Wenn der Firn sich rötet…

Das Geschriebene Wort über Berge
von Wolfgang Bortlik

 

Ich bin in der ziemlich flachen Schotterebene südlich von München aufgewachsen. Da war alles platt, Inseln im Wald unter weissblauem Himmel. In die Berge, ungefähr 50 Kilometer weiter südlich, fuhren in meiner Erinnerung damals nur die Touristen, irgendwelche Saupreussen aus Wanne-Eickel oder Hamburg-Blankenese.
Es ist ja schon schön, das Bergige, das Jähe und das Hohe, das aus der Landschaft Ragende, das gegen den Himmel Gewellte und Gezackte. Empor die Herzen! Näher wie dort oben wird der Mensch auf Gottes Erdboden den Engeln nie mehr sein.
So wandert er halt vom Unten ins Oben, vorbei am plätschernden Bächlein in der von Kuhfladen übersäten Matte, hin zu ewigem Schnee und Eis, durch Geröll und über blanken Stein. Natur pur. Die gute Luft tief in die Lungen gepumpt. Alles Schwere fällt ab, symbolisch gesprochen. In der Realität wird der mitgeschleppte Rucksack immer schwerer. Immer noch schwerer. Die Alpenrosen lachen. Auch der gelbe Enzian, dessen Wurzelextrakt später im Glase schwingt. Am Schluss ist der Mensch dann wirklich hoch oben. Da ist das Schneeweisse, Firn und Ferne, der Gipfel, das Majestätische, der Sehnsuchtsort. Schliesslich Rundblick und geistige Inbesitznahme. Dazu noch der Pass, die endgültige Überwindung des scheinbar unüberwindlichen Bergebollwerks. An die Grenzen gehen. Als würdigen Ausklang des Eroberertages noch die vielfältigen Gedünste des menschlichen Körpers bei der Übernachtung im Massenlager der SAC-Hütte.
Mich haben derlei Wanderungen oder eher Gewaltmärsche – etwa anlässlich von Schulreisen auf einsame Hütten, über steinige Pässe, entlang gähnender Abgründe und Schlünde – schon früh zur Erkenntnis kommen lassen: Man muss schon ein Schweizer sein, um die Berge zu lieben. Ich bin keiner.
Die scheusslichste Benutzung und Vergewaltigung der Berge ist übrigens der ganze Wintersport-Komplex. Und erlaubt mir die Frage: Was ist Berg, Fels, Stein und Höhe gegen die plane Poesie eines Fussballfeldes? Die sinnvollste Parole der 1980er-Jugendunruhen war mir in diesem Sinne immer: Weg mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer!

Bei den folgenden Büchern sind die Berge immer die Alpen. Einst waren sie ein Hort des Schreckens, eine Hölle aus Eis und Schnee, ein schier unüberwindliches Hindernis, dann dienten sie zur Identitätsstiftung und mittlerweile hat es der mickrige Mensch geschafft, die Alpenwelt mindestens teilweise zu zerstören. Eine umfassende Darstellung dieser Entwicklung, von Mythologie bis Möblierung der Alpen, gibt der Basler Journalist Aurel Schmidt in seinem Buch «Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte». In diesem prächtig gestalteten und bebilderten Band lässt es sich wunderbar schmökern, der Autor breitet sein umfassendes Wissen gut verständlich und unprätentiös aus und gibt auch einen Ausblick in eine nachhaltige Zukunft des grossen zentraleuropäischen Gebirgsmassivs.
Ein längeres Kapitel wird der Alpensicht des 18. Jahrhunderts gewidmet, in dem der ganze ideologische Ballast entstand, der in reaktionären Kreisen bis heute als Schweizer Geschichte gilt. Das liest sich dann in Albrecht von Hallers 1729 erschienenem Gedicht «Die Alpen» mit 49 stanzenartigen Strophen so:

Entfernt vom eiteln Tand der mühsamen Geschäfte
Wohnt hier die Seelen-Ruh und flieht der Städte Rauch;
Ihr tätig Leben stärkt der Leiber reife Kräfte,
Der träge Müssiggang schwellt niemals ihren Bauch.
Die Arbeit weckt sie auf und stillet ihr Gemüte,
Die Lust macht sie gering und die Gesundheit leidet;
In ihren Adern fliesst ein unverfälscht Geblüte,
Darin kein erblich Gift von siechen Vätern schleicht,
Das Kummer nicht vergällt, kein fremder Wein befeuret,
Kein geiles Eiter fäult, kein welscher Koch versäuret.


Da steckt dieser ganze Rassenblödsinn vom Homo Alpinus drin, der in der frischen Luft der Alpen, in der unverfälschten Natur sauber bleibt – im Gegensatz zum von der Dekadenz und vom Fremden angekränkelten Städter. Die Alpen sind der Hort des Reinen, Natürlichen, Arbeitsamen und Urschweizerischen, das Symbol für Heimat und das Rattennest der Reaktion. Das gute alte Rumpfgebirge Jura ist dafür offensichtlich nicht geeignet, dort sassen schon immer diese Absinthbrenner und Uhrenarbeiter-Anarchisten, die «welschen Köche» halt.
Die Literatur aus den Bergen bzw. den Alpen war stets trutzig, pathetisch und moralisch, wie eben Albrecht von Hallers elend langes Poem oder später Jakob Christoph Heers «Der König der Bernina». Auch heute noch, und nicht nur in haltlosen Heimat- und Trivialromanen, wird den Bergen immer noch so ein Schlag Schicksalhaftigkeit und der traditionelle Symbolcharakter zugeschrieben: In den literarisch grossartigen, hochpoetischen Romanen aus dem Wallis von Maurice Chappaz und Corinna S. Bille ebenso wie gegenwärtig bei Emil Zopfi und Urs Augstburger, die eher so etwas wie das Genre des Bergkrimis pflegen.
Als wirklich erscheinen mir die Berge eigentlich nur aus der Distanz. Beim Geschriebenen am besten aus der ironischen Distanz.

Als eigentliche Schweizer Bergsprache stelle ich mir immer das Rätoromanische vor. Für Nichtschweizer: Das ist die vierte Landessprache, die teil- und talweise verschieden noch im Kanton Graubünden gesprochen wird. Vielleicht mache ich mir jetzt Feinde, aber ich halte diese Idiome für eine künstlich am Leben erhaltene Sprache, für die beispielsweise völlig sinnlos Sendezeit im Deutschschweizer Fernsehen verschwendet wird. Andererseits muss ein so reiches Land wie die Schweiz es sich leisten können, für den Erhalt einer Sprache zu bezahlen. Das ist immer noch sinnvoller als ständig Autobahnen zu flicken und neue Kampfflugzeuge zu kaufen.
Immerhin gibt es gerade zwei leuchtende Beispiele Bündner Bergliteratur, die Autoren Leo Tuor und Arno Camenisch.
Camenisch ist so etwas wie das literarische Wunderkind der Schweiz der letzten Jahre und hat nun seinen dritten Band. Der Titel «Ustrinkata» klingt irgendwie russisch, meint aber selbstverständlich «Austrinkete» im Bündner Deutsch. Das Restaurant Helvezia liegt in einem Kaff in den Bergen und wird demnächst geschlossen. Am letzten Abend wird dann eben ausgetrunken. Der Stammtisch übt sich im Extrembechern und phantasiert dabei über die Menschen im Dorf, die Berge, das schlechte Wetter, die Natur- und Liebeskatastrophen, es wird üppig geraucht und schwadroniert, über die Lebenden und die Toten. Die Beiz ist voller Gespenster.
Camenisch beschreibt das alles sehr detailgetreu und komisch. Seine Beobachtungsgabe ist geradezu beängstigend präzis und er hat eine höchst originelle Sprache, sehr nahe am gesprochenen Wort, mit wunderbar passenden Dialekteinsprengseln. Sep mein i au, dass «Ustrinkata» ein tolles Buch ist!

Leo Tuor schreibt Rätoromanisch. Sein erster Roman «Giacumbert Nau» erschien 1988 im sursilvanischen Idiom und 1994 auf Deutsch. Jetzt gibt es eine zweisprachige Neuauflage dieses sehr monolithischen Buchs. Giacumbert Nau ist ein wilder und trotziger Hirte auf der Greina-Ebene, der die Natur und die Tiere mag, die Menschen verflucht und einer Frau nachtrauert. Tuor schreibt irgendwie kantig, steinig, sehr knapp und sehr poetisch.
Das Schöne an diesem Buch ist eben die Zweisprachigkeit. So ein Satz von zeitloser Klangschönheit wie Jeu vesel a sependend vid sia atgna stola il prer ch’jeu hai smalediu entpuppt sich dann als prächtige Sentenz von einiger Bedeutungsschwere: Ich sehe, wie er sich eben erhängt an seiner eigenen Stola, der Pfaffe, den ich verflucht habe.

Austrofred ist eine österreichische Erfindung und ich weiss gar nicht, ob der Mann, der eigentlich Franz Adrian Wenzl heisst, in der Schweiz oder in Deutschland überhaupt bekannt ist. Er macht einen auf Freddie Mercury, trägt einen falschen Oberlippenbart und singt österreichische Texte zu Songs von Queen. Aus «We Will Rock You» etwa macht er «Skifoahn». Austrofred ist kein begnadeter Sänger, aber ein cleverer Kerl. Und er ist komisch. Sehr komisch! Zumindest was seine Autobiographie betrifft. Da erzählt er nicht nur ganz herzzerreissend von seiner provinziellen Herkunft und von seinem Opa, sondern er gibt auch entscheidende Tipps, wie man ein internationaler Rockstar wird und wie man sein Publikum erzieht. Das Ganze betitelt er «Alpenkönig und Menschenfreund», in Anlehnung an Ferdinand Raimunds bekanntes Zauberspiel «Alpenkönig und Menschenfeind». Grossartiger Schmäh! Lesen und lachen!

Was die Überschrift dieser kleinen Reise durch die Bergliteratur betrifft, noch ein allerletzter Griff in die Klassik. Dieses Zitat kennt ja hoffentlich jede Schweizerin und jeder Schweizer:
Trittst im lichten Morgenrot daher, Hocherhabener!
Und ich such in seinem Strahlenmeer Dich, du Herrlicher!
Wenn der Firn sich rötet,
Betet, Schweizer, betet!


Diese Zeilen entstammen dem Original des Schweizerpsalms aus dem Jahre 1840, von Leonhard Widmer, einem Zürcher Dichter und Musikalienhändler. Ich hätte vielleicht so gedichtet:
Wenn der Firn sich rötet
Tötet, Berge, tötet!

 

 

Playlist:

Aurel Schmidt: Die Alpen.
Eine Menta­litätsgeschichte.
Huber Verlag, Frauenfeld 2011, 368 Seiten,
sFr. 49.—

Arno Camenisch: Ustrinkata.
Engeler Verlag, Solothurn 2012, 99 Seiten,
sFr. 25.—

Leo Tuor: Giacumbert Nau.
Limmat Verlag, Zürich 2012, 266 Seiten,
sFr. 38.50

Austrofred: Alpenkönig und Menschenfreund,
Haymon Verlag, Innsbruck 2012, 140 Seiten,
sFr. 14.90



Illustration: Helge Reumann