macht der Liebe ausgesetzt, als sie Domenico trifft. Im Hotel, in dem sie am Empfang arbeitet, steigt der Latin Lover (kann man schon noch sagen, oder?) mit einer älteren Frau ab. Tatsächlich kommen Felicitas und Demonico, nein, Domenico noch zusammen, doch der Typ ist, wie erwartet, ein Filou (kann man das noch sagen? Sonst einfach: Drecksack). Felicitas hat es eh schon schwer mit ihrer Familiengeschichte: Ihre Mutter war noch ein Teenager, als sie auf die Welt kam, der spätere Stiefvater war Schweizer und deshalb ein wirklich ekelhafter Kerl. Der flatterhafte Domenico verlässt Felicitas wieder und diese begeht Selbstmord aus Liebeskummer. Sie kommt prompt ins Fegefeuer, in jenen Empfangsraum, von wo aus es entweder zum Himmel oder zur Hölle geht. Dort arbeitet Felicitas sich mit ihrer Tüchtigkeit bald zur Chefin des Etablissements hoch. Nun wartet sie mit einer hübschen Folterkammer auf Domenico, denn eines Tages wird er kommen. Aber als es dann soweit ist, fällt Felicitas halt doch wieder auf ihn herein.
Der dritte Roman von Sandra Hughes ist eine gelungene, flott gestaltete Tragikomödie mit abenteuerlichen Schauplätzen und Wendungen. Es tobt in der Brust, bei Seufzern und Tränen, aber Hughes schreibt stets handlungsorientiert und auf einen wirklichen Plot hin. So etwas liest man sehr gern.

Auch der neue Roman von Milena Moser hat ziemlich viel beschädigtes, von der Herkunft und Entwicklung gezeichnetes Personal. Ted zum Beispiel ist ein verhinderter Casanova, der sich nur für Frauen interessiert, die ihn abblitzen lassen. Dann sind da auch Nevada, die von ihrem Vater missbraucht wurde, und Poppy, dem von einem nicht erkannten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom das Leben vermiest wird. Oder Wolf, der von seinem Vater regelmässig brutal verprügelt worden ist. Andere Protagonisten sind klassische Geschädigte dieser furchtbar alternativen Lebensentwürfe der 1970er-Jahre. Gemeinsam ist dieser Schar von Romanfiguren, dass sie Yoga praktizieren, immer am Montag. Nevada lehrt es sogar, bis bei ihr eine Form von Multipler Sklerose festgestellt wird. Krankheit? Aber doch nicht im Yoga, das doch so gesund für Leib und Seele ist. Nevada wird abgesägt. Dann aber stirbt die Frau von Wolf, und Poppy, seine Geliebte, bezichtigt sich des Mordes. Selbstverständlich war sie es nicht und am Ende finden sich fast alle der Geplagten und Neurotiker in einem dezenten Happy-End wieder.
Der Roman besticht durch das bunte und pittoreske Personal und teilweise auch durch die eindringliche und witzige Charakterisierung desselben. Doch manchmal ist es einfach zu viel, die Figuren geraten zu Pappkameraden. Die Geschichte bräuchte eher weniger an psychischer Determinierung und stattdessen ein bisschen mehr Handlungsdrive, einen Coup, einen Plot. Nicht nur ein treibendes Sehnen.

Welcome to real tragedy! Jessica Durlacher ist die Tochter des Soziologen und Schriftstellers Gerhard Durlacher, der als einziger aus seiner Familie Auschwitz überlebt und als einer der ersten darüber geschrieben hat. Seine Tochter setzt diese Tradition fort und schreibt auch in ihrem neuen Roman über das Leben von Familien, in denen die Eltern den Holocaust überlebt haben, und wie diese Erfahrung sie und ihre Kinder traumatisiert und geprägt hat. Hier geht es diesmal ganz präzise auch um die Frage nach der Berechtigung von Gewaltausübung.
Die Protagonistin des Romans, Sara Silverstein, ist entsetzt. Ihr Sohn Mitch, holländisch-amerikanischer Doppelbürger, will aus vorderhand unerklärlichen Gründen ein US-Marine – also ein ganz harter und böser Elite-Soldat – werden. Saras Grosseltern sind im KZ von den Nazis ermordet worden, ihr Vater Herman Silverstein hat Auschwitz als Kind überlebt, doch die näheren Umstände der Tragödie bleiben im Verborgenen. Dann mehren sich plötzlich die aktuellen Gewalttaten: Herman stirbt nach einem Unfall, Sara wird fast vergewaltigt, ihre Familie überfallen und Mitchs kleine Schwester schwer traumatisiert. Dahinter steckt ganz offensichtlich ein unfähiger Bauunternehmer, den der alte Herman Silverstein in den Ruin getrieben hat. Sara nimmt sich vor, den faschistoiden Typ mit der alten Pistole ihres Vaters umzunieten, aber sie schafft es nicht. Mitch übernimmt diese unmoralische Aufgabe, ganz offensichtlich vom alten Silverstein kurz vor seinem Tod diesbezüglich instruiert.
Die Geschichte wirkt manchmal ein bisschen konstruiert, die Figuren trotz aller Ambivalenz etwas schematisch. Manchmal klingt auch eine merkwürdige und irritierende Homophobie an, wenn der reiche Sohn Mitch gegen die „Proleten“ wettert. Merkwürdig durchdonnert ein Blitz von Schrecken die Seele.

Dann begutachtete sie, in einer gleichermassen glücklichen Ruhe, ihre Fingernägel, die von einem so dicken und leuchtenden Rot waren, als hätte sie eben erst davon abgelassen, mit den blossen Händen einen Ochsen in Stücke zu reissen.

So schreibt die unvergleichliche Dorothy Parker. Jetzt gibt es eine kleine Auswahl von zehn ihrer sogenannten New Yorker Geschichten. Dabei handelt es sich um umwerfende Satiren auf die feinen Damen und Herren der New Yorker Gesellschaft, aber auch um einfühlsame und zornige Storys, welche die Diskriminierung der Farbigen und den latenten Rassismus der weissen Oberschicht und der Intelligentsia zum Thema haben. Dorothy Parker (1893–1967) war die scharfzüngige Königin der Algonquin-Runde, eines legendären Literatenzirkels, der in den 20er-Jahren in New York das intellektuelle Tempo für Amerika vorgab.
Beim Lesen von Parkers wunderbaren Geschichten wünscht man sich ganz spontan, dass es auch heutzutage noch mehr solche Schriftstellerinnen gäbe, die derart beissenden Witz und unbändige Spottlust haben.