1 Dann verschwinden die Lichter
wie in einem schwarzen Loch. Hinter mir. Ich sitze im Nachtzug in ein
fremdes, fernes Land. Keiner wird mich dort finden. Die Schande! Die Scham!
Auch der Chefredaktor dieser STRAPAZIN-Ausgabe könnte hinter mir
her sein. Und seine Comic-Mafia-Killer. Ich habe nämlich versagt.
Grosskotzig einen umfassenden Text versprochen über Gary Panters
Musiklibido sowie einen eventuellen Theorieaufbau daraus. Riesensprüche
gemacht und dann nichts geliefert. Die Schande undsoweiter!Gary Panter.
Wie die Lichter verschwinden meine Gedanken im Dunkel der Geschichte.
Erste Konfrontation Anfang der 80er Jahre. Ein dem L'art pour l'art verfallener
Schallplattenhändler dreht mir eine Scheibe mit dem Titel «Subterranean
Modern» an. Von Ralph Records, dem Haus der Residents, mit Chrome
und anderen Krachmachern drauf. Prima Titel, denke ich noch, die Synthese
vom «Subterranean Homesick Blues» und dem, was wir damals
alle sein wollten: modern. Die Musik auf der Platte war Scheisse, aber
die Hülle hatte Klasse. Drauf ein Comic-Kopf, härter als Punk.
Von Gary Panter. Er ist noch für einige weitere Plattenumschläge
verantwortlich: Frank Zappas «Studio Tan» und «Sleep
Dirt», That Petrol Emotion, die Red Hot Chili Peppers und sogar
Duke Ellington. Prima Artwork immer, zerrissen, fragmentiert, wild, expressiv,
panterianisch, interessant.
Übrigens ist das Wort «interessant» nie wieder so oft
gebraucht worden wie zu Beginn der 80er Jahre. «Interessant!»
kieksten auswärtige Besucher, wenn wir Wodka aus leeren Marmeladegläsern
tranken, bei denen man sich ganz besonders weit zurücklehnen musste,
um auch den letzten Schluck noch zu kriegen. «Interessant!»
koksten schwarzumhüllte Tonmodernler, wenn wir in unserem Übungsraum
den ersten Korg-Synthesizer auf Endlosschlaufe laufen liessen, um unterdessen
leere Marmeladengläser zu suchen.
Zwangsläufig treffe ich auch auf Gary Panter als Musiker. 1984 erscheint
im Verlag des berühmtberüchtigen Comic-Magazins Raw der One
Shot Nummer 4: «Invasion Of The Elvis Zombies». Der Titel
intrigiert mich. Ich denke, aha, daher weht der Wind. Mythomanie. Hinten
im Umschlag klemmt eine Flexi-Disc: «Precambrian Bath», Gitarre
und Gesang von Gary Panter.
«It has nothing to do with Invasion Of The Elvis Zombies except
that it also asks where time goes when it passes.» Netter philosophischer
Ansatz. Klingt jedenfalls interessant. Die Musik ist ein zeitgemässer
Versuch, um es mal so auszudrücken. Ein paar Jahre vorher haben die
Residents auf Panters Platte «Tornader To The Tater» gespielt
und sie produziert. Vielleicht lagen davon noch ein paar Tonspuren herum.
Bedeutend interessanter ist Panter als Texter. «Precambrian Bath»
erzählt von einem Saurier-Strandbad, obwohl es im Präkambrium
allerhöchstens Quallen und Seefedern gab. Egal, auch der Text von
«Invasion Of The Elvis Zombies», eine Art Triple-Comic, ein
Horrorfilm und zugleich dessen Persiflage, ist von beachtlicher poetischer
Kraft. Aber darüber darf ich ja nichts schreiben.
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2 Dann rückt der Chefredaktor dieser STRAPAZIN-Ausgabe mit seinem
Material heraus. Heisser Stoff, murmelt er zwischen zwei tiefen Zügen
aus dem Bocksbeutel und schiebt mir zwei zerknautschte Fotokopien über
den Tisch. Gary Panters «33 Best Loved Vinyl Recordings»,
Listen, die er in den Jahren 1996 und 1997 erstellt und veröffentlicht
hat. Womöglich Material genug, um einen fiktionalen Raum mit akustischen,
ja auratischen Möbeln zu füllen. Aus 66 Lieblingslangspielplatten
lässt sich mit etwas Chuzpe durchaus ein Persönlichkeitsprofil
erstellen. Ungeachtet der Frage, was mit der Musik ist, die nicht auf
Vinyl erschienen und Herrn Panter trotzdem eine Seelenerquickung ist.
Ungeachtet auch dessen, ob der Herr Künstler in den letzten Jahren
vielleicht seine Hörgewohnheiten - wie so viele - umgestellt hat
und nur noch Salsa und samoanische Kriegsgesänge hört. Und wenn
auch die abgefeimtesten Schweinehunde die süssesten Songs hören,
so lassen sich doch aus dem Musikgeschmack eines Comic-Künstlers
Hinweise aufs Werk, auf dessen Referenz, Relevanz und Unbestechlichkeit
herausdestillieren. Panter im Marmeladenglas sozusagen.
Unter dem lauernden Blick des Chefredaktors studiere ich die beiden Listen.
Interessant, ja faszinierend, was Herr Panter gerne mag. Material genug
für einige Seiten musiktheoretischen wie rockhistorischen Kommentars.
Drei Seiten, schnaubt der Chefredaktor zufrieden. Ich gestehe ihm, dass
ich Panters Musikgeschmack partiell mehr als teile. Und das ist die Crux,
der Knacks, der Kack, das, was zu Scham und Schande führen wird.
Ich bin schon dabei, mich in der Materie zu verlieren, denn Panter liebt
Platten, für die ich jederzeit meine antike Marmeladengläsersammlung
hergeben würde.
«Dub Housing» von Pere Ubu zum Beispiel. Hat man je wieder
so einen bedrückenden wie wahrhaftigen Soundtrack zu Zeit und Welt
anno 1978 gehört? Das schmerzhafte, aber doch lustvolle Erwachen
aus dem immer mehr zum Alptraum werdenden simulierten Märchenland
aus selbstgenähten Jesuslatschen und ganzheitlich eingekochter Marmelade,
und die darauf folgende langwierige, ja gefährliche Reise in die
Ruinen und Wüsten der Städte im Kopf - das spielt sich auf «Dub
Housing» ab. David Thomas alias Crocus Behemoth - was für ein
Pseudonym! - knödelt und jammert und quält die Töne, während
die Band wie eine grosse, böse Maschine wummert. Ich erinnere mich
an einen frühen Auftritt von Pere Ubu in einem Betonkellerfreizeitzentrum
in Bern, als Allen Ravenstines Synthesizer an den Wänden entlang
um den Betonsaal sauste und allen das Gehirn heraushaute. So böse
konnte die Welt sein. Wahrscheinlich ist es Herrn Panter, der nur knapp
älter ist als ich, zu dieser Zeit auch so gegangen mit der Umwertung
der Werte. Der Mix aus Lärm und eingängigen Melodien evoziert
explizit Exaltation, und ist es nicht das menschliche Bedürfnis nach
Bedeutung und symbolischer Aufladung, welches die Kulturverwurstungsmaschine
Rockmusik befriedigt? Gerade bei dieser Platte, mit dem Bandnamen Pere
Ubu und Songtiteln wie «Caligari's Mirror» und «Drinking
Wine Spodyody» (hat nichts mit Hank Williams zu tun). Denn verwurstet
muss die Kultur werden, sonst wird sie übermächtig.
So überfällt mich manchmal jäh die Wortdiarrhöe! Drei
Seiten, meint der Chefredaktor streng und schnaubt noch einmal zufrieden,
denn er sieht, dass ich angefixt bin.
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3 Dann sehe ich die Beach Boys auf Panters Liste, mit den Alben «Smiley
Smile» auf der von 1996 und «Pet Sounds» auf der von
97. Letzteres war sicher der kommerzielle Höhepunkt der seltsamen
Karriere des Brian Wilson und seiner Brüder und Cousins. Wilson liess
sich, nachdem er «Rubber Soul» der Beatles gehört hatte,
auf einen künstlerischen Wettlauf mit ihnen ein. Wer würde das
prätentiösere Verwurstungs-Rockalbum machen, Brian Wilson mit
dem Album «Smile» oder die Fab Four mit «Sgt. Pepper»?
Aber Wilson war allein als Komponist und Arrangeur und die Liverpooler
waren zu zweit, zu dritt, zu viert.
Vorerst war «Pet Sounds» mit Hits wie «Sloop John B.»
und «God Only Knows», dem berückendsten Stück Männer-gesang
der Pophistorie, ein Riesenerfolg. 1966 verdrängten die Beach Boys
die Beatles gar in England vom ersten Platz als beliebteste Gruppe. Und
erste Hits, die dereinst auf «Smile» erscheinen sollten, vermehrten
den Ruhm des Kaliforniers: «Good Vibrations» zum Beispiel,
damals und heute eine musikalische Sensation ersten Ranges, ein geniales
Stück Studiotechnik, wurde ein weltweiter Nummer-Eins-Hit. Doch dann
ging etwas schief bei Wilson. Die Zeit war gegen ihn. 1967 kam der sogenannte
Summer Of Love. Die drögen Hippies aus San Francisco hatten nichts
mit den L.A.-orientierten Beach Boys am Hut. Wilson selber verwickelte
sich immer mehr in end- und fruchtlose Studio-arbeit, in Drogenprobleme
und schwere Depressionen. Dann gab es auch noch Probleme mit der Plattenfirma.
Kurzum, «Smile» wurde nie fertig und hat heute den zweifelhaften
Ruhm des berühmtesten nie erschienenen Rockalbums. «Smiley
Smile», 1967 stattdessen erschienen, ist eine seltsame Karre. Rudimentäres
Geschrumme und Gedrumme zu abgedrehten Texten. Die Musik berührt
- nein, wenn man ums Schicksal von «Smile» weiss, zerreisst
einem diese Musik das Herz. Wer also den grossen Tragiker Brian Wilson
und «Smiley Smile» liebt, muss ein guter Mensch sein, nicht
wahr, Herr Panter? Und dass David Thomas der grösste Fan von Wilson
ist, erscheint nur allzu folgerichtig.
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4 Dann reich mir die Flosse, Genosse! Der Chefredaktor weckt mich aus
meinen Reverien und drückt mir zum Abschluss unserer Konferenz hart
die Hand. Dass du mir das auch alles aufschreibst! Drei Seiten!
Ja, ja. Ich winke locker ab und bin schon wieder in den Listen versunken.
Als der Chefredaktor gegangen ist, entdecke ich in seinem Bocksbeutel
noch einen schönen Schluck. Irgendwo im Rucksack habe ich doch ein
Marmeladenglas.
Es ist festzuhalten, dass Panters musikalische Vinyl-Favoriten zu 40 Prozent
aus den Jahren 1965 bis 1969 stammen. Eine weitere signifikante Häufung
von Lieblingsvinyl gibt es nochmals um 1980. Was allgemein als Punk gilt,
fehlt in den Listen ebenso wie das San-Francisco/Summer-Of-Love-Zeug.
Panter scheint mehr auf die Nebenströmungen zu stehen. Auf etwas
distanziertere Sachen, die sich ein bisschen entwickeln konnten, ohne
gleich als grosses Ding kommerziell und medial aufgesaugt zu werden. So
steht der Artist auf den mysteriösen Folkrock der Incredible String
Band, auf Electric Flag, die zu Hippiehochzeiten einen sauberen, druckvollen
Soulrock spielten. Panter estimiert Todd Rundgren, die Cramps, XTC, Wire,
Eugene Chadbourne undsoweiter. Prinzipiell findet unser Mann auch Lärm
gut. Er mag zwar kein Beatles-Album bei seinen Lieblingen nennen, doch
über die Soundexperimente von George Harrison und John & Yokos
Unfinished Music grübelt er gern herum. Auch moderneren Lärm
mag Panter: Dome, Lydia Lunch, Nurse with Wound, Negativeland et. al.
Zu «Duck Stab» von den Residents meint Panter: «This
is how weird I wish Punkrock had been». Das Fragmentarische, die
Collage, das Dekonstruierte - all das ist in Panters Zeichen- und Malstil
auch enthalten. Wo habe ich denn das Papier, um mir das alles endlich
zu notieren für den Chefredaktor, bevor ichs wieder vergesse? Überall
nur leere Marmeladengläser...
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5 Dann ist da auch zweimal der gute Captain Beefheart auf den Listen.
Ich hätte wetten können, dass Panter den mag. Es handelt sich
um Don Van Vliets Doppelpack aus dem Jahr 1972, «The Spotlight Kid»
und «Clear Spot», die auch ich für die besten Beefheart-Alben
halte. Wirklich gross! Das ist sozusagen die Vollendung des weissen Blues,
den die Rolling Stones mit «Aftermath» und die Yardbirds mit
«Over Under Sideways Down» 1966 schon mit Sitar und Distortion
aufgeweicht haben - auch diese beiden Alben zieren die Panter-Hitparaden.
Ja, und «Disraeli Gears» von The Cream ein Jahr später
darf man auch nicht vergessen, das Greatest-Hits-Album des Progressive
Rock. Und da sind doch immer noch so viele einzigartige, geniale, abgedrehte
Rockplatten auf Panters Listen: Hendrix' «Electric Ladyland»,
«Uncle Meat» und «Lumpy Gravy» von Frank Zappa,
dazu The Bonzo Dog Doo Dah Band, Psychedelic Furs, Virgin Prunes, Magazine,
Tiny Tim, The Reverb Motherfuckers, Joe Byrd and the Field Hippies, Screaming
Jay Hawkins ...
Ich muss mal in meinen Beständen wühlen, was ich alles besitze
aus Panters Liste. Fast die Hälfte der 66 Scherben, denke ich. Dieser
Gary Panter muss jedenfalls ein guter, warmherziger Mensch sein, mit wachem
Intellekt, einem guten Sinn für Humor und ironischer Distanz, entwickelter
Liebesfähigkeit und einer aufrechten Pop-Attitüde, soviel scheint
klar. Doch ich muss noch weiter grübeln und forschen.
Als der Chefredaktor das nächste Mal anruft, schütze ich eine
schwere Handverletzung vor, weil mir die Electric Prunes auf die Finger
gefallen seien. Keine leeren Marmeladengläser, erwidert der Chefredaktor
mit zynischem Unterton. Drei Seiten! Ja, ja, kein Problem.
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6 Dann kommt der Abgabetermin und ich suche in meinem Kopf immer noch
nach Worten, mit denen ich Panters Zuneigung zu «In The Flat Field»
von Bauhaus erklären könnte. Das Telefon nehme ich nicht mehr
ab. Es hat keinen Sinn. Die Schande. Die Scham. Ich werfe mich nur mit
diesen fragmentarischen Notizen in den Nachtzug ins Exil. Hinter mir verschwinden
die Lichter wie im Pere-Ubu-Stück «Thriller».
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