Schöne Gedichte und Avantgarde

Das Geschriebene Wort auf Kollisionskurs
von Wolfgang Bortlik

 

An der Vernissage der verdienst­vollen STRAPAZIN-Ausstellung im Basler Cartoonmuseum traf ich einen Bekannten, der nach ausgiebiger Betrachtung der Ex- ponate meinte, dass ihm die STRAPAZIN-Comics zu avantgardistisch seien. Ich wunderte mich ein bisschen, im Zusammenhang mit STRAPAZIN dieses Wort zu hören : Avantgarde. Es stimmt wohl, aber das Wort irritierte mich einfach. Heutzutage noch avantgardistisch? Ja, warum eigentlich nicht ? Wollte man das nicht immer sein, früher, als das Wünschen noch geholfen hat ? Avantgarde nicht nur als Kollision mit der herrschenden Kultur, sondern eben als Vorhut, als Teil der Truppe, der zuerst Feindberührung hat.
Kurz vorher war ich in Lausanne gewesen, in einer Ausstellung des dänischen Malers Asger Jorn (1914 –1973), einem meiner Lieblingskünstler. Den schätze ich vor allem als künstlerischen Gegenpol zu Max Bill, den obersten Schweizer Kunsttüpflischiisser. Der wollte die Welt durch seriell produzierte und nützliche, aber auch schöne Dinge besser machen. Jorn war für das Irrationale und die Kraft des Widerspruchs, der Polemik. Statt harmonischer Ausgewogenheit wollte er Bewegung und Aufruhr. Bills Design-Bauhaus, 1953
in Ulm gegründet, und dessen «guten Form» stellte der zornige Jorn ein «imaginäres Bauhaus» entgegen. Später schuf er auch noch ein «Institut für angewandten Vandalismus». Bill oder Jorn, was war da aber jetzt die Avantgarde? Im Zweifelsfall immer das Wilde, Ungebärdige? Oder doch das im Gleichschritt Richtung Weltrevolution marschierende Proletariat? Die farbige und lebensfrohe Bildwelt von Asger Jorn zeigt jedenfalls, wie lustig und lustvoll die Avantgarde sein kann. Die Poesie ist die reinste geschriebene Form der Avantgarde, es ist so schön, sich zu verlieren im Spiel.

poesie ist kinderspiel
über dem knackenden ei
irrt einer der himmelsboten
auf suche nach seinem antipoden
und das bist du

möglich dass man in so kleiner sphäre
gar nicht denken kann man ärgert
oder langweilt sich ist viel zu sicher
dann ist man für die poesie verloren

es bleibt dir nur ein trost liegst du im sterben
da kommt auch keine langeweile auf
und plötzlich kann dann puppe und ball
spät erinnert dich wissen lassen
die war ich und der war das all

Lucebert (1924 –1994), der Dichter dieser Zeilen, hiess eigentlich Lubertus Jacobus Swaanswijk und gehörte als Schreiber und Maler der Gruppe CoBrA an, die 1948 von Jorn & Co. gegründet wurde. Der Surrealismus war ein stinkender Leichnam und es ging halt um eine neue Avantgarde, diesmal aber nicht mit Paris als Mittelpunkt. Deswegen hiess die Gruppe CoBrA, was Copenhagen, Brüssel und Amsterdam bedeutet.
«L'avangarde se rend pas» schrieb Jorn dann in nicht gerade makellosem Französisch auf eine seiner Übermalungen. Eine Zeitlang kaufte er irgendwelche Ölschinken auf dem Flohmarkt und übermalte sie mit grimmigem Humor. In unserem Falle hat er einem jungen Mädchen im weissen Kleid eine Art napoleonisches Bärtchen aufgemalt und den Satz, von dem ich nicht weiss, ob er ironisch gemeint ist, drumherum geschmiert. Die Avantgarde ergibt sich nicht! Zürich, die Stadt von Zwingli und Bill, hüpft mittlerweile im Plumpsquadrat, weil 2016 das hundertjährige Jubiläum von Dada dräut. Wie viel Geld will man dafür ausgeben und vor allem : Wem will man es geben? Die Politiker und Kulturagenten wetzen jetzt schon die Messer und richten die Portemonnaies her. Da muss man halt einfach Vertrauen haben in die unberechenbarsten Figuren.
Von der ersten Dada-Soirée, am 14. Juli 1916 im Saal des Restaurants zur Waag, wird berichtet : Devant une foule compacte, Tzara manifeste, nous voulons nous voulons nous voulons pisser en couleurs divers. Dann dichtet Richard Hülsenbeck in seinen phantastischen Gebeten von 1916 dazu :

O tscha tschipulala o ta Mpota Mengen
Mengulala mengulala kulilibulala
Bamboscha bambosch
es schliesset der Pfarrer den Ho-osenlatz
Rataplan rataplan

Am 18. August 1980 kam es anlässlich eines Vortrags über Dada im Aarauer Kunsthaus zu Ausschreitungen. Schuld daran war selbstverständlich die vermaledeite Jugendbewegung, die sich jetzt auch als Avantgarde schmückt. Also spring weiter im Viereck, Stadt Zürich.

Es wäre jedoch schade, wenn hier die Lyrik des Surrealismus gänzlich übergangen würde. Für die das hier Lesenden sollte ja nun klar sein, dass das ganze Geschwafel über Avantgarde nur dazu dient, hier schöne Gedichte zu publizieren, die manchmal auch ziemlich direkt und gemein sind.

Der schwarze Schweiss der Schweine
kam nieder mit einem weissen Floh
Feist und quallig wuchs er heran
Und weil er Italiener war
unternahm er seinen schäbigen Marsch auf Rom
und landete eines Tages am dreckigen Arsch des Vatikans
Er war nur noch ne Filzlaus inmitten modriger Christusfiguren
und von seinen Ahnen geschändeter Jungfraun

So dichtete Benjamin Péret (1899 –1959), mein Lieblingssurrealist, über Mussolini und das faschistische Italien. Er kämpfte auf Seiten der Spanischen Revolution und floh vor den Nazis nach Mexiko. Im Gegensatz zu dem von André Breton ist Pérets Grab auf dem Friedhof von Batignolles im Nordosten von Paris ziemlich verwildert.
Eine der merkwürdigsten Figuren der Nachkriegs-Avantgarde war Isidore Isou (1925 –2007), der eigentlich Ioan-Isidor Goldstein hiess. Isou war aus Rumänien, wie der Dada-Ambassador Tristan Tzara, den er aufrichtig hasste. Isou kam mit 20 Jahren nach Paris und gründete dort den Lettrismus. Er war sozusagen der Elvis Presley der französischen Avantgarde und propa- gierte als Erster den Aufstand der Jugend. Er war für die Zerstörung der Wörter zugunsten der Buchstaben und gab den Zeichen und Lauten ihre Autonomie. Als dann aus den Lettristen die Situationisten hervorgingen und Debord & Co. immer lauter wurden, wurde Isou immer stiller. Auch wenn seine Lautgedichte doch ziemlich laut knirschen, zum Beispiel «Souvenir des alpes sous les skis» (1947/ 50) :

Oualagalhaïa! Oualagalhaïa!
Fnasaga cnaïf
Cnaïf aïgassaga
Ouassaga ouaïf
ouaïff aïhassaga
ïoplidess! ioplidess!
halppahappe haîa
scouégappe scouégappe scouéguescaïa
Guiouiouiou …

Aufhören soll man immer mit seinem Lieblingsdichter. Albert Ehrenstein (1886 –1950) ist einer von der expressionistischen Avantgarde um 1910. Möglicherweise war er der traurigste Mensch der Welt.

Winter
Leise,
wie wider meinen Willen
fallen Flocken
Schnee zu Boden.
Leise,
wie wider meinen Willen
falle ich
zu Boden.

 

 

Lesehinweise:

Axel Heil : «CoBrA international – Momente einer Utopie».
Wunderhorn, Heidelberg 2013,
CHF 33.50

Benjamin Péret : «Ich esse nicht von diesem Brot».
K. Kramer, Berlin 2010,
CHF 24.90

Uta Brandes / Michael Erlhoff : «DADAs BEST».
Nautilus, Hamburg 2009,
CHF 17.90

Albert Ehrenstein : «Wie bin ich vorgespannt den Kohlewagen meiner Trauer».
text & kritik, München,
CHF 21.90