MAGAZIN

Kein Gott, kein Vaterland, kein Herr!

Ein Comic über die Suche nach einem besseren Leben und das Scheitern daran. Über den Tod, das kleine Glück und die Hoffnung auf eine «Heimat in der Menschheit als Ganzes». Ein Neunzigjähriger stürzt sich kurz nach der Jahrtausendwende aus dem Fenster eines Seniorenheimes. Antonio Altarriba Lopez, der Vater des Autoren Antonio Altarriba, ist die Verkörperung der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die während seines Falls vor den Augen der Leser entfaltet wird.

Ein Leben als Suche nach Fluchtwegen aus der Enge, einem freieren Leben, nach der «Kunst zu fliegen». «Ich war sicher, nie ­wiederzukommen», denkt Antonio, als er ju­gendlich den starren Strukturen auf dem Land Richtung Stadt entflieht. In Saragossa schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und findet auch hier Barrieren und Mauern, die er gehofft hatte, hinter sich zu lassen. Er kämpft, angewidert von den autoritären Strukturen des Landes, nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges auf Seiten der Republik. «Kein Gott, kein Vaterland, kein Herr!», schwört er sich mit drei Freunden, den «Musketieren des Anarchismus» zuerst im Kampf für ein freieres Spanien, dann in den Reihen der Résistance gegen die Nazis. Doch das Bündnis im Kampf für eine gerechtere Welt scheitert an der Entwicklung dieser Welt. Die erhoffte Revolution ist verloren, die ehemaligen Kämpfer müssen sich in ein autoritäres, von Militär und Kirche geprägtes Spanien einfügen. Bei seiner Rückkehr nach Spanien, ergibt sich Antonio in die Zwänge der Gesellschaft und versucht zu vergessen : «Um die Gegenwart zu ertragen, musste man der Vergangenheit entsagen, sterben, um weiterzuleben … »

Das Scheitern an den eigenen Idealen zerfrisst ihn und treibt ihn schliesslich zum letzten Schritt. Nun ist es an seinem Sohn zu verstehen. Mit «Die Kunst zu fliegen» hat dieser gemeinsam mit dem Zeichner Kim eine Form geschaffen, die – trotz aller Melancholie, die in den in tristen Grautönen gehaltenen Zeichnungen zum Ausdruck kommt – immer wieder den Anschein des väterlichen Traumes von Freiheit in sich trägt.

Die Literatur, insbesondere Kafkas Erzählungen, waren für den Vater Zuflucht und Bestätigung, Zeichen für die Aussichtslosigkeit des Kampfes und gleichzeitig Hoffnung. Noch kurz vor seinem Tod liest er «Die Verwandlung» und findet sich wieder in den Zwängen Gregor Samsas, sieht sein eigenes Leben gespiegelt in der Metamorphose hin zu einem von der Geschichte vergessenen Aussenseiter, der aber zumindest in der Literaturgeschichte niemals vergessen werden wird.

Ein ebensolches Denkmal hat Antonio Arrabia seinem Vater geschaffen. Was bleibt, ist der Traum, alle Zwänge hinter sich zu lassen, sich vom Boden zu erheben und das Fliegen zu erlernen. Zumindest im Comic. Für die Kunst und eine bessere Welt.

Jonas Engelmann

Antonio Altarriba /Kim : «Die Kunst zu fliegen».
avant-verlag, 208 Seiten, Softcover, s/w,
CHF 35.40 / Eur 24.95

 

 

 


 

 

Abstürze

«Es waren Ereignisse von grosser Tragweite. Es war verwirrend», fasst Philo, ein Graufink, das über 600-seitige Album «Grosse Fragen» zusammen. Ein Baum verschwindet, ein Flugzeug stürzt ab, eine Bombe explodiert, viele Vögel sterben, ein Bruchpilot hat Albträume, eine mysteriöse Schlange windet sich durch die Geschichte : Kein Wunder, dass Philo verwirrt ist. «Grosse Fragen» widmet sich vor allem einer Frage, danach nämlich, was ­passiert, wenn eine Ordnung zusammenbricht. Über die überschaubare, mit reduziertem Strich skizzierte Graufinkenwelt, deren Leben aus Fressen und Philosophieren besteht, bricht die Tragödie herein : Ein Flugzeug wirft eine Bombe ab, die nicht explodiert, die Vögel halten sie für ein übergrosses Ei. Sie setzen sich zum Brüten auf den vermeintlichen Blindgänger, der schliesslich hochgeht und viele Finken in den Tod reisst. Auch das Leben einer alten Frau – einer Futterspenderin für die Vögel – und ihres behinderten Enkels wird zerstört. Die Frau stirbt, kurz darauf stürzt das Flugzeug in ihr Haus. Die Ereignisse deuten an : Es ist Krieg in der Menschenwelt, die Ordnung ist zusammengebrochen. Die Vögel versuchen, die Ereignisse in die eigene Weltsicht zu integrieren und sich dabei der menschlichen Philosophie und Religionsgeschichte zu bedienen, doch erklären können sie damit nichts. Am Ende der grossen Fragen steht die banale Antwort von Morris, dem Hobby-Philosophen-Graufink : «Es zeigt sich mal wieder, dass man sich auf nichts im Leben verlassen kann. Man sollte jeden Tag so leben, als wäre es der letzte.»

Mehr als diese Binsenweisheit gibt Anders Nilsen dem Leser als Antwort auf die grossen Fragen nicht mit auf den Weg. Um Antworten geht es auch gar nicht. Das Album ist vielmehr eine Studie von Gruppendynamiken, eine Feldstudie der Gesellschaft – seien es Graufinken oder Menschen – angesichts von Extremsituationen, von Krieg, Verlust, Tod. Mit ihrem Leid sind die Vögel alleine, ihr Versuch, sich gegenseitig Trost zu spenden, kippt immer wieder in ein Kreisen um das eigene Elend. Die Bewältigungsstrategie des Absturzpiloten, gefangen in hervorgerufenen Traumata, ist die Wut : Letztendlich schiesst er auf die ihn beobachtenden Vögel. Keiner weiss, wie die Welt, in die alle gemeinsam geworfen wurden und die nicht mehr nach den bekannten Regeln funktioniert, repariert werden soll. Der Baum bleibt verschwunden, das Haus zerstört und die Toten abwesend.

Die Abbildung dieser Hoffnungslosigkeit ist es, was Nilsens Album so nachhaltige Wirkung verleiht : Er nimmt sich die Zeit, seitenlang seinen Charakteren in aussichtslosen, minimalistischen Tätigkeiten zu folgen, ihre Leere angesichts des Verlustes deutlich zu machen, und dennoch in der pseudophilosophischen Selbstironie der Vögel einen Schimmer Hoffnung durchscheinen zu lassen. Der Skeptiker Curtis fasst dies so zusammen : «Die Welt ist auch, ohne dass wir uns magische Gründe für die Dinge ausdenken, kompliziert genug !»

Jonas Engelmann

Anders Nilsen : «Grosse Fragen».
Atrium, 602 Seiten, Hardcover, s/w,
CHF 53.90 / Eur 39.95 

 

 

 


 

 

 

Das schlechteste Tier

Das illustrierte Buch liegt im Trend. Dagegen wäre nichts einzuwenden – wären die meisten illustrierten Bücher nicht so vorhersehbar : Ein Zeichner fertigt in einem «passenden» Stil um die zwanzig Bilder an, die schön regelmässig und möglichst nicht störend im Buch verteilt werden.

Interessant ist ein illustriertes Buch jedoch erst, wenn zwischen Text und Bildern ein echter Dialog entsteht, eine Auseinandersetzung mit Reibungen, eine Interpretation. Darauf achtete der kürzlich verstorbene Armin Abmeier in den von ihm herausgege­benen Die Tollen Hefte, das macht auch Henning Wagenbreth immer wieder vor – und das gegenwärtig vorbildlichste illustrierte Buch ist Mark Twains «Der geheimnisvolle Fremde», bebildert von Atak.

Dieser Fremde ist nichts anderes als ein Teufel namens Satan, der im späten Mittelalter ein österreichisches Dorf aufsucht. Er freundet sich mit einer Handvoll Buben an und führt ihnen erbarmungslos alle Unzulänglichkeiten des Menschen vor, seine Winzigkeit angesichts des Unendlichen und seine Unfähigkeit, Gut und Böse zu verstehen, geschweige denn zu unterscheiden. Düster und pessimistisch, böse und hochkomisch – «Der geheimnisvolle Fremde» ist Mark Twains posthum veröffentlichter Abgesang auf den Menschen, das schlechteste Tier von allen.

Ataks Bildsprache führt die Stimmungen und Aussagen der Novelle nahtlos weiter. Die Bilder sind bunt, vordergründig wirken sie durchaus naiv und dekorativ, doch Atak spielt auch hier virtuos mit Klischees und Zitaten und reichert seine Bilder mit fiesen Details an. Besonders begeisternd ist das Zusammenspiel von Bildern und Text. Die weit über hundert Illustrationen verzahnen sich dank Gestaltung und Typographie zu einem neuen Werk. Zu einem echten illustrierten Buch, nach dessen Lektüre man sich den Text nicht mehr ohne die Bilder vorstellen kann. Der einzige Wermutstropfen : Dieses wundervolle Buch hätte einen festen Einband verdient.

Christian Gasser

Mark Twain : «Der geheimnisvolle Fremde», illustriert von Atak.
Carlsen Verlag, 176 Seiten, Softcover, farbig,
CHF 36.40 / Eur 25.90

 

 

 


 

 

 

Affenfüsse und Riesenmeerschweinchen

Was für eine Freude! Was für ein Spass! Und was für eine Überraschung : Joe Dalys «Doppeltes Glück mit dem roten Affen» auf Deutsch! Ein Comic, den eigentlich niemand braucht, der aber allen Leserinnen und Lesern, die sich einen Funken kindliche und pubertäre Liebe zum Comic bewahrt haben, ein Glücksgrinsen auf das Gesicht zaubern wird.

Der rote Affe ist kein Tier, sondern der Spitzname des rothaarigen Dave, eines glücklosen Comic-Zeichners aus Kapstadt, der mit zwei Affenfüssen (!) zur Welt kam. Sein bester Kumpel ist der ständig abgebrannte, Didgeridoos schnitzende und bizarren Schimären hinterher schlurfende Lebenskünstler Paul. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach John Wesley Harding – nein, nicht nach Bob Dylans Platte, sondern nach einem Capybara, eine Art Riesenmeerschweinchen, das aus einem Zoo in ein tropisches Feuchtgebiet geflohen ist.

Bald schon stolpern die beiden stets leicht bekifft und immer sehr überfordert wirkenden Typen unter der erbarmungslos sengenden südafrikanischen Sonne in ein Abenteuer, in welchem sie sich mit Aliens herumschlagen müssen, mit den apokalyptischen Visionen eines besessenen Sehers, mit den skrupellosen Geschäften eines Immobilienhais und Kunstsammlers, mit den eitlen Sprüchen eines Privatdetektivs, über dessen Inkompetenz man sich bis zum Schluss nicht im Klaren ist, und womöglich sogar mit den Folgen des Klimawandels etc. etc. etc.

Haarsträubend – und doch sehr klassisch : Nicht wenige Momente verweisen auf alte «Tim und Struppi»-Bände (vor allem auf «Die schwarze Insel») und andere Klassiker. Auch die Bildsprache – klare Linien und knallbunte Farben – sowie die lineare Erzählweise sind klassisch. Der Plot jedoch torkelt dank der Neigung von Dave und Paul zu paranoiden Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien immer knapp jenseits der Grenze zum Absurden oder zumindest Abstrusen vor- und seitwärts. Dazu führen sie mit gros­ser Leidenschaft endlose Gespräche von stupender Belanglosigkeit – und köstlicher Komik.

«Doppeltes Glück mit dem roten Affen» ist also genau die Art von Comics, die heute niemand zu brauchen glaubt. Trashig, witzig, bizarr und ohne jeglichen welt- und leserverbessernden Anspruch. Warum soll man heute so einen Comic lesen? Ganz einfach: Weil er auf seine liebenswert schräge Weise einzig­artig und hoch komisch ist und glücklich macht.

Christian Gasser

Joe Daly : «Doppeltes Glück mit dem roten Affen»,
Avant-Verlag, 112 Seiten, Softcover, farbig,
ca. CHF 29.– / Eur 19.95

 

 

 

 

Der Traum vom Fliegen und die Schwerkraft

Eigentlich wollte Robert Weaver (1924 –1994) Wandmaler werden, doch stattdessen wurde er, nachdem er in Venedig die Kunst des Freskos studiert hatte, zu einem begehrten amerikanischen Illustrator. Statt von Mauern herunter kommunizierte er ab 1952 auf den Seiten von so namhaften Pressetiteln wie The New York Times, Life oder Esquire mit der Öffentlichkeit. Dabei verstand er sich immer auch als Journalist und scheute sich nicht davor, in seinen rauen und malerischen Bildern seine Haltung sichtbar zu machen. Am liebsten arbeitete er vor Ort, mit Skizzenblock und Bleistift, und begnügte sich selten mit Einzelbildern, sondern leuchtete die Komplexität und die Widersprüchlichkeit eines Themas lieber in Bildsequenzen aus.

Das macht ihn zu einem Pionier des Visual Essays und zu einer Schlüsselfigur im Bezug auf die aktuelle Wiederentdeckung der Zeichnung als journalistisches Werkzeug. Deshalb erscheint die erste adäquate Buchpublikation seines grossartigen Bildessays «A Pedestrian View/The Vogelman Diary» von 1982 heute zum gerade richtigen Zeitpunkt.

Dieser Essay erzählt zwei Geschichten ohne direkten Zusammenhang. Den oberen Teil der Seite nimmt eine gemalte Strassenszene ein ; unten stehen ein bis zwei Sätze aus dem Tagebuch des fiktiven Clarence Vogelman.

Die Bildfolge zeigt einen Spaziergang durch eine Grossstadt aus der Perspektive eines Fussgängers. Der Blick ist schräg nach unten gerichtet, wir sehen Beine von Passanten, Arbeitern, Polizisten und Strassenmusikern, aber kaum Gesichter. Wir sehen Asphalt, Mülleimer, den unteren Teil von Fassaden und Schaufenstern, Autoräder und Schriftbilder. Unspektakulär, aber authentisch.

Als Kontrast dazu denkt Vogelman über die Verwandtschaft vom Träumen und vom Fliegen nach, er schwärmt von der Schwerelosigkeit im Traum und wagt die Vermutung, das Fliegen im Traum sei eine Metapher für das Träumen.

Bilder und Texte sind schon isoliert betrachtet ein Genuss. Ihre Konfrontation schafft zusätzlich eine überaus anregende Spannung zwischen dem Traum vom Fliegen und der irdischen Schwerkraft. Durch diese Verknüpfung schafft Robert Weaver, auch wenn er sich jede Schlussfolgerung verkneift, eine Aussage, die weit mehr ist als die Summe der beiden Ebenen – und genau darin liegt das eigentliche Potenzial des Visual Essays.

Christian Gasser

Robert Weaver : «A Pedestrian View/The Vogelman Diary».
Kettler Verlag, 144 Seiten, Hardcover, farbig,
ca. CHF 35.– / Eur 24.90

 

 

 

 

Versicherungsblüten

Es lässt sich darüber streiten, ob die hier zitierten Passagen aus Originalbriefen von Versicherungskunden versuchen, einen Betrug vorzutäuschen. Unbestreitbar ist, dass sie ausserordentlich unterhaltsame und ungewollt komische Stilblüten treiben. Der Titel der 38. Ausgabe von Die Tollen Hefte «Der andere Wagen war absolut unsichtbar, und dann war er weg» gibt bereits einen ersten Vorgeschmack auf die kuriosen Beschreibungen, Ausflüchte und Erklärungen, die manch Versicherte in den standardisierten Formularen für Schadensmeldungen hinterlassen. Gesammelt wurden die Zitate von Bernd und Uta Ellermann für das Buch «Ich habe Schmerzen bei jedem Fehltritt», das dem Illustrator Jens Bonnke als Textquelle diente. Für Armin Abmeiers Reihe Die Tollen Hefte hat Bonnke nun eine Auswahl von 36 Zitaten getroffen und bebildert, was ihm sichtlich Spass gemacht hat.

Äusserst versiert und pointiert setzt der Fachmann für «editorial illustration» verschiedene Stile der Illustration ein, um den Zitaten visuell eine weitere Ebene hinzuzufügen, welche die Absurdität der inhaltlichen Aussage unterstreicht. Es ist ein kurzweiliges Heft geworden, das zum Vor- und Zurückblättern animiert und ein jedes Mal zum Schmunzeln einlädt. Was nicht verwunderlich ist bei Beschreibungen von Autofahrern wie z.B. «Ich sah ein trauriges Gesicht langsam vor­überschweben, dann schlug der Herr auf dem Dach meines Wagens auf» oder «An der Kreuzung hatte ich einen unvorhergesehenen Anfall von Farbenblindheit.»

Leider war es das letzte Mal, dass Armin Abmeier für die Herausgabe von Die Tollen Hefte verantwortlich zeichnete. Er ist im Juli letzten Jahres im Alter von 72 Jahren verstorben. Sein Tod ist ein grosser Verlust für die Illustration und den Comic. Und wer – so wie ich – das Glück hatte, ihn persönlich kennen zu lernen, der hat darüber hinaus einen ganz besonderen Menschen und Freund verloren. Armins Vermächtnis lebt weiter in seinen zahlreichen Publikationen und Projekten, die er zum Thema Bildergeschichten herausgegeben bzw. initiiert hat, sowie in den vie- len Kontakten, die er zwischen Illustratoren, Autoren, Verlegern und Buchliebhabern hergestellt hat. Auch Die Tollen Hefte werden weiterhin für Unterhaltung sorgen, Rotraut Susanne Berner wird die Herausgabe dieser Kleinode der Illustrationskunst betreuen. R.I.P. Armin Abmeier, du wirst uns noch lange begleiten.

Matthias Schneider

Jens Bonnke : «Der andere Wagen war absolut unsichtbar, und dann verschwand er wieder».
Edition Büchergilde, 32 Seiten, Softcover, farbig,
CHF 24.90 / Eur 16.90

 

 

 


 

 

 

 

Poet der Comic-Zeichner

Es ist in Deutschland immer noch eine Besonderheit, wenn sich ein Museum oder eine Galerie darauf spezialisiert, Comics auszustellen. Die Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen ist so ein Fall. Zum ganz besonderen Verdienst dieser Kunstliebhaber gehört es nämlich, dass sie es als Erste geschafft haben, eine Ausstellung mit dem genialen und öffentlichkeitsscheuen Walter Moers zu ermöglichen. Darüber hinaus finden sich im Ausstellungsprogramm der Galerie neben Malern und Fotografen wie Keith Haring, Roy Lichtenstein, Georg Baselitz oder Elliott Erwitt mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit auch Comic-Zeichner wie Ralf König und Ulf K. «Der Poet unter den Comic-Zeichnern» – wie Ulf Keyenburg im Titel des Ausstellungskataloges genannt wird – wurde in Oberhausen geboren. Der aufschlussreiche und liebevoll gestaltete Comic-Katalog greift unweigerlich diese erste Station des Zeichners auf, schliesslich finden sich auch in Keyenburgs Comics diverse Verweise auf seine Jugend im Ruhrgebiet. Des Weiteren gibt der Katalog einen detailreichen Einblick in das Werk von Ulf K., das von Comics über Siebdrucke bis hin zu Illustrationen reicht, und verrät uns einiges über seine frühen Inspirationen, von Yves Chaland bis zur allmächtigen Ligne Claire. Vor allem präsentiert der Katalog die zahlreichen und verschiedenartigen Arbeiten des inzwischen in Düsseldorf lebenden Zeichners, die zum Teil nur in Frankreich oder in längst vergriffenen Eigenpublikationen erschienen sind.

Ergänzt werden die ausführlichen Bildbeispiele durch Texte der Direktorin der Ludwiggalerie – Frau Christine Vogt – sowie von Andreas Platthaus, Volker Hamann und Nina Dunkmann. Es sind einerseits die Liebe zum Detail sowie die feinen Beobachtungen, welche sich in Ulf K.’s klaren Strichen und Zeichnungen wiederfinden, andererseits die aufwendig gestalteten und gedruckten Publi- kationen, die ihm den Titel des «Poeten unter den Comic-Zeichnern» eingebracht haben. Wer weiss, vielleicht würde Ulf K. diesen Titel gerne einmal abgeben. Denn im Grunde möchte er nur Comics und Illustrationen gestalten, ohne kategorisiert zu werden. Aber wahrscheinlich ist es genau das, was Ulf K. so besonders macht. Man könnte ihn mit Schroeder bei den Peanuts vergleichen, der einzig Klavier spielen möchte. Was um ihn herum passiert, ist ihm relativ egal. Ulf K.’s künst­lerisches Werk ist wohl nicht zuletzt deshalb so unaufdringlich und so stark in seiner Reduktion.

Matthias Schneider

Christine Vogt (Hg.) : «Ulf K. Der Poet unter den Comic-Zeichnern».
Edition 52, 80 Seiten, Hardcover, farbig,
CHF 27.50 / Eur 19.90

 

 

 

Fünf Faden tief

Jack Joseph hat keinen besonders glamourösen Beruf. Als Unterwasserschweisser auf einer Bohrplattform vor der Küste seines Heimatortes – einem halbvergessenen Städtchen im kanadischen Bundesstaat Nova Scotia – repariert er, was immer unter dem Meeresspiegel zu reparieren ist. Sein Vater war ein ziemlich erfolgloser, dem Schnaps verfallener Wracktaucher, der sein Leben lang vom grossen Schatz irgendwo in Mexiko träumte, deshalb liegt Jack das Tauchen im Blut – und bald wird er selber Vater eines Kindes sein. Aber statt sich darauf zu freuen, vertrödelt Jack seine Tage ohne Ziel und Zweck, weit weg von allem, als wäre er ununterbrochen hundert Meter tief im Wasser.

Damit wären die wichtigsten Punkte der packenden Graphic Novel «Underwater Welder» von Jeff Lemire benannt, die Story ist aber um einiges vielschichtiger. In verschiedenen Besprechungen wurde das Buch mit einer Episode von «The Twilight Zone» verglichen, was ihm, wie ich meine, nicht gerecht wird, denn «Underwater Welder» ist alles andere als eine langatmige und harmlose Story, eher schon eine Art zeichnerische Antwort auf Ambrose Bierces berühmte Kurzgeschichte «Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke». Jack gelingt es, einen Moment lang die Zeit anzuhalten, was ihm Gelegenheit gibt, über seine Familiengeschichte, den Sinn des Lebens, erlittene Verluste, über Schicksal und Vorbestimmung nachzudenken. Ohne bereits zu viel zu verraten (der Comic hält noch einige unvorhersehbare Wendungen bereit!), berührte mich die Geschichte vor allem dort, wo Lemire über die Last der Vergangenheit sinniert und über die schmerzhafte, uns allen gut bekannte Idee, vieles wäre besser herausgekommen, wenn wir uns in bestimmten Momenten anders entschieden hätten.

Der junge kanadische Zeichner Lemire machte sich vor ein paar Jahren mit «Essex County» einen Namen, einer Sammlung von lose zusammenhängenden, stimmungsvollen, nostalgischen, manchmal auch lustigen Geschichten, die alle im ländlichen Kanada des letzten Jahrhunderts spielen. Lemires sofort wiedererkennbare poetische Tusche-Krakeleien erinnern an die Schwarzweiss-Zeichnungen eines McKeever, McKean oder Mattotti ; in «Underwater Welder» fügt er noch etwas Grau hinzu, was speziell in den Unterwasserszenen und den Flashbacks für interessante Effekte sorgt. Lemire ist kreativ und spielerisch in der Seitengestaltung, ohne zu übertreiben ; seine Stärken als Geschichtenerzähler liegen im Rhythmus und in seiner Fähigkeit, Gefühle und Stimmungen zu erzeugen. Wenn seine Dialoge auch nicht perfekt sind, so wirken sie doch fast immer authentisch und aufrichtig.

Während der letzten paar Jahre arbeitete Lemire als Superhelden-Zeichner für DC Comics. Zwar kann man ihm nicht vorwerfen, sich finanziell interessanteren Arbeiten zu widmen, doch hoffe ich, dass er trotzdem hin und wieder für Kleinverlage tätig sein und noch weitere Alben im Stil von «Underwater Welder» veröffentlichen wird. Es wäre sehr traurig – so traurig wie eine von Lemires ­eigenen Geschichten – wenn wir diesen originellen Erzähler ganz an die Mainstream-Industrie verlieren würden.

Mark David Nevins

Jeff Lemire : «Underwater Welder».
Top Shelf Books, 224 Seiten, Softcover, s/w,
ca. $ 20