Gebrochen, gebeutelt und geklont

Das geschriebene Wort von Wolfgang Bortlik
Neue Kriminalromane

 

Illustrationen von Stephan Schmitz


Bücher:

Jean-Patrick Manchette: „Chroniques. Essays zum Roman noir“.
Distel Literatur Verlag, (ist möglicherweise nur noch im französischen Original erhältlich). In eben diesem Distel Literatur Verlag sind auch die Krimis von Manchette auf Deutsch erschienen. Jede Menge toller Stoff!

Michael Herzig: „Töte deinen Nächsten“.
Grafit Verlag, 287 S., Hardcover,
Euro 19.99 / sFr. 27.80

Jakob Arjouni: „Bruder Kemal“.
Diogenes Verlag, 240 S., Hardcover,
Euro 19.90 / sFr. 28.90

Mitra Devi: „Filmriss“.
Unions Taschenbuch, 280 S., Softcover,
Euro 12.95 / sFr. 19.90

Daniel Woodrell: „Der Tod von Sweet Mister“.
Liebeskind Verlag, 192 S., Hardcover,
Euro 16.90 / sFr. 23.30

Thomas Kowa: „Das letzte Sakrament“.
Bastei Lübbe Taschenbuch, 382 S., Softcover,
Euro 8.99 / sFr. 13.50

Im Januar 1978 schreibt Jean-Patrick Manchette in „Charlie Mensuel“ einen längeren Artikel über den Privatdetektiv-Roman, der in Frankreich „Polar“ genannt wird. Er betrachtet besonders genau die gesellschaftlichen Voraussetzungen für dieses Genre von Krimi, wie sie etwa Dashiell Hammett und Raymond Chandler geschrieben haben:

„Das Kapital herrscht uneingeschränkt ... Den Schweinehunden, die das Terrain beherrschen, das Terrain der ganzen Welt, das sie zum Weltmarkt und Schauplatz ihres Gangsterkriegs gemacht haben, widersetzen sich nur noch winzige Gruppen oder isolierte Einzelkämpfer, vorläufig geschlagen, manchmal geduldig, manchmal verbittert und verzweifelt. In der amerikanischen Literatur entsteht daraus der Polar, der Privatdetektiv. [...]

Er ist verbittert und langmütig und schließlich ziemlich verzweifelt, weil ein Scheißchaos herrscht und er wohl sieht, dass er ihm alleine nicht beikommt; und außerdem weil das Leben in der Scheiße und im Blut und der Kampf gegen die Widerlinge ihn verändert, es macht ihn unsensibel und hart, was auch eine Form der Niederlage ist.“

Zu diesem Zeitpunkt hat Manchette selbst schon mehr als ein halbes Dutzend zum Teil preisgekrönte Romans noirs und Polars geschrieben, etwa „Ô dingos, ô châteaux (deutsch: „Tödliche Luftschlösser“), „Nada“, „Que d’os“ („Knüppeldick“) oder „Le petit bleu de la côte ouest“ („Westküstenblues“). Manchette sympathisiert zu der Zeit mit den Situationisten und hält sich weitgehend aus den ideologischen Streitereien der radikalen Linken heraus. Dafür reflektiert er ziemlich hellsichtig und präzise, was er mit dem Schreiben seiner Krimis eigentlich beabsichtigt und schluss-endlich anstellt.

Was für eine Gesellschaftsform produziert eigentlich was für eine Kriminalliteratur? Dazu hat Manchette schon zwei Jahre vorher geschrieben:

„Man erkennt, weshalb die große Epoche des Roman noir in die letzte Phase der triumphierenden Konterrevolution (im Wesentlichen 1920 – 1950) und besonders in deren Höhepunkt, also in Faschismus und Krieg, fällt.“

Heute, beim gegenwärtigen Zustand der menschlichen Gesellschaft, in welcher der Kapitalismus immer noch seine falschen Blüten treibt und der Faschismus jederzeit wieder sein hässliches Haupt heben kann, müsste man also davon ausgehen können, dass eine Menge prächtiger Krimis geschrieben werden. Aber, mal so ganz nebenbei gefragt, ist es nicht auch ein Zeichen für die schrägen Ordnungsfantasien einer Gesellschaft, wenn in neun von zehn Krimis ein Polizeikommissar oder eine -kommissarin die Hauptrolle spielen? Wird der Polizist als Identifikationsfigur so dringend benötigt? Nun gut, normalerweise stehen Kommissar oder Kommissarin, ob sie Wallander, Lund oder Hunkeler heißen, ihrem Job und den Vorgesetzten kritisch gegenüber. Als Menschen sind sie eher gebrochen oder zumindest schwer gebeutelt.

 

 

 

Ziemlich hin- und hergerissen zwischen Profession und Neigung ist die Polizistin Johanna di Napoli, die der Zürcher Krimiautor Michael Herzig erfunden hat. Sie ist einst als Quotenfrau bei der Zürcher Stadtpolizei angestellt worden und mittlerweile, im dritten Krimi, wegen Unbotmäßigkeit und privaten Alkohol-exzessen zur persona non grata geworden. Schließlich wird sie abgeschoben zu einem scheinbar harmlosen Fall von Ausländerhass. Deutsche, die in Zürich leben und arbeiten, werden brieflich bedroht. Doch dann wird ein hoher deutscher Politiker auf Staatsbesuch in der Schweiz erschossen, russische Mafiosi tauchen auf, ein geheimnisvoller Killer, die volle Palette also. Di Napoli überlebt unter Mithilfe des melancholischen Killers so ziemlich alles und triumphiert am Schluss, auch über ihre Vorgesetzten. Aber nicht über ihr Privatleben. Herzigs Krimi ist flott geschrieben, aber bei Motiv und Handlung wirkt alles ein bisschen zu übermotiviert und überkonstruiert. Dennoch: Gute Frau, diese di Napoli.

Ein klassischer deutscher Polar mit nur ganz wenig Polizeikontakt ist der Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya, geschaffen von Jakob Arjouni. Jetzt gibt es endlich wieder ein Abenteuer mit ihm, das fünfte nämlich. Mittlerweile ein bisschen gesetzter, quasi verheiratet und nicht mehr ganz so bissig, wird Kayankaya bei zwei Aufträgen gefordert: Einerseits soll er ein verwöhntes Upper-Class-Girlie aus den Klauen eines geschickt mit den Kulturstereotypen handelnden türkischen Zuhälters holen. Dummerweise ist der Onkel des unangenehmen Typen ein hochrangiger islamistischer Prediger in Deutschland. Außerdem gilt es für Kayankaya, den nordafrikanischen Schriftsteller Rashid an der Frankfurter Buchmesse als Leibwächter zu schützen. Dieser hat sich in seinem neuen Roman ein bisschen weit vorgewagt in Sachen Homosexualität. Die Pressedame von Rashids Verlag hätte jedenfalls nichts dagegen, wenn es zu Übergriffen käme, was für eine Werbung! Tatsächlich gerät der Schriftsteller als Geisel in Kayankayas anderen Fall hinein. Mit derlei Doppelmoral und ethnischem Schwurbel treibt der diesbezüglich ja unverdächtige Arjouni in seinem neuen Krimi ein höchst gelungenes Spiel. Nach wie vor allererste deutsche Krimiklasse!

Und auch eine weibliche Privatdetektivin gilt es vorzustellen: Nora Tabani, geschaffen von der in Zürich lebenden Künstlerin und Autorin Mitra Devi. Die neunjährigen Zwillinge der begüterten Familie Kaiser sind entführt worden. Keine Polizei, Lösegeld! Von vornherein wittert Tabani, die gegen den Widerstand des Pflegevaters engagiert worden ist, dass in dieser Familie irgendetwas nicht stimmt. Schließlich ist da auch noch Jeff, der uneheliche Sohn, den Frau Kaiser einst als junges Mädchen bekam und zur Adoption weggegeben hat. Der könnte die Entführer engagiert haben. Aber Jeff ist ein Junkie und leidet außerdem nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung an akutem Gedächtnisschwund. Die Autorin bringt die verschiedenen Handlungsfäden schön zusammen, erzählt nicht aus zu vielen Perspektiven und ist immer spannend. Nur der Showdown am Schluss ist etwas hölzern. Auch weibliche Detektive müssen nicht immer um sich ballern.

Neues Altes von Daniel Woodrell: Wie schon im umwerfenden Roman „Winter’s Bone“ lässt der Autor wieder eine jugendliche Hauptfigur im amerikanischen Hinterland der Ozark Mountains agieren. Diesmal ist es der 13jährige Shuggie, der zwischen sexueller Begierde nach seiner Mutter und abgrundtiefem Hass auf seinen Stiefvater oszilliert. Ödipus, ick hör dir trapsen! Jedenfalls muss Shuggie für seinen brutalen Alten in die Häuser von Kranken einsteigen, um dort Medikamente und Drogen zu klauen. Doch dann taucht ein anderer Mann mit einem tollen Auto auf, plötzlich ist die Küche voller Blut, der Stiefvater verschwunden und die schöne Mutter wird erpressbar – was Shuggie, das Rabenaas, weidlich ausnützt. Woodrell erzählt präzise, mit knackigen Dialogen und kurzen Sätzen, und seine Figuren beginnen sofort zu leben. Da sind kein Wort und keine Geste zu viel, vor allem wird es nie schwiemelig. Große Kunst!

Eine ziemlich originelle Idee liegt dem Debütkrimi von Thomas Kowa zugrunde. Aus den Blutspuren Christi auf dem berühmten Turiner Grabtuch soll ein mad scientist namens Wismut einen Jesus-Klon geschaffen haben. 2000 Jahre später also wandelt der Heiland als zweijähriges Kind wieder unter uns. Das gefällt aber den christlichen Machthabern nicht. Die Handlung spielt vor allem in der Schweiz, weil dort in Labors das Grabtuch und andere Reliquien auf ihre Echtheit geprüft wurden und dabei Teile verschwunden sind. Die Jesuiten und der Bischof von Basel, der ja in Solothurn sitzt, entsichern nun die Waffen. Der wackere Basler Kommissar Pandera, der – das sei hier extra erwähnt – verhältnismäßig normal lebt und arbeitet, ermittelt bis aufs Deck eines dieser riesigen Kreuzfahrtschiffe.
Der Autor hätte als Erzähler möglicherweise ein paar Perspektiven weniger einnehmen sollen. Manchmal zieht sich der Krimi ein bisschen sehr in die Länge. Allerdings stecken im Roman viele gute Ideen und interessant sind die (kirchen)geschichtlichen und (gen)technologischen Einstreuungen allemal.