Pässe: die Weibchen der Gipfel /
Maurice Chappaz, übersetzt von Pierre Imhasly

Jul Gordon - Mr. Pete Ole Skullis

Illustration: It's Raining Elephants


Das Schneeokular – ein Ausschnitt Blau

Ein Kreis gereckter Kinne, Augen, die zielen.
Einer auf den anderen gerückt die Felsen; wir aber werden durch diesen verschlossenen Stein hindurchgehn wie Pilger, Hasen, durch eine Biegung, eine Falte, eine drehende Furche.
Die Spalte ist nicht auszumachen.
Der erste Pass, wie eine Hostie hingestellt.
Schon wägen wir sie ab, die Hostie. Und die anderen?
Allmählich sammelt unser Trupp die Gletscher ein, säbelt sie alle durch, die Marien der Moränen, jene weiblichen Übergänge in der Gipfelecke. Ihre Namen sind so etwas wie kurze Gluckser: Pass, Furgg, Tor, Joch. Furgg, was Gabel heisst und Tor für Pforte. Wenn ich sie euch aufzähle, die «Gemsfenster», entwerfe ich, firntrunken, im gleichen einen Gleichschritt hin zu den wüsten Wohnstätten, den Bergen. Nehmt einen Feldstecher: ein sehr hoher Einschnitt, fast ein Gipfel; eine hängende Terrasse; Schwarztor, Weisstor; ein jedes dieser Tore mit mörderischen Briefkästen, so nennt man das, wo ein grosser Führer tauchte, und die Leichen hat man nimmermehr aufgefischt, Halbmaske bleibt ihnen die Spaltenöffnung mit dem schwarzen Brodem.
Ihr meint, man müsste sich anseilen? Meine Skis sind so kurz und die Spalten so lang!
Geh zur Seite, du stinkst vor Angst. Sachte, sachte, wir steigen zu den Ursprüngen auf, zur Geburt...
Wie gespannt wir darauf sind! Die Geburt...
Er schwimmt auf dem Rücken eines riesigen Buckels, und der gleicht den Wiesenhintern auf den Hügeln des Tales, schon ist er da, inkognito, der Pass; kaum dass er sich abzeichnet. Im Gegensatz zu jenen Pass-Ritzen, die unbegehbar ausschauen und die man nicht zu Gesicht bekommt, ehe man sie berührt: schroffe Spalte, Granitzickzack, Katzentritt oder Geisspfad. Ihre Entdecker, vielleicht doch eine Katze, eine Ziege, unbekannte Marco Polos. Ich stelle mir vor: das Tier, und wie es sich als erstes einen Durchgang erzwungen hat. Ich bin da oben herumgelaufen wie der Feldstecher in euren Händen, die hierhin gehen und dorthin, eure Hände, eure Augen, so begierig auf ein Stück Wirklichkeit, das zur Hälfte erträumt ist, und ich habe meinen Leib in die Schneelinse gelegt! Ihr folget mir, da ich das Okular verstopfte, da ich pendelte zwischen den Felsen! Die geheimnisvollen Täler, die man für geheimnisvoll nimmt, richten ihre Pässe auf euch: ein Halbmond; Koppulation von zwei Gesimsen, ein Loch für die Sonne, Polarloch, fern, eine Diele aus blauem Schnee. Der erste Schuss Licht blendet uns, dringt uns bis ins Maul. Die Pässe schiessen!
Sie wissen zu beobachten, die Pässe.
Auf der anderen Seite: Tibet.
Manchmal steigt man von Norden zu diesen Kerben auf, im Schatten wie heiliger Schauer, strafend und kalt. Eine Mulde formt sich aus, Tasche darunter, dann hebt das Gelände steil an. Man muss sich an den Schnee kleben, sich aufrichten auf kleinen Hängen, gespannt die wie Focksegel. Dem Pass voran geht Schweigen. Die Stille der dräunenden Lawine geht voraus. Dein Stocke ertastet den Tiefschnee. Und die Spitzkehren (in den steilen Rinnen begreife ich dieses Wort!) gleichen bald einmal einem Auffliegen. Sich auf die Stöcke stützen, die Handgelenke, das eine Bein anziehen, sachte, sachte das andere heben, und zwar bergwärts – mein Gott! fast hätte ich Witwer gesagt! – dem abweisend vergletscherten Berg entgegen. Pfeiff eine Hymne, wenn du den Eindruck meiner Skis kennen willst, da diese den Pass erreichen!
Der Schattenfaden bringt uns zu den Dunkelschlägen scharfen Blaus, zu jenem blauen Stein, zum blauen Klumpen, dem überm Pass geronnenen Himmel.
Ende des Tals, Ende der erforschten Welt. Was in der letzten Enge einer kleinen Schlucht einen schizophrenen Orgelpunkt vermittelt.
Du hast den Himmel gespürt?
Ich spüre den Himmel, den Gong!
Wenn Kopf, Schultern und Beine die Firnschneide kratzen, vernimmt man die Stimme dieses Blau, eine starke Stimme, tief und dumpf, wie eine Ladung Pulver explodiert sie auf dem Pass. Und gleich darauf der Druckstoss in die Weite, das Krepieren, Aufklatschen der weissen Gipfel im Halbkreis da unten, verloren in der stark mindernden Sonne: blauer Nullpunkt, vom Licht verdünnt.
Die Grenzen erfrischen uns.
Einen Augenblick sind wir darauf – und es gibt kein Vorher, kein Nachher.
Das Nirgendwo der Grate. Hoffnung des Berggängers, der die Ziellosigkeit gewählt hat.

Verhexung: Identifikation mit der Welt

Die Alpinistenprozession trifft auf andere «Hirten». Gletscher hinansteigend ohne Unterlass, scheint mir nämlich, wir führten zuhinterst in den Tälern die Berge auf die Weide. Oder auch, wir seien von einer mächtigen Herde umgeben. Tiergottheiten sind es, die uns aus den Dörfern fortholen, aus unseren Gärtchen mit der sehr fetten Erde, aus der das Knabenkraut stösst, die fleischfeste Pfingstrose. Gärtlein wie Freudenhäuschen, sauergrüne Matten. Wir käuen Vergangenheit wieder; die Ebene, sehr weit hinter uns, dampfender Ziegenmist.
Denn wir sind auf einem anderen Weg. Auf dem Weg zu den grossen Energien. Die den Atem verhalten.
Ich meine die Drachen.
Pässe sah ich wie verschleierte Frauen.
Nachstellungen?
Wer sind wir?
Die Seilschaft hat den weitesten Sattel erreicht. Schneeflügel, die auf den Graten kreuzen, weisse Strände, und sie ziehen gar über die Türme davon, über die felsigen Einfassungen, Sérac-Brüche. Hier, wo es hinausgeht, kommt alles zusammen. Über die Vogelgestalten strauchelnder Erhebung steigt man in den Himmel, zähnezackend das grosse Blau.
Die Flucht der Abhänge! Nur gerade der Goldfinger, Kegel: Lingam der Tête blanche. Und die anderen «Hirten», die hinzutreten. Geradeaus, dort unten! Schwarze Mikroben, anschwellend. Ich nehme eine Gärung wahr, die Entjungferung des Hanges durch den wirbelnden Pulverschnee. Plötzlich dann sitzen sie fünfhundert Meter vor uns auf ihren Säcken, umzingelt von weiten Kreisen wie ineinandergelegte Ringe: Kristianas. Zauberkreise, möchte man sagen. Der Hang damit verziert, bestreift, und in der Schiessscheibe drin reglos zusammen gedrückt die Skifahrer, wie Steine, wie luftholende Taucher. Brustbilder, Rümpfe von Mann-Zelten und schräg ragende Skistöcke, mit Handschuhen bestückt.
Etwas irdisch Menschenhaftes liegt über dem Schnee, das ungeziert Menschliche, das durchs Maul atmet.
So prasselnd die Sonne; schwarz erscheinen sogar die roten Windjacken.
Grob gekörntes Salz ist der Schnee.
Blauer Nullpunkt!

 

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