Ganz schön deprimierend, nicht wahr? /
Riad Sattouf über seine Comics. Von Christian Gasser.

 

Kein Zweifel: Riad Sattouf ist einer der begnadetsten Comic-Humoristen seiner Generation und «La vie secrète des jeunes» (Das geheime Leben der Jugend) seine beste und erfolgreichste Serie.

Der 1978 geborene Sohn eines Syrers und einer Französin wuchs in Algerien und Syrien auf und kam erst mit zehn Jahren, nach der Scheidung seiner Eltern, nach Frankreich. Er stehe, sagt er selber, bis heute zwischen diesen beiden Welten – und das wiederum schärft seine Beobachtungsgabe.

Seit sieben Jahren verarbeitet er Woche für Woche beobachtete und belauschte Gespräche, Monologfetzen, kuriose Situationen etc. zu One-Pagern für das Satiremagazin Charlie Hebdo. Ob arm oder reich, ob aus dem Zentrum oder den Banlieues, ob studierend, berufstätig oder arbeitslos, ob gepierct, verdrogt, sexgeil, rassistisch, idealistisch, verklemmt oder bieder – Sattouf entlarvt Dummheit, Heuchelei, Unehrlichkeit, Beschränktheit, Ignoranz, Erbärmlichkeit und viel Unangenehmes mehr. Damit entwirft er ein aberwitziges und superfieses, gleichermaßen komisches wie deprimierendes Sittengemälde der heutigen Jugend, aber auch der Gesellschaft, in der sie lebt.

Auf Deutsch gibt es von Riad Sattouf nur das großartige «Meine Beschneidung» und seinen in Frankreich als bestes Erstlingswerk ausgezeichneten Film «Jungs bleiben Jungs». Es gibt also noch einiges zu entdecken, etwa sein fieses Pubertätspamphlet «Manuel du puceau» oder die Geschichten um den tumben und doch rührenden Vorstadtobermacho Pascal Brutal.

Christian Gasser besuchte Riad Sattouf in seinem Atelier in Paris.

«Vielleicht liegt es an meiner Schüchternheit, vielleicht an meinem Mangel an Selbstbewusstsein – Tatsache ist, dass ich schon immer das Opfer bizarrer Zeitgenossen wurde, die mich belaberten und belästigten. Weil ich überdies leicht paranoid bin und in der Welt mehr Bedrohungen als Annehmlichkeiten wahrnehme, fallen mir ständig Details und Situationen auf, die andere, meine Freunde etwa, meistens übersehen. Eines Tages kam ich zum Schluss, es könnte witzig sein, diesen ungewöhnlichen Blick auf die Realität aufzuzeichnen und schlug dem Satiremagazin Charlie Hebdo ‚La vie secrète des jeunes’ vor.

Der Kontakt zu Charlie Hebdo kam zustande, als ich mit meinen Büchern «Meine Beschneidung» und «Manuel du Puceau» Probleme mit einer staatlichen, von fundamentalistischen Katholiken und Vertretern traditioneller Familienwerte dominierten Zensurbehörde hatte. Die Anklage lautete auf Verwendung vulgärer Sprache, Darstellung von Gewalt und Untergraben der väterlichen Autorität. Charlie Hebdo bat mich um einen Beitrag über diese Affäre – und nahm darauf mein Angebot an.

Ob ich ein Voyeur bin? Selbstverständlich! Ich interessiere mich für das menschliche Verhalten, und wie gesellschaftliche Ereignisse und die Politik dieses beeinflussen. Seit meiner Kindheit liebe ich auch die Berichte von Forschern und Ethnologen, und bis zu einem gewissen Punkt verstehe ich mich auch als Ethnologe. Wir werden mit Informationen über die Welt zugemüllt – aber die Welt, die ich sehe, entspricht überhaupt nicht diesen Bildern. Deshalb habe ich das Bedürfnis, die Wirklichkeit, die ich tatsächlich beobachte, festzuhalten.

Ich werde oft gefragt, ob ich gewisse Episoden erfinde. Nein. Ich habe nie etwas erfunden; was ich zeichne, hat sich so zugetragen. Ich nehme mir natürlich gewisse Freiheiten. Wenn es zum Verständnis beiträgt, füge ich auch schon mal einen Satz hinzu, manchmal verändere ich das Aussehen der Menschen, weil ich niemanden denunzieren möchte. Abgesehen davon, ist alles authentisch.

Klar zeugen viele Anekdoten von fürchterlichem Verhalten und erschreckender Dummheit, aber ich denke nicht, dass die Jugend heute anders oder schlechter ist, als zum Beispiel meine Generation es war. Die Oberfläche hat sich verändert, gewiss, die Kommunikationsweise, die Codes und Accessoires, aber nicht das Wesentliche. Auch wir haben uns geprügelt – aber wir hatten nicht die Möglichkeit, unsere Raufereien zu filmen und ins Netz zu stellen, um Millionen von Betrachtern zu schockieren. Interessant ist jedoch die gleichbleibende Tendenz der Gesellschaft, die Jugend für gefährlich und verdorben zu halten. In diesem Zusammenhang ist es mir übrigens sehr wichtig, in meiner Kolumne möglichst jedes Milieu und jede Gesellschaftsschicht abzubilden. Das Verhalten der Jugendlichen ist nicht nur von der Zeit, sondern auch von der Klasse unabhängig – es ist immer und überall dasselbe.

‚La vie secrète des jeunes‘ wird vor allem von Erwachsenen gelesen. Jugendliche halten sich lieber für supercool und verweigern den kritischen Blick auf sich selber – sie möchten sich nicht in den erbärmlichen Wesen aus meinen Comics wiedererkennen. Ältere Leser hingegen erkennen sich eher noch in diesen Jugendlichen. Oder sie fühlen sich bestärkt in ihren Vorurteilen. Oder sie lachen. Oder sie sind deprimiert, weil – nun, ‚La vie secrète des jeunes‘ ist ganz schön deprimierend, nicht wahr? Manchmal bin ich erstaunt, dass ausgerechnet meine deprimierendste Serie mein größter kommerzieller Erfolg ist…»

 

Bibliographie: (Auswahl)

Auf Deutsch:
«Meine Beschneidung», Reprodukt Verlag, Berlin, 2010

Auf Französisch: (Auswahl)
«La vie secrète des jeunes», 2 Bände, L‘Association, Paris, 2007 und 2010
«Manuel du puceau», L‘Association, Paris, 2011
«Pascal Brutal», 3 Bände, Fluide Glacial, Paris, 2006 ff.
«Retour au collège», Hachette Littératures, Paris, 2005

Weblink: www.riadsattouf.com