MAGAZIN

It-Girls & -Boys

Scheinbar ist alles ganz einfach: Zwei zerstrittene, in die Jahre gekommene, ehemalige Rockstars nähern sich einander wieder an und nehmen schliesslich ein Comeback-Album mit ihrer ehemaligen Band «Hell Patrol» auf, während sich ihre eng befreundeten Kinder Roxanne und George – beide Anfang zwanzig – langsam entfremden. Grund für die Versöhnung der Väter ist ihre gemeinsam aufkeimende Abneigung gegenüber dem Lebensstil von Roxanne und George, die ihre party- und drogenreiche Lebensweise als Promi-Kinder zu Geld machen und über ein Reality-TV-Format weltweit ausstrahlen lassen. Die beiden Nachkommen empfinden ihr Leben offensichtlich nur als solches, wenn es von Kameras festgehalten wird. «Dann lass uns abhauen», sagt George auf einer Party zu Roxanne, nachdem sie erfahren haben, dass das Kamerateam einen Autounfall hatte und folglich nichts aufzeichnen kann. «Hatten wir wenigstens Spass?», fragt Roxanne bei einer anderen Gelegenheit nach einer drogenreichen Party – die Kamera scheint es besser zu wissen als sie selber.

So weit die Story des Albums, das an dieser Oberfläche die stets brüchige Lebenswelt zwischen Promi-Status, Drogenabsturz und sensationsgieriger Öffentlichkeit abbildet. Das Tolle an «Roxanne & George» ist jedoch, dass Carolin Walchs Debütalbum jenseits dieser oft unterhaltsamen und manchmal tragischen, in klarem Schwarzweiss gehaltenen Oberfläche auch als Reflexion ganz grundsätzlicher Fragen zum Verhältnis von Realität und vermittelten Bildern gelesen werden kann. In «Roxanne & George» ist nicht mehr unterscheidbar, welche Bilder Aufzeichnungen der Reality-TV-Show darstellen und welche Episoden frei von solchen Inszenierungen sind – und schliesslich spielt das auch gar keine entscheidende Rolle mehr: Jedes Panel der Dokumentation über das Leben der Protagonisten ist Teil eines Spiels mit Fragen betreffend Authentizität in Comic-Form. Gerade aufgrund des Erfolgs dokumentarischer Comics sind die Fragen, die Walch auf diese ironische Art und Weise an das Medium Comic stellt umso wichtiger: Welche Realität wird wie abgebildet? Und was bleibt von der Realität angesichts der Übertragung in ein künstlerisches Medium, das immer gezwungen ist, eine Auswahl zu treffen, Rahmen zu setzen und Schnitte zu tätigen? Über den selbstironischen Ansatz, die Mittel der künstlerischen Inszenierung der «Realität» in Form von permanent anwesenden Kameras immer nachvollziehen zu wollen, fordert Walch ein, was oftmals in der Absicht, die Realität abbilden zu können, verloren zu gehen droht: Ein Hinterfragen der eigenen Sprache, der vermittelten Bilder, ja, unserer ganzen Inszenierung.

Mit ihrem Werk bekennt sich Walch zu einem kritischeren Blick auf alles, was wir als Realität wahrzunehmen bereit sind.

Jonas Engelmann

Carolin Walch: «Roxanne & George».
Reprodukt, 136 S., Softcover, s/w,
Euro 17.00 / sFr. 26.90

 

 

 


 

«Roxanne & George»
 

Die Familie aus der Restekiste

Frau Doktor Waldbeck ist eine so leidenschaftliche wie erfolgreiche Transplantationschi-rurgin, sie eilt von Preis zu Preis – und verpasst dabei ihr Privatleben. Als sie ihrer Einsamkeit gewahr wird, nutzt sie ihre beruflichen Fähigkeiten, um auch ohne männliche Unterstützung eine Familie zu gründen – kurzerhand näht sie aus menschlichen und tierischen Gliedmassen, die bei früheren Experimenten liegengeblieben sind, eine Handvoll durchaus, naja, ungewöhnlicher Kinder zusammen und freut sich auf ein normales Familienleben im spiessigen Reihenhäuschen. Doch hat sie die Rechnung ohne die Gesellschaft (und die Boulevardmedien) gemacht, die «Frau Frankenstein» und ihre «Freak-Familie» verfolgen, bis sie schliesslich untertauchen.

«Patchwork» ist nach dem extraordinären «Ein Mann geht an die Decke» der zweite Wurf der jungen deutschen Comic-Autorin Katharina Greve und ganz wundervoll geraten. Nicht nur die Familie Waldbeck ist ein Patchwork – auch die Geschichte. Greve spinnt ihre aussergewöhnliche Idee einfallsreich weiter; mit sauberen Federstrichen und feinem Humor näht sie Versatzstücke unterschiedlichster Genres zusammen – ob Wissenschaftsthriller, Science Fiction, Liebesromanze, Agentenstory oder Teenagerschmonzette – und flicht nebenbei und mit leichter Hand Themen wie Medienschelte, Waffenhandel, Armut, Multikulturalität, Sozialkritik und rassistischer Terrorismus ein. Und das, wohlverstanden, auf gerade einmal 80 Seiten!

Der Plot ist höchst verwickelt und steckt voller überraschender Brüche und Richtungswechsel, doch Greves Erzählweise ist klar und punktgenau wie ihr stilisierter Strich und die dezente Kolorierung, so dass der Leser inmitten dieser Erzählstränge nie die Orientierung verliert. Im Gegenteil, «Patchwork» fliesst und rollt, dass es eine wahre Freude ist. Man ist von all den in wenigen Panels trefflich charakterisierten Nebenfiguren ganz hingerissen – vom Pflanzen liebenden Killer im Auftrag des Waffenhändlers über den schussligen Boulevard-Reporter und seine eiskalt zynische Chefin bis zum grantigen Muslimenhasser und Bombenbastler. Witzig, berührend und immer unterhaltsam ist «Patchwork» im aktuellen Kontext des deutschsprachigen Comic-Schaffens ein sehr ungewöhnlicher und erstaunlich erfrischender Wurf.

Christian Gasser

Katharina Greve: «Patchwork. Frau Doktor Waldbeck näht sich eine Familie».
Gütersloher Verlagshaus, 80 S., Hardcover, farbig,
Euro 14.90 / ca. sFr. 24.90

 

 

 


 

«Patchwork. Frau Doktor Waldbeck näht sich eine Familie».
 

Die Langsamkeit des Alltags

Goliath of Gath – ein zwar vierschrötiger, aber eher harmloser Kerl – arbeitet als Schreibkraft in der militärischen Administration. Es gelüstet ihn nicht nach Pulverdampf und Auszeichnungen, er will nur – möglichst unbemerkt – seine Arbeit tun. Doch dann gerät er in die Fänge eines politisch ambitionierten Captains, und die Dinge entwickeln sich ganz anders als gedacht.

Wie immer in seinen Comics beweist Gauld auch in dieser Geschichte sein minimalistisches Können, die Komposition der Seiten und Panels ist hervorragend, die oft nur als Silhouetten gezeichneten Figuren könnte man beinahe als Strichmännchen bezeichnen. Gauld wird manchmal mit Edward Gorey verglichen, ein berechtigter Vergleich, auch wenn Gorey eher ein Meister der Einzelbilder voll dunkelster Ironie war, während Gauld äusserst gewandt flüssige und gefühlvolle Erzählungen als Comics zu Papier bringt.

Die Figuren in «Goliath» sind durchaus ansprechend, aber die eigentliche Hauptperson ist die trostlose und Unheil verkündende Landschaft, von Gauld mit unglaublich sparsamem Strich hingezaubert – eine trockene, steinige Wüste, die seit Urzeiten existiert, und die noch lange nach dem Showdown zwischen David und Goliath existieren wird.

«Goliath» umfasst beinahe 100 Seiten, enthält aber nicht viele Worte. Es ist eine Geschichte der Ruhe und der Bedächtigkeit, der abwartenden Stille, der Langsamkeit unseres Alltagslebens. Gauld zitiert fast den ganzen biblischen Text der Geschichte (hervorgehoben durch eine leicht abweichende Typografie), aber die Hauptgeschichte wird einerseits in einem Dialog erzählt, der sich zwischen Goliath und einem neunjährigen Jungen entwickelt, dem leicht überforderten Schildträger des Riesen, andererseits gibt es kurze Passagen, in denen Goliath mit Kollegen oder dem Captain spricht. Es sind sowohl lustige als auch banale oder schlicht blöde Texte, manchmal auch traurige, denn der Leser ahnt sehr bald, wie sich die Dinge entwickeln werden.

Tom Gaulds Werke waren in den letzten zehn Jahren in Amerika selten zu sehen. In Schottland geboren und heute in London lebend, kennt man den Zeichner vor allem durch seine staubtrockenen und skurrilen Cartoons im britischen Guardian – kurze Strips mit literarischen Witzen für intelligente Leser. Seine Werke erschienen auch in Anthologien wie Kramer’s Ergot, als kleine Illustrationen im New York Times Sunday Magazine oder als handwerklich ganz wunderbar ausgearbeitete Mini-Comics, die meist schon am Erscheinungstag vergriffen sind. «Goliath», Gaulds bisher längste Bildergeschichte, ist die erste bei einem grösseren Comic-Verlag publizierte, und man hofft, es werden noch viele weitere folgen.

Mark David Nevins

Tom Gauld: «Goliath».
Drawn and Quarterly, 96 S., Hardcover, s/w mit einer Zusatzfarbe,
ca. $ 19.95

 

 

 


 

«Goliath»
 

Die Ruhe geheimnisvoll vorbeiziehender Züge

Kann eine düstere, von einer belastenden Vergangenheit gezeichnete Erzählung in Liebe und Erfüllung enden? Ja, sie kann, und die beiden Tschechen Jaromír 99 und Jaroslav Rudiš machen in ihrer Graphic Novel «Alois Nebel» vor, wie das geht.

Weit abgelegen von den Zentren der gros-sen Politik verrichtet der Fahrdienstleiter Alois Nebel seine Arbeit in dem tschechischen Regionalbahnhof Bílý Potok im ehemaligen Sudetenland. Wie schon sein Vater und sein Grossvater widmet er sein Leben ganz der Eisenbahn. Die vorbeifahrenden Züge sind der Puls im Alltag von Alois Nebel, der Fahrpläne studiert wie andere die Bibel. Die vorbeifahrenden Züge sind auch das Einzige, was diese gottverlassene Region im Altvatergebirge mit der Geschichte verbindet. Diese Geschichten erinnern an die Tragödie Mitteleuropas im 20. Jahrhundert: an die Besetzung durch Nazi-Deutschland, an die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei und an die Jahrzehnte der totalen Kontrolle durch die kommunistischen Regimes. Als die Mauern des Sozialismus fallen, lichtet sich Alois’ Geist und eine Begegnung im Hauptbahnhof Prags, Tschechiens schönstem Bahnhof, gibt seiner Ge-schichte eine Wende.

Die Passagen, in denen der Zeichner Jaromír 99 und der Autor Jaroslav Rudiš die Geschichte der Eisenbahn aufrollen, bilden die ruhigen Stellen in dieser Graphic Novel, die im Kontrast zu den Dampfzügen auf moderne Erzähltechniken setzt: Man merkt es «Alois Nebel» an, dass seine Autoren mit dem Musik- und Filmbusiness vertraut sind. Rasant sind die Schnitte, und die Perspektiven wechseln laufend von der raumfüllenden Totale hinab zu briefmarkenartigen Detailausschnitten. Die schroffen Schwarzweiss-Kontraste lassen unverkennbar eine Anlehnung an Frank Millers «Sin City» erkennen und bei Alois Nebels Bahnfahrt nach Prag kommen Erinnerungstechniken zum Zuge, die Will Eisner in «Zum Herzen des Sturms» erprobte.

Die deutsche Presse begrüsste das Werk euphorisch. Trotzdem hält «Alois Nebel» für den historisch Interessierten am Ende nicht viel mehr Einsichten bereit als etwa ein «Hellboy» – Mike Mignolas Klassiker des gehobenen Superhelden-Comics. Irgendwie erinnert diese Graphic Novel an das narrative Potpourri eines Smartphones: ein bisschen Popmusik, ein bisschen Politiknachrichten, ein bisschen Sex und Gewalt sowie ein bisschen Lebensdrama – das hat seine Reize, Orientierung schafft es nicht.

Florian Meyer

Jaroslav Rudiš, Jaromir 99. «Alois Nebel».
Voland & Quist, 360 S., Softcover, s/w,
Euro 24.90 / sFr. 34.50

 

 

 


 

«Alois Nebel»
 

Vergessene der Geschichte

Im Berlin der 1930er-Jahre ist das «Eldorado» in der Motz-Ecke-Kalkreuthstrasse ein international bekannter Transvestiten-Club, in dem sich neben der homosexuellen Szene auch Filmstars, Intellektuelle und Politiker vergnügen. Andreas, der Protagonist des Comics «Rosa Winkel», ein Werbezeichner Anfang 20, verbringt die Abende regelmässig mit seinen Freunden in dem damals angesagten Club. Dort lernt er auch Hans kennen und lieben, einen überzeugten Anhänger des Nationalsozialismus und ein SA-Mitglied. In Rückblicken erzählt Andreas von den zwanglosen 1930er-Jahren, als sich Homosexuelle in Berlin relativ frei bewegen konnten. Auch das Aufkommen der Nationalsozialisten wird in den homosexuellen Kreisen wenig kritisch betrachtet – als Werbezeichner gestaltet Andreas sogar Propagandaplakate für sie und sympathisiert mit deren antisemitischer Einstellung. Erst als 1934 in «der langen Nacht der Messer» Röhm und führende SA-Leute umgebracht werden und infolgedessen der Paragraph 175 verschärft wird, erfährt Andreas am eigenen Leib, was es heisst, verfolgt zu werden und unter den Repressalien der Nationalsozialisten zu leiden. Andreas wird schliesslich als Homosexueller denunziert und wird daraufhin in ein Konzentrationslager deportiert. Auf seinem Sträflingsanzug prangt der «Rosa Winkel», ein auf den Kopf gestelltes rosa Dreieck, womit Homosexuelle in den Lagern stigmatisiert wurden.

Der gleichnamige Comic des Szenaristen Michel Dufranne und des Zeichners Milorad Vicanovic erzählt die bisher kaum behandelte Inhaftierung und Ermordung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Darüber hinaus thematisiert der Comic erstmals auch die andauernde Verfolgung der Homosexuellen nach dem Zweiten Weltkrieg, immer noch beruhend auf jenem Paragraphen 175, der in dieser Form in der DDR 19 und in der BRD noch 20 Jahre Bestand hatte.

Die französische Originalausgabe ist nun bei Stuart & Jacoby erschienen, die damit im Zuge des Graphic-Novel-Erfolges einen ersten Comic in ihrem Verlag veröffentlichen. «Rosa Winkel» ist ein realistisch gezeichneter Comic, der in ausdrucksstarken Bildern ein längst überfälliges Thema behandelt und den Vergessenen der Ge-schichte eine Stimme verleiht.

Matthias Schneider

Michel Dufranne, Milorad Vicanovic, Christian Lerolle: «Rosa Winkel».
Jacoby & Stuart, 144 S., Softcover, teilweise farbig,
Euro 18.— / sFr. 26.90

 

 

 


 

«Rosa Winkel»
 

Absurder Alltag

Zeitgleich erscheinen zwei Comics, die sich mit dem Israel-Palästina-Konflikt beschäftigen. Der Franzose Maximilien Le Roy traf seinen Zeichner-Kollegen Mahmoud Abu Srour bei einem Workshop in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland. Nach einem Wiedersehen ein Jahr später entstand mit «Die Mauer» ein skizzenhafter Einblick in Mahmouds Alltag und seine Geschichte. Le Roy giesst Mahmouds Berichte in eine erzählerische Form, die sich um eine poetische, assoziative Erzählweise bemüht. So wechselt die Erzählung nicht nur zwischen Handlungsorten, Zeit- und Erzähl-ebenen, sondern wählt auch jeweils unterschied-liche Zeichenstile. Das ist sehr kunstvoll, wirkt angesichts des Themas mitunter aber etwas zu künstlerisch. Denn mit der Poesie kommt auch das Pathos. Und mit dem Pathos werden die Tatsachen sehr weich. Am deutlichsten ist das zu spüren, wenn sich Mahmoud bemüht, mit Hilfe von Vergleichen Beweisketten zu bilden: Da wird munter mit Vietnam oder gar Hiroshima verglichen, und der bewaffnete Widerstand der Palästinenser mit der Résistance in Frankreich. Das ist ärgerlich, weil man unwillkürlich vor solcher Ungenauigkeit zurückschreckt und für die guten Argumente, die hier auch auftauchen, weniger empfänglich ist. Das angehängte Interview mit Le Monde Diplomatique-Chefradakteur Alain Gesh ist demgegenüber wohltuend durchdacht.

Guy Delisles Comic-Reportage «Aufzeichnungen aus Jerusalem» wählt da einen einfacheren, vielleicht aber auch einen klügeren Weg: Delisle gibt sich als ahnungslosen Unparteiischen, der dieses Neuland mit und für uns Leser auf knapp 350 Seiten erkundet. Es ist der umfangreichste seiner bisherigen Auslandsberichte (u.a. aus China, Nord-Korea und Birma). Als französischer Atheist kommt er zusammen mit seinen beiden Kindern und seiner Frau, die für «Ärzte ohne Grenzen» in Gaza tätig ist, nach Jerusalem – und staunt. Vor allem staunt er über den Irrsinn, der sich tagtäglich vor seinen Augen abspielt. Mit diesem kontextfreien Staunen entzieht er sich der inneren Logik des Konfliktes und öffnet den Blick in alle Richtungen. Erst langsam entfalten sich die historischen, politischen und sozialen Hintergründe. Dabei variiert die Tonart ständig: Sachlichkeit, Neugier, Vorurteil, Ironie, Zynismus, schwarzer Humor – all das wechselt sich ab. Doch Kern von Delisles Alltagsbeobachtungen, die vom gemütlichen Spaziergang über den persönlichen Konflikt bis zum kriegerischen Einsatz in Gaza reichen, bleibt die Distanz. Das zeigt sich sehr beispielhaft, wenn ihn sein Sohn fragt, was Krieg sei: «Der Krieg ist ein Stück Eisen, das in ein Stück Fleisch eindringt». Den Satz hat Delisle ein paar Tage zuvor in einem Film von Jean Luc Godard aufgeschnappt (er ist aus «Forever Mozart» von 1996 über den Jugoslawien-Konflikt). Diese kühle, klare, aber immer humanistische Sicht ist auch die von Delisle. Um den Irrsinn, den Schrecken und die Ungerechtigkeit zu beschreiben, braucht Delisle kein Pathos – es offenbart sich von selbst.

Christian Meyer

Maximilien Le Roy: «Die Mauer. Bericht aus Palästina».
Edition Moderne, 104 S., Softcover, farbig und s/w,
Euro 19.80 / sFr. 24.80

Guy Delisle: «Aufzeichnungen aus Jerusalem».
Reprodukt, 336 S., Softcover, s/w,
Euro 29.— / sFr. 39.90

 

 

 





 

«Die Mauer. Bericht aus Palästina»

«Aufzeichnungen aus Jerusalem»
 

Zeitreisen

Gleich zwei Alben des Franzosen Baru erscheinen in diesem Frühjahr parallel auf Deutsch und zeigen seine Sicht auf die Zukunft sowie die Vergangenheit Frankreichs. «Schönes neues Jahr» wagt einen dystopisch gefärbten Blick in die Jahre 2016 und 2047 (ergänzt um eine kurze Story, die inmitten des Nordirland-Konflikts angesiedelt ist) bzw. in eine Welt, in der Nicolas Sarkozys Ankündigung, das «gewalttätige Gesindel» in den Banlieues «mit dem Hochdruckreiniger wegzuspritzen», sich in eine Politik der rassistischen Gettoisierung zugespitzt hat. Die beiden vor den Krawallen in den Pariser Banlieues 2005 entstandenen Comics Barus zeichnen eine Zukunft, in der die Vorstädte von durch Soldaten bewachte Mauern umgeben sind und den Bewohnern die Möglichkeit genommen wird, sich ausserhalb dieser dem Verfall preisgegebenen Orte zu bewegen. Innerhalb der Mauern haben sich die jugendlichen Protagonisten mit der gewalttätigen Lebenswirklichkeit arrangiert und sind auf der Suche nach dem kleinen Glück, woran sie jedoch permanent scheitern, auch weil die Solidarität unter den Ausgegrenzten brüchig ist und sich jederzeit in Gewalt entladen kann – etwa gegen Homosexuelle, die – ebenfalls in die Banlieues deportiert – den Repressionen der Bewohner ausgeliefert sind. Angesichts des rassistisch gefärbten Wahlkampfes von Nicolas Sarkozy erscheinen die Arbeiten Barus von 1995 aktueller denn je.

Ganz andere Kämpfe müssen dagegen in «Die Sputnik-Jahre» ausgefochten werden. Der in einem kleinen Industriestädtchen angesiedelte Comic zeichnet die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen in den 1950ern nach, die Kämpfe zwischen den Banden der Ober- und Unterstadt, die erste Liebe und schlagende Lehrer und Eltern. Doch in diese Kinderwelt dringt immer wieder die Welt der Erwachsenen ein, die Kämpfe der Kinder scheinen nur Stellvertreter zu sein für die gesellschaftlichen Kämpfe, denen sich die Arbeiterfamilien – die meisten mit Migrationshintergrund – zu stellen haben: Das Finale von «Die Sputnik-Jahre» ist dann auch die erfolgreiche Vertreibung der angerückten Polizei während eines von der kommunistischen Partei organisierten Streiks im Stahlwerk, bei dem die Kinder ihren Vätern zur Seite stehen (wenn dies auch das Ende des Werkes und damit der Strukturen der Arbeitersiedlung bedeutet). Baru fängt die gesellschaftliche Stimmung der 1950er ein, zeigt Arbeitskämpfe und die Auswirkungen des Alge rienkrieges auf die Strukturen einer französischen Kleinstadt – vor allem aber erzählt er vom Erwachsenwerden, und dies auf eine äusserst berührende Weise.

Jonas Engelmann

Baru: «Schönes neues Jahr».
Edition 52, 144 S., Softcover, s/w,
Euro 15.— / sFr. 22.90

Baru: «Die Sputnik-Jahre».
Reprodukt, 208 S., Softcover, farbig,
29.— / sFr. 39.90

 

 

 





 

«Schönes neues Jahr»

«Die Sputnik-Jahre»

Beziehungsanalytiker

In «Peepshow» hat der kanadische Zeichner Joe Matt ohne Scham von seinen tragischen Versuchen, eine Freundin zu finden, erzählt, von seiner Fixierung auf Äusserlichkeiten und von seiner Pornosucht. In dem Comic tauchen immer wieder seine Zeichner-Kollegen Seth und Chester Brown auf, die ihm als Freunde zur Seite stehen. Chester Brown hat da mit seiner langjährigen Freundin mehr Glück. Davon ist zumindest am Anfang des autobiographischen Comics «Ich bezahle für Sex» von Chester Brown auszugehen. Doch als die ihn verlässt, wendet sich auch für ihn das Blatt. Anders als Matt ist Brown die Suche nach der erfüllten Beziehung leid. Er merkt, dass seine besten Freundschaften diejenigen ohne sexuelle Komponente sind. Im Gegenzug – so vermutet er – könnte der beste Sex derjenige sein, welcher ohne Freundschaft auskommt. Zögerlich macht er sich auf in das abenteuerliche Leben eines Freiers. Doch das ihm ungewohnte Ambiente ist erstaunlicherweise gar nicht so abenteuerlich, wie er sich das in seiner Fantasie ausgemalt hat. Brown besucht Prostituierte, fragt sie nach ihren Lebensumständen aus, beobachtet ihr Verhalten, registriert sein eigenes Verhalten und erzählt all das einschliesslich seiner Schlussfolgerungen seinen Freunden – darunter auch Joe Matt und Seth. Und dann nimmt er wiederum deren Reaktionen genau zur Kenntnis.

Beobachten – das ist Chester Browns Sache. So wie er die Prostituierten alle gleich und sich selber nüchtern, mit dem immer gleichen Gesichtsausdruck zeichnet, so prosaisch und neutral führt er uns die Episoden seiner Erkundungstour vor: Attraktivität wird ausgemessen, Preise werden verglichen, Erfahrungen bewertet. Aber durch diese gleichmütige, quasi wissenschaftliche Beobachtung wird Brown zum perfekten Forscher. Er umkreist die Themen Liebe, Sex und Geld – untersucht philosophisch ihre Beziehung zueinander, interpretiert, relativiert, definiert. Ein langer Anhang vertieft Hintergründe, kommentiert Diskussionen zum Thema und liefert Fakten. Chester Browns Weg ist ein sehr eigener. Dessen ist er sich bewusst. Aber dieser Weg, möge er einem noch so fremd erscheinen, wirft viele interessante Fragen auf und Brown liefert einige aufschlussreiche Antworten. Auch hier gilt: Es mögen vielleicht nicht die Antworten sein, die man für sich selber finden würde – interessant und bedenkenswert sind sie allemal.

Christian Meyer

Chester Brown: «Ich bezahle für Sex».
Walde+Graf, 322 S., Hardcover, s/w,
Euro 22.95 / sFr. 30.—

 

 

 


 

«Ich bezahle für Sex»

Wenn einem die ganze Welt zuschaut…

Die Vision ist beklemmend: Was passiert, wenn die ganze Welt mitsieht, was ich sehe, mithört, was ich höre und mitschmeckt, was ich schmecke? Nicht nur könnten die Menschen, wie dies bei Webcams der Fall ist, von aussen zusehen, was ich treibe, sondern sie könnten, die Welt aus meinen Augen sehen.

Von dieser Vision handelt die Graphic Novel «Omni-Visibilis» von Lewis Trondheim und Matthieu Bonhomme. Eines Morgens erwacht Hervé Boileau, verbrennt sich die Finger beim Wasserkochen, süsst seinen Tee mit vier Würfeln Zucker, putzt sich die Zähne und macht sich auf zur Arbeit – und die ganze Stadt weiss es. Unbekannte, die Hervé noch nie in seinem Leben gesehen hat, sprechen ihn auf sein Missgeschick an und wollen wissen, ob er Werbung für Zahncreme mache. Was zunächst einfach merkwürdig wirkt, spitzt sich zu. Sobald die Menschen ihre Augen schliessen, sehen, hören und schmecken sie, was Hervé sieht, hört und schmeckt. Sicherheits- und Geheimdienste aus allen Ländern beginnen, sich für ihn zu interessieren. Wo immer er auftaucht, versuchen die Menschen ihn für ihre Zwecke und zur Beeinflussung anderer zu benutzen. Selbst für seine Freundin ist Hervé nur noch das Medium, über das sie der ganzen Welt ihre persönlichen Botschaften mitteilen will. Dank der Hilfe zweier Freunde kann Hervé vorübergehend untertauchen. Doch das Schicksal hat einen Lauf genommen, der sich nicht mehr stoppen lässt und Hervé unaufhaltsam auf sein Ende zutreibt.

Es ist eine bittere Parabel, die Trondheim und Bonhomme auftischen: Ein Mensch, der auf ein Medium reduziert wird, ist ein Wesen, dem Würde und Achtung verweigert werden. Diesen Gedanken ziehen die beiden Autoren konsequent und im Stil eines Thrillers durch. Das Lesetempo jedenfalls beschleunigt sich von Seite zu Seite. Auch das Layout unterstützt die schnelle Lesbarkeit. Zumeist besteht es aus kleinen, fast quadratischen Panels, die voll auf ein Gesicht fokussieren. In entscheidenden Momenten wird der Leser in Hervés Perspektive versetzt und erlebt hautnah mit, wie dieser seinen Blick zu Boden wendet, um seinen Standort zu verbergen oder andernfalls Strassenschilder fixiert, um seine Retter auf seine Fährte zu führen. Es ist ein regelrechter Ritt durch die Hölle, auf dem der Leser Hervé folgt. Am Ende legt man den Comic aufatmend beiseite, erleichtert darüber, dass das eigene Handeln (noch) nicht allen Blicken der Welt ausgesetzt ist.

Florian Meyer

Lewis Trondheim, Matthieu Bonhomme: «Omni-Visibilis».
Salleck Publications, 158 S., Hardcover, dreifarbig,
Euro 20.— / sFr. 29.—

 

 

 


 

«Omni-Visibilis»

Nabelschau

David Small ist ein begnadeter Zeichner und Erzähler. Sein eleganter und lockerer Strich verweist auf Smalls langjährige Tätigkeit als Illustrator für amerikanische Zeitungen und Kinderbücher, für die er zahlreiche internationale Preise erhielt. «Stiche» ist Smalls autobiographischer Comic – hier erzählt er seine ganz persönliche Geschichte. Und zwar auf eine Weise, die tief berührt, fast schon zu tief. Denn der Leser wird mit einer desolaten Familienstruktur konfrontiert, die unter die Haut geht. Auch wenn Smalls Eltern nach aussen hin krampfhaft versuchen, eine amerikanische Vorzeigefamilie zu sein, im Inneren hält sie nichts zusammen. Jeder verfällt seinem Eskapismus: der Vater der Wissenschaft, die Mutter dem Alkohol und sexuellen Ausschweifungen und der Bruder dem Schlagzeugspiel. Und David? Er flüchtet sich in die Welt der Comics, der Superhelden und Schurken, kurz: ins Reich der fantastischen Geschichten, wie etwa «Alice im Wunderland». Er beginnt zu zeichnen und schafft sich eine neue Familie. Als Aussenseiter erfindet er seine eigenen Freunde. Wie von einem krankhaften Geschwür befallen, besteht die Familie einzig noch als zerbrechliche Hülle. Vor allem die Kinder leiden unter den Repressalien seitens der Mutter sowie der Grossmutter und müssen für deren nicht aufgearbeitete Konflikte herhalten. Auch David wird krank, er bekommt ein Geschwür am Hals. Wie sich nach einer Operation herausstellt, handelt es sich dabei um Krebs. Eine lange Narbe ziert von nun an seinen Hals und erinnert ihn unablässig an den schmerzlichen Verlust des Vertrauens in seine Eltern. Smalls Pubertät ist gezeichnet von Rebellion und vom Aufbegehren gegen seine Eltern, welche ihn immer wieder mit Liebesentzug bestrafen.

Auch dem Leser versetzt der gleichnamige Comic Stiche am Laufmeter. Es ist Smalls Aufarbeitung seiner Kindheit und Jugend, ein Umstand, der einem bewusst sein sollte, bevor man sich an diese emotionalen Abgründe vorwagt.

Matthias Schneider

David Small: «Stiche».
Carlsen Verlag, 336 S., Hardcover, s/w,
Euro 29.90 / sFr. 42.90

 

 

 


 

«Stiche»

Día de los Muertos

Die Vergänglichkeit ist sicherlich eines der faszinierendsten Themen überhaupt. Spannend ist dabei auch, wie andere Kulturen mit dem Tod umgehen. Hierbei sticht besonders der mexikanische Totenkult heraus, der am Día de los Muertos – dem Tag der Toten – farbenfroh und laut zelebriert wird, mit Zuckerguss-Totenköpfen und Familienfesten an den Gräbern der Verstorbenen. Den in Braunschweig geborenen und in Berlin lebenden Künstler Felix Pestemer hat dieser Umgang mit dem hierzulande ja eher düster konnotierten Thema tief beeindruckt, und so verbrachte er insgesamt zwei Jahre in Mexiko und recherchierte die Bräuche und Traditionen der Totenkultur. Daraus entstand zunächst ein Bildband mit Texttafeln, den Pestemer im Laufe der insgesamt 6-jährigen Entstehungsgeschichte zur grossformatigen Graphic Novel «Der Staub der Ahnen» ausarbeitete.

In kurzen Geschichten wird hier das Schicksal der Familie Roja erzählt. Ein Museumswächter und enger Freund der Familie schreibt, tief getroffen vom Tod des jüngsten Familienmitglieds, einen langen Brief an dessen Mutter. In diesem erfährt man nach und nach, wie der Grossteil der Familienmitglieder zu Tode gekommen ist. Dazwischen hat Pestemer Bilder von Bräuchen am Tag der Toten eingebaut, ebenso wie Sequenzen, die das Jenseits zeigen. Hier kann man sehen, wie die Verstorbenen zusammen feiern und tanzen, aber auch alltäglichen Verrichtungen wie Wäschewaschen oder Fegen nachgehen. Die Geschehnisse der Vergangenheit sind in Schwarzweiss bzw. einer Art Sepia-Ton gehalten, wodurch man sich an alte Fotografien erinnert fühlt, wohingegen die Bilder der Gegenwart und gerade auch die des Jenseits farbig gestaltet sind. Die Verstorbenen sind hier also sowohl auf der Erzähl- als auch auf der Bildebene noch lebendig, was mit der Überzeugung des Museumswächters korrespondiert, dass Menschen nach ihrem Tod weiterleben, solange sich jemand an sie erinnert. Trotzdem wirken die Bilder auch wie mit einem leichten Grauschleier überzogen, was dann doch wieder auf Vergänglichkeit hinweist.

Mit «Der Staub der Ahnen» legt Felix Pestemer ein aussergewöhnliches Werk vor. Immer wieder vertieft man sich in die oft detailreichen und aufwändig gestalteten Bilder, von denen besonders die Darstellungen der Totenaltäre und der geschmückten Gräber beeindrucken. Gleichzeitig zieht einen die plastische Erzählweise unweigerlich in die Geschichten und die uns fremde Umgehensweise mit dem Tod hinein und lässt einen auch über die eigene Sterblichkeit nachdenken.

Jan Westenfelder

Felix Pestemer: «Der Staub der Ahnen».
Avant-Verlag, 88 S., Softcover, farbig,
Euro 24.95 / ca. sFr. 35.—

 

 

 


 

«Der Staub der Ahnen»