KURZ UND GUT

von Christian Meyer

 

Li Kunwu erzählt in «Ein Leben in China» zusammen mit Philippe Otié eine autobiographische Familiengeschichte von der Machtergreifung Maos bis zur Gegenwart. Hatte der erste Band «Die Zeit meines Vaters» die Regierungszeit Maos von den 50er-Jahren über die repressive Kulturrevolution bis zu Maos Tod 1976 umfasst, folgt mit «Die Zeit der Partei» die Phase der Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft. Während der Vater aus dem Umerziehungslager zurückkehrt, ist Li orientierungslos und wird schliesslich Zeichner von Propagandaplakaten. Die groben Zeichnungen unterstreichen die von Unsicherheit und Restriktion geprägte Stimmung und die Erzählung veranschaulicht wirkungsvoll das soziale und politische Klima des Riesenstaates. Im Herbst erscheint der abschliessende Band «Die Zeit des Geldes».

Li Kunwu & Philippe Otié: «Ein Leben in China».
Edition Moderne, 256 S., Softcover, s/w, Euro 24 / sFr. 29.80

 

Derf Backderf war zu Schulzeiten ein Freund von Jeffrey Dahmer. Dahmer erlangte später eine traurige Berühmtheit, weil er zwischen 1978 und 1991 17 Menschen ermordete und teils verspeiste. In «Mein Freund Dahmer» blickt Backderf auf die gemeinsame Schulzeit zurück und schildert einen vernachlässigten, einsamen Jungen, der früh abnorme Interessen entwickelt. Backderfs karikaturhafter Zeichenstil steht weder der Tragik noch dem Grauen im Weg.

Derf Backderf: «Mein Freund Dahmer».
Metrolit, 224 S., Softcover, s/w, Euro 22.99 / sFr. 34.90

 

Nach «Trommelfels» bestätigt Marijpol mit «Eremit» ihre Sonderstellung als Künstlerin: Sie entfaltet ein fantastisches Szenario einer überalterten Gesellschaft, in der die wenigen Kinder wie Kaiser hofiert werden. Die Alten dürfen sich im Gegenzug einen schönen Tod im Reisebüro bestellen. Ein Eremit stellt ihnen kurz zuvor die Gewissensfrage, ob sie es ernst meinen. Zweifel haben die Kandidaten selten, der Eremit hingegen wird schon sein ganzes Leben so sehr von Zweifeln gepeinigt, dass sich gar sein Kopf spaltet. Als ein Alter sich dem Tod verweigert und ein überbehütetes Kind entflieht, gibt es auch für den Eremiten eine Chance auf inneren Frieden. Faszinierend, brutal und symbolträchtig.
In Sachen verspielter Brutalität steht «Die Insel der 100.000 Toten» dem in nichts nach. Fabien Vehlmann erzählt von einem Mädchen, das ihren Vater sucht und dabei auf einer Pirateninsel mit einer Schule für angehende Henker landet. Die Kombination aus niedlich-naiv und abgeklärt-brutal ist so überraschend wie erschütternd. Jason, der hier erstmals mit einem Autor zusammenarbeitet, liefert dazu seine schlichten Farbzeichnungen.

Marijpol: «Eremit».
avant-verlag, 150 S., Softcover, s/w, Euro 19.95 / sFr. 28.40

Jason & Fabien Vehlmann: «Die Insel der 100.000 Toten».
Reprodukt, 56 S., Softcover, farbig, Euro 15 / sFr. 21.90

 

«Böse Geister» erzählt von einem älteren Mann, der in sein altes Viertel zurückkommt, als er erfährt, dass es abgerissen werden soll. Im verlassenen Haus seiner Kindheit kommen Erinnerungen an die Nachkriegszeit hoch, mit ehemaligen Nazis als Lehrern und Comics, die als Schund galten. Peer Meter und Gerda Raidt ist ein atmosphärisches Zeitporträt gelungen, das raffiniert Spannungsmomente setzt.

Peer Meter & Gerda Raidt: «Böse Geister».
Reprodukt, 104 S. Hardcover, s/w, Euro 20 / sFr. 28.90

 

«Die Frau ist frei geboren» erzählt die Geschichte von Olympe de Gouges, jener frühen Feministin, die schliesslich von Robbespierres Terrorregime zum Tode verurteilt wurde.
José-Louis Bocquet erzählt de Gouges’ bewegtes Leben und ihren Kampf für die Gleichberechtigung auf 400 Seiten. Die vielen Personen und politischen wie gesellschaftlichen Hinter­ gründe machen dennoch einen 50-seitigen Anhang nötig. Wie schon in dem ungewöhnlichen Frauen-porträt «Kiki de Montparnasse» steuert auch hier Catel Muller ihre schwungvollen Schwarzweiss-Zeichnungen bei.

Catel Muller & José-Louis Bocquet: «Die Frau ist frei geboren».
Splitter, 480 S., Hardcover, s/w, Euro 36.80 / sFr. 48.90

 

Joann Sfar spinnt in «Chagall in Russland» eine fiktive Biographie, welche die Künstlerwerdung des jungen Marc mit einer unglücklichen Liebesgeschichte und den Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung verbindet. Das Porträt aus dem Russland der Jahrhundertwende ist wild und farbenfroh, so brutal wie vital, und letztendlich so humanistisch und lebensbejahend, wie man es auch aus seinem Musiker-Abenteuer «Klezmer» kennt. Mit dem vierten Band «Trapezschwünge» von «Klezmer» verfolgt Joann Sfar weiterhin das Schicksal eines Klezmer-Ensembles im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. In Odessa angekommen, landet die Truppe in einem Zirkus, und Sfar nutzt das Ambiente, noch mehr als bisher, um das Leben in all seinen Facetten mit wilden Zeichnungen, Liebe und Gewalt zu zelebrieren.

Joann Sfar: «Klezmer: Trapezschwünge».
avant-verlag, 120 S., Softcover, farbig, Euro 19.95 / sFr. 28.40

Joann Sfar: «Chagall in Russland».
avant-verlag, 128 S., Softcover, farbig, Euro 19.95 / sFr. 28.40

 

Nach Thomas Bernhards «Alte Meister» nimmt sich Nicolas Mahler nun gleich zwei Vorlagen auf einmal vor: «Alice in Sussex» verknotet Lewis Carrolls «Alice in Wonderland» mit «Frankenstein in Sussex» des Österreichers H. C. Artmanns, der ja schon Alice mit Mary Shelleys Monster verband. Also Zitat hoch zwei, was Mahler da in seinem gewohnt trocken-humorigen Minimalismus betreibt.
«Der Anfang vom Ende» ist ein 1995 von Marc-Antoine Mathieu konzipiertes Erzählexperiment, das vorne wie hinten begonnen werden kann und in der Mitte zusammenfindet. Es ist der letzte Band der kafkaesken Vexierspiele um den Angestellten Julius Corentin Acquefacques, der nun wieder vorliegt.

Nicolas Mahler: «Alice in Sussex».
Suhrkamp, 144 S., Softcover, s/w, Euro 18.99 / sFr. 27.50

Marc-Antoine Mathieu: «Der Anfang vom Ende».
Reprodukt, 52 S., Softcover, s/w, Euro 12 / sFr. 17.90

 

Étienne Davodeau widmet sich in «Lulu – die nackte Frau» dem Ausbruch einer Frau um die 40. Drei Kinder hat sie und einen aggressiven, trinkenden Mann. Einer plötzlichen Eingebung folgend, kehrt sie nach einem ernüchternden Vorstellungsgespräch nicht mehr heim. Stattdessen macht sie etwas, was sie seit 15 Jahren nicht mehr getan hat: Sie denkt an sich und tut, was ihr gefällt. Das löst in ihrem Umfeld allerlei Chaos aus. Davodeau erzählt in kunstvollen Rückblenden und realistischen Farbzeichnungen (Splitter).

Étienne Davodeau: «Lulu – die nackte Frau».
Splitter, 159 S., Hardcover, farbig, Euro 24.80 / sFr. 35.40

 

Die von Sascha Hommer herausgegebene Anthologie «Orang» ist bei ihrer zehnten und leider auch letzten Ausgabe angelangt. Fantastisch geht es auch hier zu: Unter dem Thema «Heavy Metal» versammelt der Band Arbeiten von Anke Feuchtenberger, Aisha Franz, Martina Lenzin, Marijpol, Verena Braun oder Sascha Hommer, die sich mal konkret, mal abstrakt, mal assoziativ mit dem Thema beschäftigen.

Sascha Hommer (Hg.): «Orang 10: Heavy Metal».
Reprodukt, 172 S., Softcover, farbig & s/w, Euro 18 / sFr. 25.90

 

 

Illustration von Julia Bruderer


 

«Metro»