KURZ UND GUT

von Christian Meyer

 

In den letzten Jahren schwingt sich die Comic-Kunst zu immer neuen Höhen auf. Jüngstes Beispiel dieser Meisterschaft ist «Quai d'Orsay» von Christophe Blain und Abel Lanzac. Ersterer ist hinlänglich bekannt durch seine Serien «Isaak der Pirat» und «Gus»; letzterer arbeitete unter dem fran­zösischen Aussenminister Dominique de ­Villepin als Redenschreiber. Seine Erlebnisse rund um den bevorstehenden Afghanistankrieg hat er nun mit Hilfe von Blains ­dynamischen Farbzeichnungen als teils komische, teils expressive, aber immer spannende Analyse der diplomatischen Machenschaften zwischen Idealismus und Machterhalt umgesetzt. Ein grossartiges Werk.

Christophe Blain & Abel Lanzac : «Quai d'Orsay».
Reprodukt, 200 Seiten, Hardcover, farbig, CHF 47.90 / Eur 36

 

Bastien Vivès hat sich mit «Der Geschmack von Chlor» und «In meinen Augen» als genauer Beobachter von Liebesbeziehungen erwiesen. Mit «Das Gemetzel» widmet er sich abermals dem Thema und beschreibt skizzenhaft all die Höhen und Tiefen einer Beziehung. Eine spielerische, aber treffende kleine Arbeit.

Bastien Vivès : «Das Gemetzel».
Reprodukt, 88 Seiten, Softcover, farbig, CHF 21.90 / Eur 15

 

Vor einem Jahr starb mit Jean Giraud ein wegweisender Comic-Künstler. Als Gir stand er für den Western «Leutnant Blueberry», als Moebius hingegen erschuf er surreale Science-Fiction-Welten in psychedelischen Bildern. Der Verlag Cross Cult fährt nun mit seiner grossen «Moebius Collection» fort : Nach «Die hermetische Garage» und «Arzak» erscheinen nun zugleich fünf Hardcover-Sammelbände, die kurze und längere Ge- schichten aus den 70er-Jahren versammeln, darunter Geschichten um «Major Gruber» sowie «The Long Tomorrow», die eigentliche Vorlage für «Blade Runner» und sehr exemplarisch für Moebius' Mix aus Science Fiction und Noir-Krimi. Eine grossartige Sammlung, die viel wenig Bekanntes ausgräbt. Der Verlag Ehapa veröffentlicht mit «Arzak – der Raumvermesser» Moebius' letztes grossformatiges Werk von 2009. Damit fährt er noch einmal alle Zutaten seines Universums auf : surreale Geschichten, psychedelische Farbgebung und grotesker Humor.

Moebius : «Arzak – der Raumvermesser».
Ehapa, 80 Seiten, Hardcover, farbig, CHF 35.40 / Eur 25

Moebius : «Moebius Collection».
Cross Cult, 7 Bände, je 56 Seiten, Hardcover, farbig, je CHF 23.40 / Eur 16

 

Jeff Lemire hat schon mit seiner melancholischen «Essex-Trilogie» begeistert. Jetzt erscheinen zwei weitere Arbeiten, die diese Gefühlswelt ins Genre überführen : «The Nobody» ist eine Variante von H. G. Wells' «Invisible Man». Der Vermummte wirkt in dem kleinen Kaff, in dem er auftaucht, wie ein Katalysator für Affekte. Am Ende ist nichts mehr, wie es war. «Sweet Tooth» ist eine postapokalyptische Fantasie, in der ein Junge mit Geweih zu einer Gruppe gejagter Kinder gehört. Die krakeligen Zeichnungen sind hier massenkompatibel koloriert, was sie ein wenig der melancholischen Stimmung be- raubt, der existentiell Furcht erregenden Geschichte aber nicht viel anhaben kann. Der dritte Teil «Die Flucht» erscheint Mitte April (beide bei Panini).

Jeff Lemire : «The Nobody».
Panini, 148 Seiten Hardcover, s/w, CHF 28.40 / Eur 19.50

Jeff Lemire : «Sweet Tooth».
Panini, je 128 Seiten, Softcover, farbig, je CHF 21.90 / Eur 14.95

 

Mit «Die falschen Gesichter» erzählen David B. & Tanquerelle von Bankräubern, die über die Jahre mit einer ausgeklügelten Strategie die Pariser Polizei in Atem halten. Für David B. ist dieses spannende Genrestück sicher ungewöhnlich, aber die genaue Charakterzeichnung und Milieustudie steht ganz in der Tradition eines Tardi – ebenso wie die Zeichnungen.

David B. & Tanquerelle : «Die falschen Gesichter».
Avant-Verlag, 152 Seiten, Softcover, zweifarbig, CHF 28.40 / Eur 19.95

 

«Der Tag im Moor» von Oliver Grajewski ist ein dicker Brocken, der unterschiedlichste Bild- und Erzähltechniken miteinander kombiniert. Autobiografisch inspiriert, erzählt die Geschichte von einem Besuch bei den Eltern, der von Erinnerungen durchzogen ist und bei Recherchen zu einem alten Artikel in eine magische Gegenwart führt. Ein faszinierendes Werk, das viele (popkulturelle) Fussnoten setzt.

Oliver Grajewski : «Ein Tag im Moor».
Breitkopf Editionen, 352 Seiten, Softcover, s/w, ca. CHF 32.– / Eur 25

 

Der zweite Teil von Igorts Berichten aus der ehemaligen Sowjetunion setzt sich mit der 2006 ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja auseinander. «Berichte aus Russland» ist harter Stoff, werden doch die Gräueltaten während des Tschetschenienkriegs, die Folter seitens der Militärs und die Einschüchterungsversuche innerhalb der Pseudodemokratie schonungslos aufgezeigt. Zugleich ist Igorts Buch ganz im Sinne seiner Protagonistin ein Plädoyer für die Menschlichkeit – und ein Denkmal für die Opfer der Unterdrückung.

Igort : «Berichte aus Russland».
Reprodukt, 176 Seiten, Softcover, farbig, CHF 34.40 / Eur 24

 

«Koma» von Pierre Wazem und Frederic Peeters erzählt in sechs Bänden von Addidas und ihrem Vater. Beide leben als Schornsteinfeger in einer düsteren, diktatorischen Metropole. Science Fiction, Fantasy und Märchen kreuzen dieses Spektakel. Nachdem die Ereignisse in den ersten beiden Bänden Vater und Tochter auseinandergerissen haben, findet die Familie im dritten Band «Wie im Wilden Westen» zwischen Arbeitslager und unterirdischer Parallelwelt wieder zusammen. Im vierten Band werden sie aber weiterverfolgt und flüchten durch eine surreale Fantasiewelt in «Das Hotel». Niedlich-brutal, düster und bunt – «Koma» ist eine wirklich aussergewöhnliche Serie.

Pierre Wazem & Frederic Peeters : «Koma».
Reprodukt, 6 Bände, je 48 Seiten, Softcover, farbig, je CHF 17.90 / Eur 12

 

Mit «White Line» entführt uns auch Calle Claus auf eine böse surreale Reise, dessen Pointe an Polanskis «Der Mieter» erinnert. Nach einer Party geht der Protagonist mit einer Frau mit und landet in einem irren Albtraum. Ein hermetisches Spiel voller boshafter Ideen. Gegensätzlicher dazu könnte Ulf K.'s neues Album «Dolomiti Jahre» kaum sein. Ulf K. erzählt Kindheitserinnerungen, die sowohl heimelige Geborgenheit als auch die Gefahren hinter der nächsten Ecke thematisieren – alles aus der fantasievollen Perspektive eines Kindes und in schönen, leicht nostalgischen Farbzeichnungen.

Calle Claus : «White Line».
Edition 52, 144 Seiten, Softcover, s/w, CHF 25.90 / Eur 18

Ulf K. : «Dolomiti Jahre».
Edition 52, 48 Seiten, Softcover, farbig, CHF 17.90 / Eur 12

 

Noch eine Spaziergängerin : Anke Feuchtenberger hat eine ganze Generation von ZeichnerInnen mit ihrem Stil beeinflusst. Zusammen mit Stefano Ricci veröffentlicht die Hochschulprofessorin im Verlag Mami freiere Arbeiten, bei Reprodukt erscheinen ihre Comics. So auch «Die Spaziergängerin», eine Sammlung mit Geschichten zu verschiedenen Städten, die mal abstrakt-assoziativ, mal vage narrativ sind.

Anke Feuchtenberger : «Die Spaziergängerin».
Reprodukt, 80 Seiten, Hardcover, s/w und farbig, CHF 28.90 / Eur 20

 

In eindrucksvollen, bunten Zeichnungen erzählen Brüno und Fabian Nury Eugène Sues Roman «Atar Gull» als Comic. Sue war Mitte des 19. Jahrhunderts sehr populär, heute ist er kaum noch bekannt. Dessen Wendung zum politischen Engagement hin ist auch in der Geschichte um den Sklaven Atar Gull, der sich raffiniert an seinem Sklavenhalter rächt, bestens erkennbar. Spannend ist nicht nur die Story, sondern auch die widersprüchliche Charakterzeichnung, die das Gute und das Böse nicht einfach auf simple Art abhandelt.

Brüno & Fabian Nury : «Atar Gull».
Avant-Verlag, 86 Seiten, Hardcover, farbig, CHF 28.40 / Eur 19.95

 

Wer sich die Nase am Schaufenster des Taschen-Verlags platt drückt, weil dort Robert Crumbs Sketchbook-Sammlung für ein paar Hundert Euro zu haben ist, kann sich über eine erschwingliche Anthologie in vier Bänden von Reprodukt mit Stories aus den Skizzenbüchern des Meisters freuen. Den Anfang macht «Nausea» mit Geschichten aus den 80er- und 90er-Jahren zu Literatur und Literaturbetrieb.

Robert Crumb : «Nausea».
112 Seiten Hardcover, s/w, CHF 39.90 / Eur 29