KURZ UND GUT

von Christian Meyer

 

Craig Thompson ist mittlerweile durch seine Werke „Blankets“ und „Habibi“ weithin bekannt. Sein nun erstmals auf Deutsch erschienenes Debüt „Mach‘s gut, Chunky Rice“ ist wie „Blankets“ autobiographisch inspiriert, auch wenn die Hauptfigur eine Schildkröte ist. Es geht um Enttäuschung, Trennung, Abschied und den Schritt in die große, weite Welt. Thompson erzählt in wilden Linien und befremdlichen surrealen Szenarien von elementaren Gefühlen – traurig und schön zugleich.

Craig Thompson: „Mach‘s gut, Chunky Rice“.
Reprodukt, 128 S., Softcover, s/w, Euro 16.- / sFr. 23.40

 

Marzena Sowa wurde als Kind „Marzi“ genannt. Jetzt hat sie ihrem Freund Sylvain Savoia ihre Kindheitserlebnisse aus dem Polen der Jahre 1984 bis 1987 erzählt, der daraus eine so süße wie bittere Anekdotensammlung machte. Die Hauptfigur ist ästhetisch am Manga orientiert, der Rest der Zeichnungen sortiert sich zwischen Realismus und Funny ein. Allein die Episodenstruktur und der umfangreiche Erzähltext verhindern, dass man noch mehr in die Geschichte eintaucht.

Marzena Sowa & Sylvain Savoia: „Marzi“.
Panini, 224 S., Hardcover, farbig, Euro 24.95 / sFr. 35.40

 

„Goliath“ von Tom Gauld ist andersherum erzählt. Nicht zeitlich andersherum, sondern moralisch umgedreht. In der kurzen, schlicht gezeichneten Geschichte ist Goliath ein naiver, gutmütiger Tropf, den seine eigenen Leute ausnutzen und der zum Opfer von Davids Ehrgeiz wird. Gaulds Perspektivwechsel ist so einfach wie überraschend.

Tom Gauld: „Goliath“.
Reprodukt, 96 S., Softcover, zweifarbig, Euro 15.- / sFr. 21.90

 

Nach „Grenzfall“ widmen sich Susanne Buddenberg und Thomas Henseler mit „Berlin – geteilte Stadt“ nochmals dramatischen Ereignissen in der DDR. War in „Grenzfall“ das nahende Ende der Mauer Thema, ist es nun die gesamte Zeit vom Mauerbau bis zur Öffnung der Grenzen. Der Band erzählt detailliert verschiedene wahre Episoden. Dass sich das Buch an Lehrer und Schüler richtet, verbergen die Autoren nicht. Erzählt wird ebenso sachlich wie didaktisch, zudem ergänzt ein Begleittext jede Episode.

Susanne Buddenberg & Thomas Henseler: „Berlin – geteilte Stadt“.
avant verlag, 100 S., Softcover, s/w, Euro 14.94 / sFr. 21.90

 

Charles Burns scheint nach „Black Hole“, seinem Opus Magnum der 90er-Jahre, mit einer neuen Reihe seinen Ruf als Meister der Teen-Angst bestätigen zu wollen. Die ersten beiden Bände „X“ und „Die Kolonie“ zeigen Dougs Beziehung zu seinem Vater und seiner Ex-Freundin. In klaren, kontrastreichen Farbzeichnungen wechselt die Geschichte zwischen den Alltagserlebnissen und Dougs Albträumen, die David Lynchs „Eraserhead“ Konkurrenz machen. Verstörend gut.

Charles Burns: „X“ & „Die Kolonie“.
Reprodukt, 56 S. Hardcover, farbig, Euro 18.- / sFr. 25.90

 

„Chronik einer verschwundenen Stadt“ erzählt von der Liebe der Pariser Unternehmensberaterin Dibou und des ägyptischen Künstlers Golo zu dem Örtchen Qurna. Fünfzehn Jahre lang hat das Paar den Ort immer wieder bereist, schließlich auch dort gewohnt und mit den Kindern im Dorf Projekte durchgeführt. Als die Regierung anfängt, ihren Masterplan zum Tourismus in und um Luxor zu realisieren, beginnt die Zwangsumsiedlung des Dorfs, von dem heute kaum noch etwas übrig ist. Der Band setzt mit seinen lebendigen, farbigen Zeichnungen und den eingestreuten Fotos der Dorfbewohner und der Projekte mit den Kindern aus dem Dorf ein eindrucksvolles Denkmal.

Dibou & Golo: „Chronik einer verschwundenen Stadt“.
avant verlag, 200 S., Hardcover, farbig, Euro 24.95 / sFr. 35.-

 

„Im Land der Frühaufsteher“ umkreist mit einer Rahmenhandlung den Tod von Azad Hadji im Jahr 2009. Der Asylbewerber starb unter rätselhaften Umständen an starken Verbrennungen. Paula Bulling lernt einige Afrikaner in den Asylheimen in Sachsen-Anhalt kennen und beschließt, einen Comic über ihre Lebensbedingungen zu machen. Sie besucht einen Afroshop, besucht ihren Freund Farid, erlebt den täglichen Rassismus auf der Straße, stößt auf den Fall von Hadij, geht auf eine Demo, diskutiert mit einem Freund über die Erzählperspektive ihres Comics. Der schnoddrig-unsaubere Zeichenstil passt perfekt zu dem tastenden Erzählstil – ein spannendes Debüt.

Paula Bulling: „Im Land der Frühaufsteher“.
avant verlag, 120 S., Softcover, s/w, Euro 17.95 / sFr. 30.-

 

François Schuiten ist vor allem durch seine mit Benoit Peeters realisierten Comics der Serie „Die geheimnisvollen Städte“ bekannt. Mit seinem in detaillierten Schwarzweiß-Bildern gehaltenen Solo-Werk „Atlantik 12“ knüpft er erzählerisch dort an: Ein alter Lokomotivführer stellt sich gegen den Fortschritt und versucht in einer zunehmend überschwemmten Landschaft seine Dampflok gegen die fortschreitende Einführung der Seilbahn zu retten. Ein fantastisches, retrofuturistisches, ebenso technikverliebtes wie zukunftsskeptisches Szenario. Die Altherrenfantasie in Person eines mysteriösen, leicht bekleideten jungen Mädchens hätte es aber nicht gebraucht.

François Schuiten: „Atlantik 12“.
Schreiber & Leser, 88 S., Hardcover, s/w, Euro 22.80 / sFr. 34.90

 

Marc-Antoine Mathieu ist bekannt für seine philosophischen, die Möglichkeiten des Mediums ausschöpfenden Geschichten. Mit „3 Sekunden“ wagt er ein neues Experiment: Multiperspektivisch umkreist er eine Ereignisabfolge von 3 Sekunden über vielfältigste Spiegelungen im Raum – ein ständiges Ein- und Auszoomen. Dass bei dieser erstaunlichen Fingerübung die Story in den Hintergrund tritt, ist verschmerzbar.

Marc-Antoine Mathieu: „3 Sekunden“.
Reprodukt, 80 S., Softcover, s/w, Euro 18.- / sFr. 25.90

 

Derzeit gibt es wieder vermehrt Comics in Museen: Das Museum Ludwig in Köln widmet sich bis zum 6. Januar 2013 Art Spiegelman. Im Mittelpunkt steht neben seinem Klassiker „Maus“ auch die komplexe, selbstreflexive Arbeit „Im Schatten keiner Türme“ über den 11. September 2001. Ralf Königs neuestes Werk „Elftausend Jungfrauen“ ist eine tabufreie Bearbeitung der Legende der berühmten Stadtpatronin Kölns. Zur Buchveröffentlichung ist eine begleitende Ausstellung „Ralf König: das Ursula-Projekt“ vom 13. Oktober bis zum 9. Februar 2013 im Kölnischen Stadtmuseum zu sehen.

Leider gerade vorbei ist die Hendrik Dorgathen gewidmete Ausstellung „Serious Pop: Comics, Zeichnungen, Animationen“ im Kunstmuseum in Mülheim an der Ruhr. Die zur Ausstellung erschienene, umfangreiche Sammlung „Holodeck – Skizzen 1968 – 2012“ ist jedoch weiterhin erhältlich und gibt einen tiefen Einblick in Dorgathens Werk im Grenzbereich von Comic, bildender Kunst und Illustration.

Ralf König: „Elftausend Jungfrauen“.
Rowohlt, 192 S., Hardcover, s/w, Euro 18.95 / sFr. 29.90

Hendrik Dorgathen: „Holodeck – Skizzen 1968 – 2012“.
Edition Moderne, 240 S., Hardcover, farbig, Euro 36.- / sFr. 45.-

 

„Das Nest“ erzählt von der Emanzipation der jungen Witwe Marie und der Homosexualität ihres besten Freundes Serge in einem kleinen Dorf in der Wildnis Kanadas. In den Bänden 5 und 6 – „Montreal“ und „Ernest“ – nimmt sich Marie eine Auszeit und geht erstmals in die große Stadt. Das Dorf muss derweil ohne ihr kleines Lebensmittelgeschäft auskommen. Außerdem zeigt sich, dass der Dorfpfarrer für Serges gleichgeschlechtliche Neigungen mehr Verständnis aufbringt, als man vermutet hätte. „Das Nest“ von Régis Loisel und Jean-Louis Tripp ist auch noch nach sechs Alben eine unglaublich liebevolle, humanistische Erzählung.

Régis Loisel & Jean-Louis Tripp: „Das Nest: „Montreal“ & „Ernest“.“.
Carlsen, 72 S., Hardcover, farbig, Euro 18.- / sFr. 25,90