Es ist, als
beträte man ein Labyrinth. Ein Labyrinth aus Büchern. Überall
stehen sie, die Bücher, in mehreren Schichten hintereinander auf
Regale gezwängt oder zu hohen Türmen gestapelt, auf dem Boden,
in Kisten, auf Schränken, überall. Man schiebt sich möglichst
behutsam an den Gestellen und unter gefährlich überhängenden
Gipfeln vorbei, vermeidet alle abrupten Bewegungen aus Angst, ein
Bücherbeben oder eine Bücherlawine auszulösen. Erblickt
man, was sehr oft geschieht, einen verheissungsvollen Buchrücken
und möchte das Buch aus dem Regal klauben, muss man zuerst, wie ein
Geologe, Schicht um Schicht abtragen. Sorgfältig. Und hält dabei
den Atem an.
Jacques Noël: Wären diese Bücher kommerziell nützlich,
würden sie in den grossen Buchhandlungen auch verkauft. Realistischerweise
stehen uns nicht mehr als diese paar Quadratmeter zu. Aber die Leute,
die das akzeptieren, sind glücklich. Hier haben sie einen Zufluchtsort,
einen schützenden Wald, in dem die Bäume so wachsen, wie sie
sollen.
Ich häufe den ganzen Kram nicht zum Spass an, nein, wir wollen zeigen,
dass in unserem verdammten kleinen Jahrhundert einiges geschieht, und
das ist doch ein gutes Gefühl.
Drängen sich mehr als drei Kunden im Laden, droht Platzangst. Zu
gefährlich, sich aneinander vorbeizudrücken; die Kreuzungsmanöver
sind kompliziert, meist muss man in den mittlerweile ebenfalls mit Büchern
vollgestellten Galerieraum ausweichen, manchmal sogar ganz raus
aber das tut man rücksichtsvoll und geduldig und mit einem freundlichen
Lächeln. Denn wer sich in dieses Paralleluniversum der Bücher
und Zeichnungen gewagt hat, ist glücklich. Die anderen Kunden sind
Freunde. Und Jacques Noël ist so etwas wie ein grosser Bruder oder
ein weiser Cousin.
Jacques Noël: In den letzten zwanzig Jahren verkamen die meisten
Buchhandlungen zu Depots der Verlage, die ihnen die Bücher unverbindlich
für eine begrenzte Zeit in den Laden stellen. Alles Tempelhändler.
Ich kaufe nur Bücher, die ich auch verkaufen will. Vielleicht bin
ich der letzte Verkäufer neuer Bücher, der wie ein Antiquar
arbeitet. Ein Antiquar sucht und forscht und findet, er treibt spezielle
Bücher für spezielle Kunden auf, interessiert sich und hat Lust,
seine Entdeckungen anderen zu vermitteln.
Jacques Noël thront ganz hinten. Nur sein Kopf lugt hinter der Wand
aus Büchern hervor, aufmerksam wachend. Manche Kunden sind davon
überzeugt, dass Jacques Noël eins ist mit seinen Büchern.
Ein Menschenkopf auf einem Bücherkörper. Denn Un Regard Moderne
wirkt wie ein lebender Organismus, er wächst und wuchert, und bei
jedem Besuch hat er neue Blüten getrieben, neue Körperteile
entwickelt, und das Labyrinth wurde noch sinnverwirrender.
Jacques Noël: Wenn du dich mit 12 oder 13 entschliesst, dich
aus der Schule auszuklinken, weil du weisst, dass kein Lehrer dir etwas
beibringen kann, was du nicht schon aus Büchern weisst, und weil
du weisst, dass alles, was du je entdecken wirst, bereits in Büchern
steht und es nur darum geht, diese Bücher aufzustöbern
dann entziehst du dich ein bisschen dem Leben. Es ist vielleicht traurig,
aber eine Tatsache, dass sich mein ganzes Leben in der Welt der Bücher
abgespielt hat.
Ich war schon immer der Buchhändler, der ich heute bin. Als ich 16
war oder 18 hat mich Gibert (eine grosse Buchhandlung im Quartier Latin,
Anm. des Autors) sechs Monate lang in einen Keller gesteckt. Dort suchte
ich aus den Bergen von Occasion-Büchern die noch verkäuflichen
heraus. Ich lebte wie ein Eremit und habe, während meine Kameraden
zur Schule gingen, viel gelernt.
Später hat mich ein Verleger damit beauftragt, nach vergriffenen
Büchern zu forschen, die er wiederveröffentlichen könnte.
Die ehrwürdigen Buchantiquare waren verblüfft, dass dieser ungebildete
Jüngling das Talent hatte, nach tagelangem Wühlen und Schmökern
die eine oder andere Perle aus ihren Regalen zu ziehen.
Un Regard Moderne hat eine weltweit einzigartige Auswahl an Bilderbüchern:
Edle Kunstbände wie Independent-Comics aus Brasilien oder Hongkong,
wunderbare Siebdruck-Alben und fotokopierte Fanzines, Rares von Altmeistern
wie Doury, Caro, Gary Panter und Baudoin, Selbstverlegtes aus der ganzen
Welt und natürlich die Comics etablierter Indie-Verlage (Fantagraphics,
Drawn & Quarterly, Association) einfach alles. Und mehr: Un
Regard Moderne bietet darüber hinaus auch die besten Krimi- und Science-Fiction-Autoren,
ausgewählte Belletristik und Theorie, Bücher über sämtliche
Undergroundströmungen der letzten hundert Jahre, Kino, Musik, viel
Pornographie und allerhand undefinierbare und wunderbar abseitige Bücher
über ausgefallene Themen, von denen man sich unmöglich hätte
vorstellen können, dass es sie überhaupt gibt. Un Regard Moderne
hat sie.
Im Regard Moderne kreuzen sich alle möglichen und unmöglichen
Underground-Szenen und Subkulturen aus der ganzen Welt, stehen einträchtig
nebeneinander, ehe sie wieder in alle Richtungen auseinandergehen. Für
Frankreichs Selbstverleger ist der Regard Moderne die wichtigste Adresse.
Ohne Regard Moderne, behauptet etwa Pakito Bolino vom Dernier Cri, könnte
er finanziell nicht überleben.
Jacques Noël: Es ist immer wieder faszinierend, wenn einer
mit seinen drei fotokopierten Seiten ankommt, "guck mal, das ist,
was ich mache." Dann habe ich das Gefühl ja, interessant,
das werde ich dem und dem zeigen. Vielleicht verkaufe ich es rasch, vielleicht
bleibt es aber auch lange liegen.
Den Selbstverlegern kaufe ich ihre Bücher und Hefte gleich ab, bar
auf die Hand. Das ist die einzig ehrliche Art, mit jemandem Geschäfte
zu machen, der seine Arbeiten auf eigenes Risiko produziert. Ob ich sie
dann verkaufe oder nicht, ist mein Problem.
So habe ich einiges gesehen und erlebt, im Lauf der Jahre. Auch Leute,
die anfänglich nicht gerade viele Trümpfe im Ärmel zu haben
schienen, sich dann aber doch durchsetzten.
Rue Gît-le-Coeur. In dieser schmalen Seitengasse in der Nähe
der Place Saint-André-des-Arts hausten einst William S. Burroughs,
Brion Gysin und ihre Kumpane im legendären Beat-Hotel. Und hier logiert
nun seit 12 Jahren Un Regard Moderne. Zuvor führte Jacques Noêl
ganz in der Nähe Les Yeux Fertiles. Damals gab es im Quartier Latin
noch einige weitere Läden in diesem Geist, heute ist Jacques Noël
allein.
Jacques Noël: Der ehrliche Mensch ist in der Lage, sich zu
verirren. Das heisst: Er weiss sich die Zeit zu nehmen, um die Dinge lieben
zu lernen. Einiges wird er sehr schnell ins Herz schliessen, anderes muss
er jahrelang reifen lassen, ehe es für ihn bedeutsam wird. Aber er
ist geduldig und kann warten. Wir alle sind derartig voll von Möglichkeiten,
dass es eine Schande wäre, sie für nur eine einzige Obsession
zu opfern.
Meine liebsten Kunden sind deshalb Menschen mit Leidenschaften, Menschen,
die leidenschaftlich auf der Suche sind. Diese Kunden inspirieren mich
und meine Arbeit und diese Kunden irrezuführen ist
eine schöne und subtile Herausforderung.
Einen Besessenen wirst du nicht irreführen können. Der will
nur etwas Bestimmtes und verdrängt alles andere.
Aber leidenschaftliche Menschen, ja, mit denen kannst du spielen. Du kannst
einem, der sich nur für Gegenwartskunst oder Politik zu interessieren
glaubt, Chris Ware in die Hand drücken. Und plötzlich beginnen
seine Augen zu leuchten und du weisst, du hast einem Menschen Freude
geschenkt, indem du ihm einen Pfad gewiesen hast, den er sonst nie gefunden
hätte.
Aber es stimmt auch, dass jemand, der zufällig in den Laden kommt,
unglücklich sein könnte, weil er keinen Orientierungspunkt findet.
Er muss begreifen, dass er sich in diesem Labyrinth verirren muss. Und
dann kann auch er seinen Weg finden und stösst auf Lichtungen.
Bewusst unterläuft Jacques Noël die Ordnung im Laden, bewusst
stellt er gewisse Bücher und Hefte an den falschen Ort. Damit ein
Pornofreak auf ein Siebdruckheft des Dernier Cri stösst, das er sonst
nie in die Hand genommen hätte. Damit ein Comic-Leser ein Buch über
die Situationisten in die Hand nimmt oder ein Kino-Fan einen Bildband
über den Tod in Mexico. Noël schafft Bezüge und Zusammenhänge,
die nicht offensichtlich sind. Er versteckt Bücher, die man suchen
muss und auf der Suche stolpert man über andere Bücher,
die einen ebenfalls faszinieren. Zielstrebigkeit ist im Regard Moderne
unmöglich. Man muss sich Zeit nehmen und sich verirren, beziehungsweise
von Jacques Noël irreführen lassen. Und manchmal vergisst man
beim Suchen und Stöbern, warum man den Laden aufgesucht hat
und verlässt ihn mit einer oder zwei Tüten voll anderer Bücher.
Voll beglückender Entdeckungen.
Jacques Noël: Viele Leute reden von Schätzen, die von
anderen Büchern verdeckt in der zweiten oder dritten Schicht vergraben
seien. Das ist ein Irrglaube. Es gibt diese Schätze nicht. Die wichtigen
Bücher stehen immer vorne. Andererseits bilden sich so etwas wie
geologische Schichten. Gewisse Bücher verschwinden für eine
Weile hinter anderen Büchern und tauchen dann plötzlich wieder
auf, weil sie nach Jahren des Schlummerns wieder relevant werden. Ein
Buch ist keine verderbliche Ware, ein Buch hat mehrere Lebenszyklen. Das
ist faszinierend.
Deshalb bleibe ich jemand, der vielleicht genau das Buch hat, das dein
Leben retten wird.
Jacques Noël ist der beste Verkäufer der Welt. Er weiss nicht
nur, wo genau jedes Buch steht er durchschaut auch die meisten
seiner Kunden. Egal in welcher Ecke ich gerade rumstöbere, plötzlich
steht er neben mir und drückt mir, ganz beiläufig ein anderes
Buch oder ein Heft in die Hand. Ob es ein Buch ist, das ich schon lange
suche oder das Heft eines absolut Unbekannten Jacques Noël
weiss, was ich brauche. Er hat mich schon hundert Mal "irregeführt"
und mir Bücher angedreht, von denen ich noch kurz zuvor gar nicht
wusste, dass ich sie brauche, ohne die ich aber heute nicht leben möchte.
Und dafür bin ich ihm dankbar.Jacques Noël: Mit einem
Buch verkaufst du Vergnügen, du verkaufst Spiegel, du verkaufst
ganz viele kleine, wichtige und sehr sensible Sachen.
Bücher sind wie Waisenkinder. Meine Aufgabe ist es, neue Eltern für
sie zu finden.
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