GARO - ein alternatives Manga-Magazin

von Béatrice Maréchal

In Japan gilt es als Wegbereiter des Comics für erwachsene Leser und als langjährige Alternative zum kulturindustriellen Mainstream; im Ausland versteht man es gern als Synonym für Manga-Avantgarde überhaupt: Garo. Das mittlerweile legendäre Monatsmagazin wurde im September 1964 von zwei Männern ins Leben gerufen, die beide aus der Subkultur der so genannten "Leihbuchhandlungen" ("kashihon'ya") kamen: dem Verleger Nagai Katsuichi (1921-1996) und dem Zeichner Shirato Sanpei (*1932). Nagai hatte von 1959 bis 1962 Shiratos Mangaserie "Ninja bugeicho" ("Aufzeichnungen von den Kampfkünsten der Ninja") redaktionell betreut und im Kleinverlag Sanyosha speziell für die Leihbuchhandlungen herausgebracht.

Seit der Vorkriegszeit war in Japan ein Netz solcher gesetzlich kaum reglementierter Läden entstanden, von denen es zu ihrer Blütezeit Mitte der 1950er-Jahre etwa 30'000 gab. Sie schlossen die Lücke zwischen dem noch gering entwickelten öffentlichen Bibliothekswesen und dem fürs einfache Volk zu kostspieligen Buch- und Pressehandel, indem sie Druckerzeugnisse gegen eine geringe Leihgebühr anboten. Ein knappes Drittel ihrer Bestände waren Manga.

Auch verlegerisch wurden die Leihbuchhändler aktiv, und zwar vor allem mit Blick auf jene mittellosen jungen Proletarier, die vom Lande in die Städte strömten. Für dieses Publikum, das die etablierten Verlagshäuser ignorierten, publizierten sie Einzelbände oder monatliche Sammelbände, die im freien Handel nicht erhältlich waren. Fast jede Comicgeschichte Japans erwähnt als Pioniere die seriellen Anthologien Tantei book "Kage" (Detektivbuch "Schatten"; ab 1956 in Osaka) und Thriller book "Machi" ("Stadtviertel", ab 1957 in Nagoya). Sie erschienen mit einer Auflage von ca. 7'000 und enthielten Kurzgeschichten junger Zeichner, die sich vom freundlichen Kindermanga à la Tezuka grundlegend unterschieden. Darin triumphierte eine comicspezifische Verschränkung von Wort und Bild, die im Dienste grösstmöglicher Realismuseffekte stand und in sich geschlossene fiktionale Welten bot. Humoristische Abweichungen vom Illusionismus, wie beispielsweise das Spiel von Figuren mit Panelrändern oder Auftritte des Autors in eigener Person, wurden zurückgedrängt, Sprachwitz geringer gewichtet als spektakuläre Panelabfolgen und Gewaltakte nicht selten drastisch ins Bild gesetzt. So entstand eine Spielart japanischer Comics, für die Tatsumi Yoshihiro (*1935) 1957 die Bezeichnung "Gekiga" (wörtlich: "dramatische Bilder") prägte. Er gebrauchte sie anstelle des Wortes Manga, um sich von den bis dahin dominierenden Formen des japanischen Comics - Abenteuergeschichten für Kinder einerseits, lustige Zeitungsstrips für Erwachsene andererseits - abzugrenzen.

Garo richtete sich an junge Erwachsene. Die erste Ausgabe kostete 130 Yen und bot auf 130 Seiten im B5-Format Kurzgeschichten von Gekiga-Zeichnern wie Shirato Sanpei und Mizuki Shigeru (*1922). Die Entstehung dieses alternativen Magazins war dem persönlichen Engagement seiner Begründer, aber auch der Tatsache zu verdanken, dass sich die japanische Comic-Kultur damals an einem Wendepunkt befand. Noch funktionierten die Leihbuchhandlungen, doch im Laufe der 1960er-Jahre sollten sie von den immer auflagenstärkeren Mangamagazinen ihrer Funktionen beraubt werden. Garo wirkte als Zwischenstufe in diesem Prozess. Verlagshäuser wie Kodansha und Shogakukan hatten ihr Comicsegment lange Zeit auf Kinder der Mittelschicht ausgerichtet und das zahlungsschwache jugendliche Publikum gern den Leihbuchhandlungen überlassen. Ab 1959 brachten sie jedoch Manga-Wochenmagazine auf den Markt, ein neues Veröffentlichungsformat, das sich auf lange Sicht als äusserst erfolgreich erweisen sollte, denn es band die etwas älteren Leser und deren Kaufkraft. Bis zur vollen Entfaltung des Manga als Bestandteil der Kulturindustrie brauchte es allerdings ein knappes Jahrzehnt - in der Zwischenzeit erlebte Garo seine Blüte.

Die Idee zu Garo wurde geboren, als Nagai Shiratos neue Serie "Kamui-den" (die ersten Folgen sind auf deutsch bei Carlsen unter dem Titel "Kamui" erschienen) landesweit zugänglich machen wollte. Den Leihbuchhandlungen traute er dies nicht mehr, den grossen Verlagen noch nicht zu. Erstere waren in ihrem Wirkungskreis zu beschränkt, letztere lehnten alles ab, was sich weder an ein breites Publikum noch an Kinder richtete. Shirato wiederum hatte bereits seit 1960 Kurzgeschichten bei Wochenmagazinen publiziert und wusste um den Druck, den die Redakteure dort auf die Zeichner ausübten. Er entschied sich gegen die kommerziellen Zwänge. Wie einer von seinen Ninja-Charakteren, auf dessen Namen man für den Titel zurückgriff, sollte das alternative Monatsmagazin Garo Japans Comicwelt mit unkonventionellen Arbeiten unterwandern. Das hiess jedoch nicht, sich trotzig jenseits aller ökonomie zu positionieren. Nagais verlegerische Politik zielte von Anfang an darauf, Kommerz als Werkzeug im Dienste des ansonsten Ausgegrenzten einzusetzen. In Garo sollte die absolute Freiheit herrschen, mit neuen Themen, Erzählstrukturen und Bildtechniken experimentieren zu können, ohne auf Popularitätsumfragen oder Redakteure Rücksicht nehmen zu müssen. Ein Tsuge Yoshiharu (*1937) wäre anderswo nicht veröffentlicht worden. Für Arbeiten wie seine, die nicht kompromisslos als Dienstleistung am zahlenden Publikum konzipiert waren, bot nur Garo Raum. Diesen Mut honorierten vor allem Oberschüler und Studierende mit ihrem Zuspruch: Zwei Jahre nach der Gründung war die Auflage von monatlich 8'000 auf 80'000 Exemplare gestiegen. Die Stammleserschaft von Garo kam aus der Generation der Babyboomer. Ende der 1940er-Jahre geboren und unter den Bedingungen der Nachkriegsdemokratie aufgewachsen, verfügte sie über eine gute Bildung, hatte hochgradig politisierte Verhältnisse erfahren (z.B. die Auseinandersetzungen um den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag) und suchte sich von der Elterngeneration nicht zuletzt dadurch abzugrenzen, dass sie sich traditionell gering geschätzten Ausdrucksformen wie beispielsweise Comics öffnete.

Die Entwicklungsgeschichte von Garo wird in Japan meistens in drei Phasen unterteilt. Die erste reicht vom Start des Magazins bei dem eigens dafür geschaffenen Verlag Seirindo im September 1964 bis zur Nummer vom Juni 1971, in der die letzte Folge von Shiratos Serie "Kamui-den" erschien. Von Dezember 1964 an hatte diese fast immer die jeweils ersten hundert Seiten des Magazins eingenommen. In der zweiten Phase, die 1996 mit Nagais Tod und der vorübergehenden Einstellung des Magazins im Jahr darauf endete, gab es keine zentrale, langfristig tragende Serie mehr; es herrschte eine Vielfalt des Unkonventionellen. Als dritte Phase kann man schliesslich die letztlich vergeblichen Bemühungen verstehen, das Magazin wieder zu beleben. Garo selbst wurde im Jahre 2002 endgültig eingestellt, hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits in Ax seinen Erben gefunden.

1964-1971

Anfangs stand Garo ganz im Zeichen des Gekiga. Neben Shirato publizierten andere Zeichner aus der Branche der Leihbuchhandlungen, allen voran Mizuki Shigeru und Kojima Goseki (*1928). Letzterer zeichnete dort unter dem Pseudonym Suwa Sakae, so dass man kaum auf den Autor von "Kozure okami" ("Der Wolf und sein Junges") kommen mag. Seine heute bekannteste Serie (deutsch bei Planet Manga unter dem Titel "Lone Wolf and Cub") sollte er 1970 übrigens in Manga Action beginnen, einem jener ab 1967 entstandenen Mangamagazine für Jugendliche, die das fortführten, was zuvor nur im Gekiga der Leihbuchhandlungen und in Garo möglich gewesen war.

Mizukis Name ist mit Geschichten um traditionelle Geister verbunden. Einst hatten sie in den dunklen Ecken des alten Japan gehaust, doch im Zuge des Nachkriegswirtschaftswunders fielen sie dem Licht der Modernisierung zum Opfer. Wie in seiner bis heute populärsten Serie "Ge ge ge no Kitaro" ("Geisterjunge Kitaro"), in der der Titelheld mit Hilfe seines auf einen Augapfel geschrumpften Vaters sowie eines Mäuserichs verschiedenste Abenteuer besteht, waren auch seine Kurzgeschichten in Garo von seltsamen Wesen bevölkert, die gelegentlich aus Gräbern stiegen, um den Menschen die Konsequenzen ihres vermeintlich vernünftigen Handelns vor Augen zu führen.

Meist jedoch denkt man an die Kurzgeschichten von Tsuge Yoshiharu, wenn von Garo die Rede ist. Ab Februar 1966 konnte Nagai den Zeichner für sein Magazin gewinnen; im Juni 1966 widmete er ihm ein Spezialdossier. Tsuge erzählte von seiner Kindheit, seinen Reisen und Albträumen und das auf eine Weise, die der vornehmlichen Domäne der modernen japanischen Literatur, dem "Ich-Roman" ("watakushi shosetsu") und seinen authentisch wirkenden "Selbstentblössungsritualen" nahe zu kommen schien. Kritiker schrieben ihm die Begründung eines neuen Mangagenres zu und erfanden dafür die Bezeichnung "Ich-Manga" ("watakushi manga"). Doch auch Tsuge kam aus den Leihbuchhandlungen und dem Gekiga, wie photorealistische Hintergrundgestaltungen für cartoonesk reduzierte Charaktere erkennen lassen.

Kurzgeschichten im Stil des Gekiga kamen ausserdem von Ikegama Ryoichi (*1944), dem späteren Autor von "Crying Freeman" (deutsch bei Schreiber und Leser). Als er im September 1966 mit seinem ersten unveröffentlichten Comic nach Tokio kam, fand er bei Garo die Möglichkeit zu veröffentlichen. Schon im Oktober 1964 hatte Shirato seinem Assistenten Kusunoki Shohei dort zur Publikation verholfen. Zeichnete dieser zunächst Kriegsgeschichten, so sollte er nach einer schweren Erkrankung dann ab 1966 auf eine sehr viel persönlichere Weise die Vergänglichkeit des Lebens thematisieren. Welchen Sinn das Leben nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs und den Fehlschlägen der politischen Bewegungen der 1960er Jahre habe, beschäftigte auch Tsuge Tadao (*1941), Tsuge Yoshiharus jüngeren Bruder. Er debütierte im Dezember 1968 in Garo mit dem bemerkenswerten Comic "Oka no ue Vinsento Van Gohho wa" ("Auf dem Hügel stand Vincent van Gogh..."). Zu den Menschen am Rande der Gesellschaft, von denen er bevorzugt erzählte, gehörten die "Yakuza", die japanischen Mafiosi. Häufig arbeitete er mit starken Schlagschatten und nahm dem Leser jegliche Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang seiner Geschichten.

Für die späten 1960er Jahre, in denen Garo sich seinen mittlerweile legendären Ruf schuf, sind mindestens noch drei weitere Zeichner zu nennen. Hayashi Seiichis (*1945) offenbar autobiografische Serie "Sekishoku ereji" ("Elegie in Rot", Januar 1970 - Januar 1971), die vom Alltag eines unverheirateten Paares erzählt, und andere seiner Comics verblüfften durch surreale Motive und den grosszügigen Einsatz von Schwarzflächen für den Ausdruck unterschiedlichster Gefühlslagen. Takita Yu (1932-1990) publizierte ab April 1967 in Garo zunächst Kurzgeschichten, die sich mit dem politischen Tagesgeschehen auseinandersetzen - von Debatten um die Todesstrafe bis hin zu den Studentenunruhen. Im Dezember 1968 begann er mit einer Serie über den Stadtteil von Tokio, in dem er aufgewachsen war, und rief mit detailreichen Zeichnungen eine Kiezkultur in Erinnerung, die den Bombardierungen vom März 1945 zum Opfer gefallen war. Wie für Tsuge Yoshiharu war auch für Takita der Comic ein Medium, in dem sich - mitunter nostalgisch - eine randständige Vergangenheit im Gedächtnis behalten liess: Der noch nicht umfassend modernisierte Alltag kleiner Leute. Dass solche Geschichten besonders "japanisch" wirkten, trug sicherlich zum Kultstatus bei, den ihre Zeichner bei japanischen Schriftstellern, Regisseuren und Theatermachern in den späten 1960er Jahren erlangten. Denn auf der Suche nach Gegenbildern zur ökonomistischen Modernisierung und zur einseitigen Orientierung an den USA griff die damalige Avantgarde des "Underground" ("Angura") auf marginalisierte nationale Traditionen zurück. Ein Zeichner wie Sasaki Maki (*1946), der sich eher auf englischen Nonsens und schwarzen Humor als auf erkennbar japanische Kulturelemente bezog, geriet unter diesen Bedingungen ins Hintertreffen. In seinen Garo-Comics liess er ein chaotisches Universum entstehen, welches den Vietnamkrieg und die Heuchelei von Politikern ad absurdum führte, doch wandte er sich in den 1970er Jahren vom Comic ab. Heute kennt man ihn in Japan vor allem als Illustrator von Bilderbüchern.

Garo zeichnete sich aber auch dadurch aus, dass es Zeichnerinnen die Möglichkeit eröffnete, jenseits geschlechtsspezifischer Kategorien, also ausserhalb von Mädchenzeitschriften, Comics zu publizieren. Das Lob auf die überschreitung von Genregrenzen hat allerdings zu berücksichtigen, dass es diese damals noch gar nicht in der Form gab, die man heute weltweit kennt. Der "Shojo manga" ("Mädchencomic") im Sinne eines Genres von Frauen für junge Leserinnen mit eigenen Themen und eigener Stilistik begann sich gerade erst herauszubilden, als Garo im September 1965 der Zeichnerin Tsurita Kuniko (1947-1985) zum Debüt verhalf. Ihre Geschichten, die zum Teil SF-Themen, zum Teil die zeitgenössischen Studentenunruhen oder die neuen ausserehelichen Lebensformen erkundeten, wurden im Dezember 1970 in einem Dossier zusammengefasst. Eine späte historische Würdigung erfuhr die Zeichnerin schliesslich im Jahre 2001, als das für seine Manga-Abteilung bekannte Kawasaki City Museum ihr eine Retrospektive widmete.

Das Etikett einer "weiblichen Ausgabe von Tsuge Yoshiharu" erhielt allerdings nicht Tsurita, sondern ihre Kollegin Okada Fumiko (*1949). Sie debütierte 1967 bei der Konkurrenz, auf den Seiten von COM. Als Reaktion auf Garo hatte Tezuka Osamu dieses Magazin im Januar 1967 gegründet. Sein Titel stand für "Comics, Companion, Communication". Auch COM sah seine Aufgabe darin, das ästhetische Potenzial des Comics uneingeschränkt auszuloten. Es hatte allerdings eine jüngere Leserschaft als Garo, und die Arbeiten reichten, aus Sicht der Kritiker, kaum an dessen literarisches Niveau und politisch-kritisches Engagement heran. Zudem wurde COM unübersehbar von Tezuka und seinem Stil dominiert; die tragende Serie war "Hi no tori" ("Phönix"). Als das Magazin 1971 aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt wurde, wechselten viele seiner Zeichner zu Garo, so auch Yamada Murasaki (*1948), die in autobiografisch gefärbten Geschichten von sich selbst als Mutter zweier Kinder und ihrem Haushalt erzählte.

1971-1997

Garos zweite Entwicklungsphase war von einem Patchwork verschiedener Zeichnerpersönlichkeiten geprägt. Im Juli 1971 erschien die letzte Folge von "Kamui-den", und das Ende dieser Langserie, die auf 5'947 Seiten angewachsen war, fiel mit einem grundlegenden Wandel zusammen: Die 1960er Jahre mit ihren utopischen Hoffnungen, politischen Gegenbewegungen und künstlerischen Avantgarde-Provokationen waren vorbei. Das spiegelte sich auch in Garo wider, z.B. in "Boro boro boro" ("Zerrissen", September 1971 - Juni 1972) von Kusunoki Shohei oder "Yojohan no monogatari "("Geschichten auf viereinhalb Tatami", August 1971- April 1972) von Nagashima Shinji (*1936). Neue Autoren wie Abe Shinichi, Suzuki Oji und Furukawa Masuzo entwarfen Selbstbilder, in denen sich die allgemeine Ratlosigkeit widerspiegelte. Tatsumi Yoshihiro, einer der Begründer des Gekiga, schilderte in Kurzgeschichten wie "Otoko ippatsu" ("Ein Mann, ein Schuss", 1972 - deutsche Veröffentlichung hier) mit einem Gespür für menschliche Unzulänglichkeiten das enge, aussichtslose Leben eines Angestellten. Hanawa Kazuichi (*1947) hingegen, eigentlich ein Illustrator, wie sein präziser Strich verrät, reagierte auf den Zeitgeist, indem er erotisch-groteske ("ero-guro") Ausdrucksformen der Vorkriegszeit wieder belebte. In den 1980er Jahren veröffentlichte er dann fantastische Geschichten, die im japanischen Mittelalter spielen (vgl. seine Kurzgeschichte in STRAPAZIN Nr. 54).

Während die Mangamagazine der grossen Verlagshäuser sich in den 1970er-Jahren zunehmend auf alters- und geschlechtsspezifische Zielgruppen ausrichteten und subkulturelle Periodika sich auf bestimmte Genres konzentrierten (z.B. in Gestalt des "Ero-Gekiga"), hielt Garo an seinem Konzept der stilistischen Individualität und Vielfalt fest. Neben Comics wurden auch Artikel zum Thema veröffentlicht, wie beispielsweise eine historiografische Serie zum Gekiga. Darüber hinaus wurde mit Minami Shinbo (*1947) ein Comiczeichner Redakteur - eine für die Mangawelt erstaunliche Grenzüberschreitung. Auf den Seiten des Magazins tauchten nun auch Arbeiten des Fotografen Araki Nobuyoshi oder des Konzeptkünstlers Akasegawa Genpei auf. Letzterer hatte ab August 1970 in der damals populärsten Wochenzeitschrift Asahi Journal eine Serie manga-artiger Parodien auf tagespolitische Ereignisse veröffentlicht. Sein thematisches Spektrum reichte von der Schlacht zwischen aufständischen Studenten und Armee um die Aula der Tokio-Universität bis hin zur Neuauflage des amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrags und die daran geknüpfte "Rückgabe" Okinawas an Japan. Formal zitierte er Grundschullehrbücher der Kriegszeit, nationalistische Symbole, Mythen und Kinderbücher. Als der Staat im März 1971 daran Anstoss nahm und eine Nummer der Zeitschrift einzog, wechselte "Sakura gaho" ("Sakura Illustrated"), wie die Serie hiess, zu Garo. Dort büsste sie jedoch an Wirkungskraft ein, schon weil das alternative Mangamagazin, wenngleich auf seinem später nicht mehr erreichten Höhepunkt, nicht einmal ein Zehntel der Auflagenhöhe erreichte.

Seit Mitte der 1970er-Jahre gingen die Verkäufe zurück. Anhänger des Gekiga konnten mittlerweile zu kommerziellen Mangamagazinen für Jugendliche greifen und dort auch den Zeichnern begegnen, die nach dem Niedergang der Leihbuchhandlungen zunächst nur bei Garo Aufnahme gefunden hatten. Während Big Comic 1991 eine Auflage von 1,5 Mio. Exemplaren erreichte, stagnierte Garo bei 20'000. Auf der anderen Seite des Spektrums entwickelte sich mit der Fanzine-Szene ("dojinshi") eine neuartige Alternative zum kommerziellen Mainstream - 1975 begannen deren Conventions mit dem so genannten "Comic Market" (kurz "Komike" oder "Komiketto"). Diese Amateurproduktionen waren es zwar nicht, auf die sich die seit den 1980er-Jahren zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz des Manga bezog, aber auch ihr Aufschwung verdankte sich wirtschaftlichen Freiräumen, die einer ungeahnten Konsumfreudigkeit Vorschub leisteten. Dank der steigenden Resonanz im Ausland wurde der Manga als leicht konsumierbare Unterhaltungslektüre durch die japanischen Massenmedien ebenso wie durch staatliche Institutionen zum Kulturgut erhoben, das bewahrt und erforscht werden sollte.

Im Januar 1996 verschied Nagai, und im August 1997 verkündete schliesslich ein Zeitungsartikel das Ende des Magazins aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Die Jahre davor waren durch eine gewisse Retrospektivität gekennzeichnet gewesen: Nagai hatte aus seinem Leben als Verleger erzählt, berühmte Autoren waren interviewt und ältere Arbeiten wieder abgedruckt worden. Seirindo hatte ausserdem eine Buchreihe gestartet, an der sich viele Zeichner beteiligten. Doch es gab über die gesamte zweite Phase hinweg auch immer wieder erstaunliche Debüts. Im August 1973 erschien erstmals etwas von Ebisu Yoshikazu (*1947), der besonders 1981/82 durch einige bissig-absurde Arbeiten beeindruckte. Ab September 1981 meldete sich Nemoto Takashi (*1958) mit einem punkigen Stil zu Wort. Hinzu kamen Hisauchi Michio (*1951), Maruo Suehiro (*1956) und Miura Jun (*1958), aber auch Zeichnerinnen wie Kondo Yoko (*1957), die von Gewalt gegen Kinder erzählte, Uchida Shungiku (Debüt 1984) mit ihren unverkrampften Erkundungen weiblicher Sexualität und schliesslich die seit 1993 nicht mehr als Comiczeichnerin tätige Sugiura Hinako (*1958), deren im 18./19. Jahrhundert angesiedelte Alltagsgeschichten aus Edo, dem heutigen Tokio, oft als Pendant zu Shiratos Ninja-Serien bezeichnet worden sind.

Nach 1997: Ende und Anfang

Nach einer halbjährigen Pause erschien Garo ab Januar 1998 wieder, aufgrund der schlechten finanziellen Lage von Seirindo jedoch nur bis September. Ein weiterer Versuch, das Monatsmagazin fortzusetzen, wurde von Januar 2000 bis Juni 2001 unternommen. Ab August 2001 erschien es zweimonatlich, und im Juli 2002 wollte man sogar zu einem vierteljährlichen Rhythmus übergehen, doch es kam nur noch die Sommer-Ausgabe heraus. Mit dem Namen Garo allein liess sich das Magazin nicht mehr retten. 1997 führten Differenzen zwischen den Verlegern zu einem Bruch. Unterstützt von zahlreichen Autoren verliessen einige daraufhin Seirindo und gründeten den Verlag Seirinkogeisha, ein kleines Unternehmen mit sechs Mitarbeitern. Dort erschien im Februar 1998 in einer Auflage von 6'000 Exemplaren die erste Nummer des Magazins Ax. Sein Name, eine Erfindung des Redakteurs Asakawa Mitsuhiro, ist sowohl eine Anspielung auf das Beil (engl. "axe)" - mit dem Hintergedanken, dass man selbst mit einem kleinen Beil grosse Bäume fällen, also mit kleinen Dingen grosse Wirkungen erzielen kann - als auch auf die Achse (engl. "axis"), den Angelpunkt einer Vielzahl von Ausdrucksformen, als den sich das Magazin versteht. Die Verlagspolitik orientiert sich an der von Nagai: etablierten Künstlern einen Raum uneingeschränkter Kreativität und Anfängern ein Sprungbrett zu bieten. So lautet die Devise von Ax, Comics als ein unabhängiges, offenes und experimentelles Medium zu fördern. Viele der ehemaligen Garo-Zeichner - darunter Tatsumi Yoshihiro, Tsuge Yoshiharu, Hanawa Kazuichi, Maruo Suehiro, Furuya Usamaru - unterstützen nun das Nachfolgemagazin.

Anders als Garo erscheint Ax im kleineren A5-Format und nur alle zwei Monate. Jede Ausgabe enthält neben Comics verschiedener Zeichner auch ein Spezialdossier über einen Künstler. Dabei beschränkt man sich allerdings nicht mehr auf den eigenen Sprachraum, sondern hat bislang beispielsweise auch Stˇphane Blanquet, David Mazzucchelli und Jim Woodring vorgestellt und, nicht zu vergessen, den Underground-Manhwha Südkoreas. Doch Ax beschränkt sich nicht auf den Bereich des Aktuellen. Es widmet sich zum einen der Geschichte, indem es historiografische Abhandlungen über alternative japanische Comics sowie ausgewählte ältere Werke abdruckt. Zum anderen arbeitet das Magazin an der Zukunft: Um neue Talente zu entdecken, schreibt es jährlich zwei Preise aus, einen für Nachwuchszeichner/innen und einen zweiten für junge Comickritiker. Neben dem Magazin publiziert der Verlag Seirinkogeisha Comics im Buchformat und gelegentlich auch Kunstbände. Garo hatte seit Mitte der 1960er-Jahre kreative Zeichner entdeckt, dem Comic neue Leserkreise erschlossen und zu seiner Anerkennung als Kunstform beigetragen. Das Ende des legendären Magazins bedeutet nicht, dass solche Aufgaben sich erledigt hätten. In Zeiten, da man Manga schnell auf die global erfolgreiche, weil leicht konsumierbare Ware reduziert, versucht Ax, einen Raum für die Differenz freizuhalten und damit eine unspektakuläre Art der Globalisierung zu erproben.

(Aus dem Französischen von Kai Wilksen; deutsche Bearbeitung: Jaqueline Berndt und Heike Drescher)



Mizuki Shigeru, "Hakaba no kitaro", Garo 1966




Shirato Sanpei, Coverausschnitt, Garo September 1968



Sasaki Maki, "Umibe no machi", Garo September 1968



Tatsumi Yoshihiro



Tsuge Tadao



Hayashi Seiichi



Ebisu Yoshikazu



Abe Shinichi

Weiterführende Literatur:

The Japan Foundation (Hrsg.): "Manga - Die Welt der japanischen Comics", (Ausstellungskatalog, Japanisches Kulturinstitut Köln), 2000

Stephan Köhn: "Stiefkinder in der Nachkriegsgeschichte des japanischen Manga: die Dramatischen Bilder" (Gekiga), in: Stephan Köhn & Martina Schönbein (Hrsg.): "Facetten der japanischen Populär- und Medienkultur 1", Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 153-193

Bill Randall: "Hey Kids! Gekiga! Part One", in: The Comics Journal, No. 244, Jun. 2002, S. 91-95; Bill Randall: "Hey Kids! Gekiga! Part Two", in: The Comics Journal, No. 245, Aug. 2002, S. 107-111

Irmela Hijiya-Kirschnereit: "Selbstentblössungsrituale. Zur Theorie und Geschichte der autobiographischen Gattung 'Shishosetsu' in der modernen japanischen Literatur", Wiesbaden 1981

Reiko Tomii: Akasegawa Genpei's "The Sakura Illustrated: When the Good Old Man Makes a Dead Tree Flower and the Bad Old Man Throws a Fire Bomb", in: International Journal of Comic Art, vol. 4, no. 2, Fall 2002, S. 209-223