INTERVIEW MIT MARTIN tom DIECK

 

Einen Sound und Rhytmus schaffen

 

 

 

 

"Martin tom Dieck ist ein Zeichner, der die Elemente zeichnen kann.

 

Er kann Geräusche zeichnen, Gerüche, atmosphärische Bewegungen, und zwar so, dass man sich mittendrin wähnt. Das ist völlig neu und einmalig."

(Jean-Christophe Menu, L'Association)

Gewöhnlich stellt sich ein junger Zeichner mit kurzen Arbeiten vor, in denen die Suche nach eigenem Stil und eigener Sprache noch sichtbar sind, und die von selbsternannten Fachleuten und Verlegern je nach Tageslaune mit liebevoller Ironie oder müder Abschätzigkeit überflogen werden. Nicht so Martin tom Dieck: Er drückte uns 1993 als erstes ein kleinformatiges, aber umso dickeres Album in die Hand, "Der unschuldige Passagier", die surreal gefärbte Odyssee eines langschädeligen Mannes auf einem herrenlosen Kahn. Dieser geniale erste Wurf war keine Eintagsfliege - mit weiteren längeren Arbeiten ("Hundert Ansichten der Speicherstadt", "Salut Deleuze") und kürzeren Geschichten setzte er sich international als einer der eigenständigsten Comic-Autoren der Gegenwart durch: "Martin tom Dieck ist einer der Autoren, die sich in den letzten Jahren am stärksten weiterentwickelt haben", sagt Olivier Marboeuf von Amok. "Vor fünf Jahren war er noch 'interessant' - heute gehört er zu den ganz Grossen."

 

Mit Martin tom Dieck unterhielt sich Christian Gasser

Welches waren Deine frühesten Comic-Einflüsse?

tom Dieck: "Auf der einen Seite war das die Entdeckung des französischen Comics der späten siebziger und frühen achtziger Jahre, insbesondere von Moebius' 'Die luftdichte Garage'. Auf der anderen Seite stand George Herrimans 'Krazy Kat'. Diese beiden Comics haben mir zu verstehen gegeben, wie potent und reizvoll diese Ausdrucksform ist, weit mehr, als ich es vorher vermutet hätte."

Was faszinierte dich an Moebius und Herriman so besonders?

tom Dieck: "Bei Herriman gefiel mir der Zeichenstil, der Minimalismus der Darstellung und die Skurrilität der Hintergründe, die von einem Bild zum nächsten wechselten. Und natürlich auch die Geschichten, der Humor und der merkwürdige Slang, den die Figuren sprechen. Moebius hat mich vor allem wegen seiner Arbeitsweise beeindruckt: Dass er 'Die luftdichte Garage' begonnen hat, ohne zu wissen, wie die Geschichte enden würde, und dass er sie von Folge zu Folge weitergesponnen hat. Das empfand ich als ein Experiment, das viel weiter ging als alle Comics, die ich gelesen hatte, als ich noch klein war. Eine Zeitlang habe ich denn auch versucht, wie Moebius zu zeichnen. Das ging aber total nach hinten raus, und ich habe es dann bleiben lassen."

Auch in einigen deiner Geschichten - in "Der unschuldige Passagier" etwa - hat man den Eindruck, dass du die Handlung mittels improvisierter Sequenzen vorantreibst.

tom Dieck: "Die erste Fassung von 'Der unschuldige Passagier' war gänzlich improvisiert. Es war der Versuch, ein paar Ideen, die ich schon lange mit mir herumtrug, konsequent Bild um Bild zu entwickeln und zu schauen, was dabei herauskommt. Diese improvisierte Bildfolge habe ich anschliessend gesichtet und erkannt, dass es eine ganze Reihe von Ideen gab, die sich wie von selber zu einem neuen Ablauf zusammenfügten. Daraus entstand dann die zweite Fassung von 'Der unschuldige Passagier', die teils gebaut, teils improvisert ist: Zwischen Momenten, die fest im Ablauf standen, gab es improvisatorische Strecken. Die Improvisationen fügen sich aber in das Gesamtkonzept ein. So habe ich versucht, meine Vorstellung vom Erzählen auf mehreren Ebenen zu verwirklichen. Ich ziehe es vor, meine Geschichten nicht von vornherein fest zu konzipieren. Diese Offenheit ermöglicht die Improvisation. In diesem Sinne lassen sich Comics gut mit der Musik vergleichen: Es gibt Komposition, Mehrstimmigkeit und Arrangements, und in dieses arrangierte Ganze ist auch die Improvisation eingebettet."

Was ist der Reiz dieses Vorgehens?

tom Dieck: "Beim Zeichnen eines Bildes nicht zu wissen, was im nächsten passiert, erzeugt eine ganz bestimmte Spannung: Es vertieft mein Gefühl für die Grundidee, es schärft meine Aufmerksamkeit für die Stimmung. Ich schaue nicht nur auf das, was ich gerade zeichne, sondern habe ein Auge auch auf meine Assoziationen gerichtet; ich schaue, wohin sie mich ziehen. Das ist ein unheimlich spannender Prozess. Verglichen damit empfinde ich die traditionnelle Herstellung von Comics - von einer Grundidee über Recherchen, Skizzen und Storyboard zur fertigen, fugendichten Panelmauer - als eine Sackgasse: Die Dauer eines derartigen Arbeitsprozesses führt unweigerlich zu einem hohen Lustverlust beim Zeichnen und zu einer 'Melancholie des Fertigen', so dass sich am Schluss kaum mehr etwas vom ursprünglichen Spass am Stoff auf den Leser übertragen kann."

 

 

Unterwasser und Überwasser

Was in Deinen Arbeiten auch auffällt, sind Themen, die Du über Jahre hinweg umkreist - im "Passagier" und in der "Speicherstadt" spielt beispielsweise das Wasser eine zentrale Rolle. Was für eine Bedeutung hat so ein Thema für dich? wie arbeitest du damit?

tom Dieck: "Der Ausgangspunkt ist immer eine Grundidee. Dann betreibe ich eine Art organische Ideenzüchtung, indem ich alles sammle, was mir dazu einfällt, und mich auf alle Assoziationsspuren setze, die aus einer solchen Idee heraustropfen. So entsteht nach und nach ein Fundus an Ideen und Bildern, in dem ich zu einem späteren Zeitpunkt zu lesen beginne. Vielleicht entwickelt sich dann ein etwas komplexeres Ideengebilde um die Ursprungsideen herum, vielleicht entstehen daraus wieder neue Assoziationen, vielleicht schlagen sie plötzlich eine andere Richtung ein. Es kann mehrere Durchgänge des Sammelns und Wiederlesens geben. Den Moment, mit der Umsetzung wirklich anzufangen, zögere ich lange hinaus. Wenn ich dann aber beginne, habe ich den Vorteil, mich in einem Materialfundus bewegen zu können. Auf dieses Thema beziehe ich dann auch andere Arbeiten, zum Beispiel Illustrationsaufträge."

Warum hat sich dir ausgerechnet etwas so Abstraktes wie "Wasser" als Thema aufgedrängt?

tom Dieck: "Erstens wohne ich hier in Hamburg in Hafennähe. Zweitens bestand ein Zweig meiner Familie aus Seefahrern. Dazu kommen weitere, inhaltliche und ästhetische Anreize: Wasser zu zeichnen ist eine echte Herausforderung, da Wasser keine feste Form hat und ich mich ihm anders, über Abstraktionen, annähern musste. Es hat übrigens etwas sehr Meditatives, Wasser zu zeichnen. Zudem fasziniert mich der metaphorische Anteil des Wassers, die Tatsache, dass es ein Unterwasser und ein Überwasser gibt, und dass die Wasseroberfläche, die als solche gar nicht existiert, die beiden trennt, und dass das Dasein oberhalb und das Dasein unterhalb der Wasseroberfläche sehr verschieden ist. So betrachtet ist Wasser etwas Einfaches und Komplexes zugleich, ein allen zugängliches Sinnbild, ein Archetyp."

Besonders deutlich wird der metaphorische Charakter des Wassers in "Hundert Ansichten der Speicherstadt". Kannst du denen, die Hamburg nicht gut kennen, erklären, warum du die Speicherstadt als Kulisse für dieses Album gewählt hast?

tom Dieck: "Die Speicherstadt ist ein Areal zwischen der Hamburger Innenstadt und dem Freihafen, wo um die Jahrhundertwende Speichergebäude gebaut wurden, und zwar so, dass sich auf der einen Seite der Gebäude ein Kanal befindet, auf der anderen eine Strasse. Dort wurden Waren, die per Schiff hierherkamen, erst gelagert und dann umgeladen auf Lastwagen und andere Transportmittel. Die Mauern sowohl der Gebäude als auch dieser Kanäle sind dunkelrot bis braun. Weil es hier auch bei Sonnenschein viel Schatten gibt, ist die Atmosphäre eher düster; der Kanal ist leicht gewunden, und bei Ebbe ist das Wasser ein paar Meter unter dem Niveau der Strasse. Das verleiht dem Ort eine architektonische Kompaktheit und eine grosse atmosphärische Dichte. Die Speicherstadt wirkt wie eine andere Welt, wie eine aus dem Getriebe der Stadt herausgelöste kleine Scholle."

Formal besteht "Hundert Ansichten der Speicherstadt" aus einer Abfolge von stummen Einzelbildern. Erzählen sie auch eine Geschichte?

tom Dieck: "Ich würde sagen, ja. Es kommt drauf an, wie man den Begriff Geschichte oder Erzählung definiert. Was und wovon eine Geschichte erzählt, ist dann wieder etwas anderes. In diesem Fall ist für mich der Ort selber, beziehungsweise eine in ihm angelegte Dynamik die Erzählung selber: Wasser, das durch Kanäle fliesst. Das eine Element ist starr, das andere ist beweglich. Mich interessierte das Spiel zwischen diesen Elementen. Die Steine begrenzen das Wasser - das Wasser lässt sich nur bedingt begrenzen. Und letztlich besiegt das Wasser die Steine. Der Ort bleibt, wie er ist; nur das Wasser verändert sich und überflutet die ganze Stadt. Das Überfluten wird zum Inhalt, zum 'Plot'. Dabei interessierte mich vor allem, wie das passiert. Nicht unbedingt, wodurch die Überflutung ausgelöst wird, und ob die Menschen, die zwischendurch auftauchen, den Prozess beeinflussen oder nicht, sondern: Wie geht das vonstatten? In was für Bilder ist das gefasst? Was passiert auf dem Weg dahin?"

 

 

Reihungen, Gegensätze
und Zwischenräume

Die "Hundert Ansichten der Speicherstadt" erschliessen sich nicht bei der ersten Lektüre. Statt dem Leser Gewissheiten zu geben, spielst du mit Andeutungen und Suggestionen. Generell scheinst du es vorzuziehen, das, was du ausdrücken willst, nicht über einen linearen Handlungsablauf, sondern über Stimmungen zu vermitteln.

tom Dieck: "In erster Linie wollte ich einen Sound und einen Rhythmus schaffen. Eine Bilderabfolge zu organisieren, bedeutet, eine Abfolge von Empfindungen zu organisieren. Ein Bild kann sich nahtlos aus dem vorhergehenden ableiten lassen. Oder ich kann zwischen den einzelnen Bildern Brüche provozieren, so dass etwas ganz anderes abläuft. Wichtig ist vor allem, dass zwischen den Bildern etwas fliesst, dass ein Rhythmus entsteht, der Harmonie und Disharmonie gegeneinander ausspielt."

Damit sind wir wieder bei der Musik gelandet, die für dein Vorgehen wirklich eine grosse Rolle zu spielen scheint.

tom Dieck: "Die musikalische Metapher hinkt natürlich: Ich werde es nie hinkriegen, eine Schwarzweiss-Zeichnung tatsächlich zum Klingen zu bringen. Ich hoffe aber doch, eines Tages einen Comic zu zeichnen, der auf mehreren Ebenen oder Spuren abläuft, und den man nicht wie eine Geschichte liest, sondern sich anguckt, wie man sich ein Stück Musik anhört. Eine Bilderfolge, in der einzelne Spuren die Sinnebene wechseln und den Assoziationsfluss streuen und sammeln. Das ist aber eine Sache, von der ich nicht weiss, ob die funktionieren kann."

Gerade in "Hundert Ansichten der Speicherstadt" bewegst du dich an der äussersten Grenze dessen, was gemeinhin als Comic betrachtet wird. Wie definierst du den Comic für dich selber?

tom Dieck: "Interessant ist, dass der Comic als Form nicht sehr festgelegt ist, ausser dass Bilder aneinandergereiht werden und unter Umständen ein Text integriert wird. Comics bestehen aus Reihungen, Gegensätzen und Zwischenräumen. Mit dieser Minimaldefinition wird der Comic für mich zu einem sehr beweglichen Medium; er ist eine Schnittstelle, wo sich ganz verschiedene Richtungen und Möglichkeiten kreuzen; er ist der Rahmen, in dessen Zwischenräumen etwas geschieht, das immateriell und poetisch ist und selbst in gedruckter Form nicht zum Stillstand kommen sollte. Mit Experimenten versuche ich, die Möglichkeiten des Erzählens auszuloten und zu schauen, wie sich Inhalte auch transportieren lassen, wenn man sie nicht eins zu eins nacherzählt. Ich befinde mich aber noch im Stadium der Entdeckung. Es kann sein, dass die verschiedenen Zweige, die ich verfolge, eines Tages in einer literarischeren Form der Erzählung zusammenwachsen, für die ich die freien Mittel, die ich bis dahin entwickelt haben werde, benutzen kann."

Im Gegensatz zu dir haben viele junge amerikanische und französische Zeichner das Gefühl, der Comic sei besonders strengen Regeln unterworfen. Hat dir die fehlende Comic-Tradition im deutschen Sprachraum erlaubt, so frei mit der Comic-Sprache umzugehen?

tom Dieck: "Das gilt vermutlich nicht nur für mich, sondern auch für andere deutsche Zeichner wie Anke Feuchtenberger oder Atak. Ich habe keine starke Comic-Prägung aus meiner Kindheit mitgenommen und bin erst später auf diese Form gestossen. Ein Teil der Comics schien mir damals völlig abgenutzt, ein anderer hingegen noch völlig unbearbeitet. Als ich die Comics für mich entdeckte, hat mir niemand reingeredet und mir gesagt, was korrekt ist und was nicht, so dass ich das wunderbare Gefühl hatte, machen zu können, was ich will. In einem Land wie Frankreich ist es wegen der starken Traditionen vermutlich sehr schwierig, sich von den Vorlagen zu befreien. Hier nicht. Meine Entdeckung der Comics war ein Moment von Freiheit: Ich bewegte mich auf unwegbarem und unabsehbarem Gelände."

Es ist jedenfalls interessant, wie erfolgreich oder zumindest anerkannt ausgerechnet die 'schwierigen' deutschsprachigen Zeichnerinnen und Zeichner im Ausland sind - Anke Feuchtenberger, Atak, M.S. Bastian oder du. Woran liegt das deiner Ansicht nach?

tom Dieck: "Ich glaube schon, dass sich hier im Lauf der letzten Jahre etwas Eigenes entwickelt hat, in welchem man die französische oder amerikanische Inspiration nicht mehr direkt sieht. Das liegt daran, dass es vielen Leuten nicht in erster Linie um den Comic geht. Das erzählerische Moment spielt für uns eine gewisse Rolle, und deshalb bietet sich der Comic an - er ist einfach eine gute, passende, reizvolle Form, um auch das narrative Element einzubringen und das auszudrücken, was wir auszudrücken haben. Unsere Inspirationsquellen liegen aber auch und vor allem ausserhalb des Mediums selber - in der Kunst und der Illustration beispielsweise - so dass es zu produktiven Spannungen kommt, die vielleicht auch zu spannenderen Ergebnissen führen."

 

 

'Meine Güte, Martin,
du übernimmst dich da!'

 

Einige Bücher und Geschichten von dir, "Salut Deleuze" und "Lingus Savant des Eaux" etwa, gibt's nur auf Französisch, und selbst "Flüchtige Fragmente", deine Beschäftigung mit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, wurde angeregt von einer französischen Zeitschrift, Le Cheval Sans Tête. Warum plötzlich ein historischer Stoff?

tom Dieck: "Das ist eigentlich unpathetischer, als es vielleicht klingt: Ich habe das Bedürfnis, einen Zugang zu dem Teil meiner Geschichte zu finden, der vor meiner Geburt passierte. Ich möchte den Bruch verstehen, der durch den Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg markiert ist. Ich habe eher das Gefühl, aus einer Leere zu kommen als aus einer Tradition."

Das ist ein weites Thema - wie grenzt du es für dich ein?

tom Dieck: "Ich gehe von der Autobiographie von Walter Mehring aus, einem Schrifsteller, Dichter, Chanson- und Kabaretttexter. Er wurde 1896 geboren, hat den ersten Weltkrieg als Jugendlicher erlebt, wirkte in der Berliner Dada-Zeit mit, ging anschliessend als Korrespondent nach Frankreich, kehrte zurück nach Berlin, von wo er dann vor den Nazis wieder nach Frankreich flüchtete. Nach einer langen Odyssee durch Europa und Amerika kehrte er nach Europa zurück und starb dreissig Jahre später in Vergessenheit. Mehring hat die ganze Zeit reflektiert. Er hat sein Leben nicht nur aufgeschrieben, sondern richtete auch - nicht umsonst war er Kabarettist - einen satirischen Blick darauf. Das bewahrte ihn vor Pathos. Seine Texte kommen nicht als Hochkultur daher. Mehring bleibt in Bodennähe und verbindet diese mit der satirischen Distanz. Diese Mischung aus Zeitreflektion und Anekdoten gibt mir einen Blick frei auf diese Zeit, macht sie mir, soweit das überhaupt möglich ist, nachvollziehbar."

Wie gehst du mit seinen Texten um? Wie nahe bleibst du daran?

tom Dieck: "Ich bin sehr gründlich, was Recherchen und Quellen angeht, nehme mir aber die Freiheit, sie zu etwas Eigenem zu verarbeiten. Ausserdem sind seine autobiographischen Texte nicht vollständig erhalten, so dass jeder Anspruch auf Vollständigkeit hinfällig wird - ich bewege mich von vornherein im Fragmentarischen, was meiner Art des Erzählens entgegenkommt. Über die Figur Mehring docke ich ausserdem an Momente des künstlerischen Aufbruchs und auch des Scheiterns an, wie dem Dadaismus, was wiederum die Frage aufwirft, wie das in den damaligen politischen Kontext eingebettet war und wie es von den Beteiligten erlebt wurde. Es gibt da viele Zusammenhänge. Wenn ich mir das alles so vergegenwärtige, sage ich mir: 'Meine Güte, Martin, du übernimmst dich da!' Also probiere ich einfach, gewisse Fragmente, lebendige Spuren aus der Vergangenheit, herauszunehmen und sie in Zusammenhänge zu bringen. Ich möchte auf jeden Fall die Reize des Mediums bewahren und nicht eine geschichtswissenschaftliche oder kunsthistorische Abhandlung zeichnen."

Du redest viel von Entdeckung und Neuland und skizzierst neue Möglichkeiten, mit Bildern zu erzählen - wenn man dir zuhört, hat man nicht den Eindruck, dass die Zeit der Comics abgelaufen ist

tom Dieck: "Die Frage nach der Zeitgemässheit der Comics übergehe ich meistens. Mag sein, dass das Medium beginnt, seine eigenen Potenzen zu entdecken, während es bereits dahinsiecht. Aber als populäres Massenmedium hat mich der Comic nie wirklich interessiert. Deshalb berührt es mich nicht sonderlich, ob diesen Comics die Leser weglaufen und die Comic-Verlage Schwierigkeiten haben. Ich erlaube mir eine gewisse Widerständigkeit gegen eventuelle Bedürfnisse eines Marktes. (Vielen Dank an den Grossmut meiner Verleger.) In diesem künstlerischen Minoritätendasein stelle ich mir aber schon die Frage, inwieweit die Arbeiten der sogenannten Comic-Avantgarde überhaupt vermittelbar sind. Nicht nur einem Comic-Publikum, sondern auch einer Leserschaft ausserhalb der Szene. Was sich am Rande des Genres abspielt, droht für sich zu bleiben oder runterzufallen, ohne woanders aufgefangen zu werden."

 

Christian Gasser

 

 

Bibliographie:

"Der unschuldige Passagier"
(Alsfeld, 1993, vergriffen)

"L'Innocent Passager"
(Le Seuil,1996)

"L'Oud Silencieux"
(L'Association, 1996)

"Lingus savant des eaux"
(Schokoriegel, 1996)

"Hundert Ansichten der Speicherstadt"
(Arrache Coeur, 1997)

"Salut Deleuze"
(Autor: Jens Balzer, Fréon, 1998) "Schreibheft Nr. 51" (Hrsg. mit Jens Balzer, Rigodon Verlag, 1998)

"Flüchtige Fragmente"
(Arrache Coeur, erscheint im Juni 2000)

 

Martin tom Dieck im Strapazin:

31 (Cover), 35, 39, 45 (Cover), 50