Ausnahmezustand in Serbien

von Aleksandar Zograf

Mittwoch, der 22. März 2003, war der erste sonnige Tag nach einem ebenso langen wie langweiligen Winter. Am Nachmittag, ziemlich genau um 1 Uhr 30, sendeten Radio und Fernsehen die Nachricht, dass auf den serbischen Premierminister Zoran Djindjic ein Attentat verübt worden sei. Kurze Zeit später hiess es, er habe die Schüsse, von einem Scharfschützen aus dem Gebäude gegenüber dem Regierungssitz abgegeben, nicht überlebt. Der Tatort befindet sich im Herzen von Belgrad. Eine Freundin von mir war an diesem Tag zufällig dort unterwegs zum Hauptbahnhof, als sie zwei Schüsse hörte und den Wagen davonbrausen sah, der den - bereits bewusstlosen - Premierminister ins Spital brachte. In diesem Moment begriff sie noch nicht, was passiert war; aber als sie am Hauptbahnhof ein Billett zurück an ihren Wohnort kaufen wollte, sagte man ihr, alle Verkehrswege aus der Stadt seien gesperrt.

Allmählich sickerten Details des Anschlags auf Djindjic durch. Er war ein leichtes Opfer gewesen, da er infolge einer Beinverletzung, die er sich bei einem Fussballmatch zwischen Regierungsleuten und Polizisten zugezogen hatte, an Krücken ging. Die Profikiller hatten sich in der Tiefe eines dunklen Zimmers versteckt, so dass man weder den Lauf des mit einem Zielfernrohr ausgestatteten Gewehrs noch das Mündungsfeuer sehen konnte. Ungesehen gelang es ihnen, sich vom Tatort zu entfernen und das Gewehr - eher unüblich bei solchen Verbrechen - mitzunehmen. Untersuchungen ergaben später, dass sie sich als Arbeiter verkleidet hatten, die mit der Renovation des Gebäudes beschäftigt waren.

Die Gegend, in der der Anschlag geschah, wird von ehemaligen Verwaltungsgebäuden der Armee und der serbischen Regierung dominiert, die bei den NATO-Bombenangriffen 1999 stark beschädigt worden sind. Immer noch liegen mitten im modernen Zentrum der Stadt überall Trümmer herum, ragen Wände mit zerschossenen Fenstern und staubigen, zerrissenen Vorhängen wie abstrakte Skulpturen in den Himmel. Das verarmte und instabile Land wird lange brauchen, all dies zu reparieren und neu aufzubauen. Die Ruinen sind zur alltäglichen Kulisse geworden, man hat sich längst an ihren Anblick gewöhnt.

Manchmal, während ich auf den Bus warte, gehe ich zu den Treppenstufen, die etwas abseits der Strasse zum Fuss eines Hügels führen. Sehr zum Befremden etwaiger Passanten betrachte ich die Steinstufen und die in ihnen eingeschlossenen Fossilien, die nur einem genauen Beobachter auffallen. Das letzte Mal, dass ich dort war, vor etwa einem Jahr, hatte eine Belgrader Künstlerin diese Plattform neben der Strasse gewählt, um dort eine Art Theater-Performance aufzuführen, die sich mit den Ursachen von Macht und ihren gewalttätigen und kriminellen Aspekten beschäftigte. Sie konnte nicht wissen, dass genau dieser Ort wenig später zur Bühne eines blutigen Strassentheaters mit richtigen Gewehrkugeln werden würde.

Das Attentat markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Nation, obwohl Djindjic gar nicht so populär gewesen war, wie man meinen könnte. Seine Bestrebungen, das tief traumatisierte Land zu modernisieren, fanden nicht jedermanns Beifall. Doch ihn zu ermorden, war für alle inakzeptabel. Zuerst war die Bevölkerung schlicht sprachlos vor Schreck, dass ein derart kaltblütiges Attentat möglich war, ein Gefühl, dass schnell in Wut auf die Attentäter umschlug. Und allgemein fragte man sich, ob man Djindjic und seine Regierungszeit vielleicht nicht doch zu kritisch beurteilt hatte.

Der Mord geschah am selben Tag, an dem die Polizei mit den Verhaftungen verschiedener Krimineller des sogenannten Zemun-Clans hätte beginnen sollen. Zemun, am Ufer der Sava gelegen, ist eine Kleinstadt, die in den letzten Jahren mit der Agglomeration Belgrads verschmolzen ist. Die Gauner, eng verbunden mit der Polizei, den Justizbehörden und gewissen Politikern, waren jahrelang unbehelligt geblieben. Nun aber hiess es, eines der Bandenmitglieder sei abgesprungen und wolle gegen die anderen aussagen. Naheliegend, die Organisatoren von Djindjics Ermordung in diesem Kreis von Leuten zu vermuten. Vermutlich hofften die Mörder, nach der Tat herrsche ein solches Chaos, dass konservativen Politikern dadurch der Weg zur Macht erleichtert würde.

Aber es kam anders. Die Antwort der Regierung, motiviert vom Volkszorn, fiel höchst resolut aus und wurde von fast allen Teilen der Gesellschaft mitgetragen. Der Ausnahmezustand wurde verhängt, und Polizei und Gendarmerie erhielten für diese Zeit spezielle Befugnisse. Die Beerdigung des Premierministers in Belgrad wurde zu einer Solidaritätskundgebung mit hunderttausenden von Leuten, ein Blumenmeer umgab den Sarg Djindjincs, der auf einem Militärjeep durch die Strassen gefahren wurde. Eine ähnlich grosse Menschenmenge hatte man seit dem Aufstand gegen Milosevic im Oktober 2000 nicht mehr erlebt.

Bald tauchten Fotos verschiedener Mitglieder des Zemun-Clans in den Medien und auf "Wanted"-Plakaten auf. Was mir persönlich daran auffiel, war die überraschende Tatsache, dass die meisten der Gesuchten ziemlich genau in meinem Alter zu sein schienen. Ob diese Typen wohl die gleichen Comics wie ich gelesen hatten, als sie Kinder waren? Diese und andere Fragen gingen mir durch den Kopf.

Die Polizeiaktion brachte mehr ans Tageslicht, als erwartet. Eine Serie von Verhaftungen zeigte, dass die Anführer des Clans nicht nur enge Beziehungen zu den Institutionen des Staates, zu Staatsanwälten und Richtern unterhielten, sondern auch zu Leuten im Showbusiness und in den Medien. Zudem gaben sie eine eigene Zeitungen heraus - "Identität", finanziert mit Geldern aus Drogenhandel und bandenmässigem Kidnapping. Früher hatte ich das Blatt oft im Angebot von Zeitschriftenkiosken gesehen, jetzt war es konfisziert worden, und ich bereute, es nie durchgeblättert zu haben. Es wäre doch spannend gewesen, zu sehen, welche Art von Reportagen die Mafia gerne liest!

Bald erfuhren wir auch, dass sich unter den Leuten, die der Zusammenarbeit mit dem Zemun-Clan verdächtigt wurden, auch die berühmte "Turbo-Folk"-Sängerin Ceca (ausgesprochen: Tsetsa) befand, bekannt für ihre grossen Silikontitten. Wir sassen vor dem Fernseher und schauten zu, wie die Polizei tonnenweise Waffen aus ihrem Haus trug, darunter auch Armbrüste, Ninja-Masken und Kisten voller Munition. Dabei war die populäre Ceca noch vor einem Jahr in einem Stadion vor hunderttausend Leuten aufgetreten! Erst am Tag nach ihrer Verhaftung begriff ich die volle Bedeutung dieser Aktion, als ich zum Kiosk ging und alle Zeitungen ausverkauft waren.

Viele Leute gehen mit mir einig, dass dies alles nicht nur eine kriminelle sondern auch eine kulturelle Dimension hatte. Ceca war ein Symbol des "Turbo-Folk", einer geistlosen Art von Popmusik mit banalen Texten und einem angeblich traditionellen Background - Eskapismus und Glamour für ein Land, das im Chaos zu ersaufen droht. Zudem ist Ceca die schillernde Witwe von Zeljko Raznatovic, genannt Arkan, dem berüchtigten Kriegsverbrecher und Parteivorsitzenden der serbischen Einheitspartei (SSJ), der im Januar 2000 in einem Belgrader Hotel erschossen worden war. Dies führt zu einem weiteren Aspekt der Ermordung Djindjics: Viele der Leute, die ihre Hände bei der Bluttat im Spiel hatten, waren mit paramilitärischen Truppen verbunden, die während des jugoslawischen Bürgerkriegs tätig gewesen waren. Da weder im früheren Jugoslawien noch in dessen abgespaltenen Bundesländern Berufsarmeen existierten, heuerten einige der neugebildeten Regierungen Söldner aller Art an, darunter auch Strafgefangene, die vorzeitig entlassen und in sogenannte "Elitetruppen" gesteckt worden waren. Unter dem Banner eines diffusen Patriotismus und mit viel nationalistischer Rhetorik verübten solche Truppen Plünderungen oder verschafften sich einflussreiche Stellungen im organisierten Verbrechen. Beispielhaft für diese Art von Karriere steht Milorad Ulemek (Spitzname Legija), einer der Kommandanten der paramilitärischen Gruppe Red Berets, einer speziellen, von Milosevic in den Neunzigern gegründeten Polizeitruppe. Nachdem er den Befehl über diese Einheit abgegeben hatte, wurde Legija zu einer wichtigen Figur innerhalb des Zemun-Clans und später einer der Hauptverdächtigen im Fall des Djindjic-Mordes. Legija, dessen Spitzname an seine Zeit in der französischen Fremdenlegion erinnert, ist bis heute auf freiem Fuss.

Während des Ausnahmezustandes wurden die Red Berets aufgelöst. Einer der Paramilitärs gestand nach seiner Verhaftung, Djindjic mit einem Scharfschützengewehr erschossen zu haben. Kurz darauf fand man die hastig vergrabene Waffe in einem Belgrader Vorort. Diese Operation führte zur Festnahme einiger tausend Krimineller, die alle in den Drogenhandel, die Prostitution und den Benzinschmuggel verwickelt waren. Bald waren die Gefängnisse voll und der Polizei blieb nichts anderes übrig, als viele weniger stark belastete Verdächtige freizulassen.

Ein weiteres Problem ergab sich: Bei der nun einsetzenden Drogenknappheit wurde es für Abhängige immer schwieriger, an Stoff zu kommen. Apotheker stellten Sicherheitspersonal ein, um sich vor den Süchtigen zu schützen, die Nacht für Nacht ihre Läden ausraubten. All die Absurditäten des Alltagslebens in unserem Land wurden sichtbar. Da gab es die Kriminellen mit ihren protzigen teuren Autos, den grossen Villen und ausgedehnten Weltreisen, während die breite Bevölkerung schon Mühe hatte, unter dem wirtschaftlichen Embargo, das seit Jahren über das Land verhängt war, einfach nur zu überleben. Für den Durchschnittsbürger war es unmöglich, zu verreisen oder nur schon ein Visum zu bekommen. Andererseits sahen wir Fotos glücklicher Gauner, die in Strassencafés in Paris oder am Strand von St.Tropez posierten, Gauner, die im Krieg wahllos Menschen abgeschlachtet und dabei noch behauptet hatten, sie würden dies für unser Wohl oder für das Vaterland tun. Was sie nicht davon abhielt, mit "feindlichen" paramilitärischen Gruppen anderer ex-jugoslawischer Republiken zusammenzuarbeiten... Während der Demonstrationen gegen das Milosevic-Regime betätigten sich einige dieser Gruppen als Schutztruppen; als sie entlassen wurden, wandten sie sich "normalen" kriminellen Aktivitäten zu, manchmal von der Polizei verfolgt, wie sie selbst früher andere verfolgt hatten.

Ein Hauptquartier des Zemun-Clans befand sich sinnigerweise in der Schiller-Strasse, benannt nach dem Autor des Stücks "Die Räuber". Gegen aussen wirkte das Haus äusserst friedlich und nett, mit gepflegtem Garten und Kinderschaukeln. Aber hinter dieser Fassade verbarg sich eine Festung des Verbrechens, ein Privatgefängnis, das so solide gebaut war, dass die Polizei nach der Erstürmung neun Tage brauchte, um das Gebäude mittels Sprengstoff und Bulldozern dem Erdboden gleich zu machen. Einige Tage danach wurde Dusan Spasojevic, der Eigentümer der Festung und Anführer des Zemun-Clans in einem ruhigen Vorort getötet, zusammen mit seinem engsten Mitarbeiter, als sie Handgranaten gegen einen Belagerungsring von Polizisten warfen. Noch vor Ablauf des Ausnahmezustandes sah man einen Grossteil der Mitglieder verschiedener krimineller Banden hinter Gittern, andere aber, darunter eben auch Legija, sind noch immer in Freiheit, was befürchten lässt, dass es in nächster Zeit wohl zu weiteren "dramatischen Ereignissen" kommen wird. Dabei hat dieses Land allmählich die Nase voll von Ereignissen dieser Art.

Wie wird dies alles enden? Nach all den Kriegen, den Sanktionen, dem NATO-Bombardement, der Anti-Milosevic-Revolution, wurde auch der Ausnahmezustand mit seinen schwerbewaffneten und maskierten Polizisten vor allen wichtigen Gebäuden Belgrads ein Teil unserer kollektiver Erfahrung. Und doch geht das Leben weiter; Rockkonzerte und Modeschauen finden statt, als sei alles ganz normal. Ich selbst veröffentlichte kürzlich eine neue Comic-Sammlung auf Serbisch, mit dem Titel "Der Mond und das brennende Herz". Sogar ein alternatives Kulturfestival gab es, mit einer Ausstellung des Comiczeichners Max Anderson und einem "Agropunk"-Strassenkonzert von Arbe Garbe, meinen italienischen Freunden aus Udine. Und wie schon immer standen auch jetzt die Pendler am Strassenrand und guckten verwirrt zu.