Schiebezangen, rote Pferde und Trichter im Mondlicht

Das geschriebene Wort von Wolfgang Bortlik

 

Was kommt zuerst, das Zeichnen oder das Erzählen?

Diese Frage stellt das neue STRAPAZIN an verschiedene Comic-Künstler. Diese Frage lässt sich selbstverständlich auch an das geschriebene Wort, an die Literatur, an die Philosophie stellen: Was ist zuerst, Text oder Bild? Schwierig zu entscheiden! Was kommt zuerst? Das Huhn oder das Ei? Entsteht der Text aus dem Bild oder schafft der Text das Bild? Ist das Bild der Fünfer und der Text das Weggli? Apfel oder Ei? Der Anfang oder das Ende? Hinz oder Kunz? Die Vorder- oder die Rückseite? Himmel oder Hölle? Hat das Bild einen Namen? Bildet der Text ein Bild?

Hier jedenfalls ein paar Beispiele einer sehr bildbezogenen Literatur. Ror Wolf, einigen vielleicht nur als genialer Fußballdichter bekannt, schreibt seit Jahrzehnten an einem einzigartigen Werk, in dem die Sprache gewaltige Bilder erzeugt. Es hat gar keinen Sinn, das irgendwie beschreiben zu wollen, also lassen wir den Schriftsteller selbst sprechen:

Ich sah damals Fische kalt durch den Wald wandern, auf der Suche nach Flüssen. Vereiste Enten fielen vom Himmel, ich sah eine fleischrote Schnauzenspitze aus dem Erdboden ragen, ich sah abgehäutete Hunde, davonspringend, haarlose nackte Hunde, stumm, ich sah tote Tiere, vom Meer ausgeworfen, fett quellend in allen Pfützen, ich sah glühende Steppen und hörte das Rascheln von langen Schlangen, und als ich einschlief im Winter, kroch mir der Frost in die Ohren. Dann ging ich weiter dahin bis zum Meer.


Das schreibt Ror Wolf in seinem neuen Buch „Die Vorzüge der Dunkelheit“, er (oder der Verlag) nennt es einen Horrorroman bzw. „neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen“. Ich würde diesen Text als Beispiel dafür nehmen, wie man mit dem Schreiben Bilder malt. Außerdem macht Ror Wolf seit vielen Jahren schon ziemlich surrealistische Collagen aus alten wissenschaftlichen Illustrationen, mit denen er seine Texte garniert und so Bilder direkt neben das Textbild stellt.

Diese Welt bestand, wie ich später in einem meiner Aufsätze beschrieben habe, wirklich aus einer Reihe sehr schöner Worte, die mir immer dann einfielen, wenn ich sie nötig hatte. Und ich war ganz sicher, ich zweifelte keinen Moment daran, dass, wenn mir das Wort SCHUHLADEN einfallen würde, ich unmittelbar darauf an einem Schuhladen vorbeikommen würde, oder wenn ich das Wort SCHIEBEZANGE auf die Zunge nähme, würde unverzüglich eine Zange vom Tisch fallen und auf dem Boden liegen.


Ror Wolfs Texte haben neben dem Bildnerischen auch noch eine Melodie, eine unglaubliche Sprachmelodie. Probiert es aus, indem ihr euch die Texte laut vorlest.


Wenn ein Bild viel Geld wert ist, dann handelt es sich zumeist um Kunst:

„Betrachtet man die Wertentwicklung bzw. Wertsteigerung von Kunstwerken in den letzten 40 Jahren, so lässt sich Folgendes festhalten: Kaum eine andere Anlageart hat es vermocht, ein einmal eingesetztes Kapital so nachhaltig zu vervielfachen. Der Wertzuwachs bei Kunstwerken ist konstant und er bringt auch dann noch eine erstaunliche Rendite, wenn andere Anlageprodukte aufgrund wirtschaftlicher Krisenmomente hohe Verluste schreiben.“
Dies gibt eine Galerie in ihrem Kundenprospekt zu bedenken und das erinnert unsereins sofort an die Krise des Kapitalismus, an Betrug und Korruption. Dieser sogenannte Wertzuwachs, der moralisch schon nicht ganz einwandfrei ist, verleitet ja praktisch zum Betrug. Eine bestechende verbrecherische Idee: Wieso nicht Gemälde, also Bilder fälschen? Das heißt, die Bilder werden eigentlich nicht gefälscht. Hat ja keinen Sinn, ein berühmtes Gemälde nachzumalen. Gefälscht wird eigentlich der Maler, dem man faktisch ein Bild unterschiebt, das er nicht gemalt hat, ein Bild, das nun aber unter seinem Namen für viel Geld verkauft werden kann. Am besten nimmt der Fälscher einen nicht so bekannten Künstler, denn für die wirklich großen Namen gibt es zu viele Spezialisten und ihr Werk ist wissenschaftlich gesichtet und gesichert. Eine gute Wahl für Fälscher wäre beispielsweise der rheinische Expressionist Heinrich Campendonck (Krefeld, 1889 - Amsterdam, 1957). Er ist einer der weniger bekannten Mitglieder der berühmten Gruppe „Der blaue Reiter“, aber seine Ölgemälde werden auf dem Kunstmarkt doch für eine gute Million Euro angeboten.

Der Fälscher malt also mit dem klassischen Pinselschwung ein Bild mit dem Titel „Rotes Bild mit Pferden“, das er mit Campendonck signiert. Des Weiteren fälscht er auf der Rückseite des Bildes einen Zettel, der das Gemälde als Besitz einer bekannten deutschen Kunstgalerie der Zwanzigerjahre ausweist. Dann holt er noch eine Expertise ein, um die Echtheit des Bildes zu bestätigen. Möglicherweise wird für dieses Gutachten ein größerer Betrag bezahlt, oder es handelt sich um eine Gefälligkeit. Schwupps, „Rotes Bild mit Pferden“ wird für 2,4 Millionen Euro in einem Kölner Auktionshaus verkauft.

So geschehen im November 2006. Erst vor kurzem ist der Bildfälscher, der ansonsten erfolglose Kunstmaler Wolfgang Beltracchi aufgeflogen. In ihrem Buch „Falsche Bilder, echtes Geld“ enthüllen die Kulturjournalisten Stefan Koldehoff und Tobias Timm die kriminellen Machenschaften des Beltracchi-Clans und seiner Verbündeten. Ein Krimi, bei dem es nicht nur um Gier und Geld als Motiv geht, sondern auch um eine Branche, die von der Marge her dem Waffenhandel oder der Prostitution sehr nahe steht.


Ein ganz spezielles Bild ist die Landkarte, die Darstellung der Erdoberfläche oder wenigstens eines Stücks davon. Eine Landkarte ist das Endprodukt eines mehr oder weniger wissenschaftlichen und schriftlichen Prozesses wie jener der Vermessung, Berechnung etc. Das Ergebnis ist dann das Bild, das seinerseits wieder die Grundlage zu imaginären Texten ist. Heute, in den Zeiten von Google Earth, ist der Zauber der Landkarte ein bisschen verflogen, die Imagination beim Betrachten einer Landkarte wird durch dieses absolut realistische Google Arsch zerstört. Heute sehen die Karten alle gleich aus und vor allem sind die weißen Flecken, das Unentdeckte, endgültig verschwunden. Die Welt ist klein. Doch früher – vor der modernen Kartographie – spielten Phantasie, Aberglauben, Furcht, Wunsch und Traum eine beträchtliche Rolle bei der Vermessung der Welt. Da waren den Karten sozusagen keine Grenzen gesetzt. Jetzt gibt es ein sehr schönes Buch, in dem kuriose Karten aus allen Zeiten präsentiert werden. Der Belgier Frank Jacobs zeigt dort ziemlich skurrile und auch komische Machwerke wie Propagandakarten, schwere geographische Irrtümer (Kalifornien als Insel), Karten von Phantasieländern (The Land of Oz, somewhere over the rainbow), Länderumrisse als Karikaturen, die ganze Welt auf einem dreiblättrigen Kleeblatt, die Topographie der Zuneigung (La carte de tendre) und anderes mehr. All diese Landkarten erzählen die unglaublichsten Geschichten, wenn man nur genau hinschaut.


Seit jeher weiß man, dass man Bilder auch aus Schrift machen kann. Quasi der Apfel und das Ei! Irgendwie ist das doch die größte Kunst, das Spiel. Im Jahr 1905 schreibt Christian Morgenstern ein kleines Gedicht und stellt es so dar:


Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht

fließt weißes Mondlicht

still und heiter

auf ihren

Waldweg

u.s.

w.




Das ist eine perfekte Synthese aus Bild und Text. Diese Ideogramme (Figurengedichte) gab es immer schon, es bietet sich ja an, mit den Worten und Buchstaben zu spielen. Die Sprache stellt sich selbst dar, Lyrik und Prosa benutzen das Visuelle der Sprache, Buchstaben, Laute, Symbole etc. Der Franzose nennt das Calligramme, und Guillaume Apollinaire war ein großer Liebhaber derselben. Heute heißt dergleichen oft konkrete Poesie. Große Vertreter dieser Literarturgattung sind Eugen Gomringer, Friedrich Achleitner, Franz Mon usw.

Und manchmal kommt dieses Spiel mit der Typographie auch in längeren Texten vor, beispielsweise im neuen Roman von Wolf Haas. Der ist gerade erschienen und das gesamte Feuilleton kriegt wieder die Motten. Ich diesmal nicht. Klar macht das Haas leidlich originell, seine Helden in potentiellen Monologen reden zu lassen. Das hat er von amerikanischen Sitcoms gelernt. Warum er dann aber typographische Sperenzchen macht, bleibt unklar. Die sind nur manchmal einigermaßen passend. Da ist nicht allzu viel inhaltlicher oder ästhetischer Wille dahinter, höchstens vielleicht ein bisschen Provokation. „Schaut mal her, was sich der Haas wieder alles traut!“ Na ja, bei seinen Buchverkäufen kann er ruhig diese Chuzpe haben, und der Verlag geht selbstverständlich auf alle Wünsche ein.

Dementsprechend heißt der neue Roman von Haas auch „Verteidigung der Missionarsstellung“. Er handelt jedenfalls von einem halbindianischen Bayern, der sich immer verliebt, wenn eine der hysterischen, Verzeihung, historischen Seuchen der Menschheit ausbricht: Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, Schweinegrippe. Zwischendurch gibt Haas Autobiographisches von sich. Wie gesagt: na ja.


Womit wir wieder am Anfang unserer literarischen Recherche sind: Haas oder Wolf? Huhn oder Ei? Himmel oder Hölle?

 

 

Playlist:

Ror Wolf: „Die Vorzüge der Dunkelheit“ (Horrorroman).
Schöffling & Co., 272 S., Hardcover,
Euro 24.95 / sFr. 35.40

Stefan Koldehoff/Tobias Timm: „Falsche Bilder. Echtes Geld.“ (Der Fälschungscoup des Jahrhunderts – und wer alles daran verdiente).
Galiani Berlin, 275 S., Hardcover,
Euro 19.99 / sFr. 28.90

Frank Jacobs: „Seltsame Karten“ (Ein Atlas kartographischer Kuriositäten).
Liebeskind, 124 S., Hardcover,
Euro 29.80 / sFr. 38.90

Wolf Haas: „Verteidigung der Missionarsstellung“.
Hoffmann und Campe, 224 S., Hardcover,
Euro 19.90 / sFr. 31.90