Magazin

Midori - Das Kamelienmädchen

Zwischen all den Kulleraugen trifft einen die Brutalität umso härter: Sicherlich ist Maruo Suehiro auf dem Mangamarkt eine Ausnahmeerscheinung, auch wenn es dort neben den vielen mainstreamigen Veröffentlichungen sicherlich noch viel Andersartiges und Abwegiges zu entdecken gibt. Aber Maruo setzt auf diesem Gebiet tatsächlich Massstäbe. Dass bei ihm eine düstere Stimmung herrscht, zeigt sich in voller Pracht und Farbe auf einigen Plattencover des Free-Jazz- und Noise-Musikers John Zorn. Aber nicht nur in Einzelbildern beherrscht Maruo den "Eroguro"-Stil, eine groteske Mischung aus Erotik und Gewalt. In seinen Manga zeigt er ebenso Gespür für Spannungsbögen, raffinierte Wendungen und andere narrative Feinheiten. Zuletzt konnte man sich davon in "Der lachende Vampir" überzeugen, jetzt legt Reprodukt einen weiteren Band des Zeichners vor. "Midori - Das Kamelienmädchen" erzählt die Geschichte der 12-jährigen Midori, die ohne ihre Eltern gezwungen ist, sich in einer umherziehenden "Freakshow" zu verdingen. Dort wird sie nicht nur als Dienerin ausgenutzt, sondern auch misshandelt und vergewaltigt. Als der "fabelhafte" Masamitsu zu der Truppe stösst, verliebt er sich in das Mädchen und schützt sie vor den anderen Schaustellern. Als sich Midori ihm aber verweigert, zeigt Masamitsu ein anderes Gesicht und spielt seine ganze Macht ausÉ Maruos in detailreichen, historisch anmutenden Zeichnungen gestaltete Geschichte ist gespickt mit Zitaten - von Alexandre Dumas' Kameliendame zu Tod Brownings Horrorfilmklassiker "Freaks" - und fährt neben auffallend gefühlvollen Elementen der Liebesgeschichte natürlich auch wieder, wenn auch wesentlich harmloser als bei "Der lachende Vampir", reichlich Sex und Gewalt auf. Beides ist stark überzeichnet und ins Surreale gewendet und ausserdem mit viel Ironie (z.B. auf Klischees harmloserer Manga) versetzt. Eine für die japanische Subkultur sehr typische, tollwütige Raserei, die gegen die stark autoritäre Gesellschaftsordnung Japans Sturm rennt mit einem ordentlich abgründigen, aber auch realitätsorientierten Weltbild voller Armut, Leid und Schmerz. Dass man beim Lesen darin nicht untergeht, verdankt man Maruos Humor - auch wenn der natürlich tiefschwarz ist.

Christian Meyer



Maruo Suehiro: "Midori - Das Kamelienmädchen". Reprodukt Verlag, Berlin 2005, Klappenbroschur, ein- und zweifarbig, 160 Seiten, Euro 15.- / sFr. 26.90 Empfohlen ab 18 Jahre!

Lexikon der Comics

1998 erschien mit dem Beitrag "Comics in Japan" der erste Artikel zum Thema ostasiatische Comics im "Lexikon der Comics", der seit 1991 erscheinenden Loseblattsammlung. Unter der Regie von Jaqueline Berndt, die den eröffnenden Text schrieb und die redaktionelle Koordinierung der folgenden Beiträge übernahm, folgten bis 2005 ein gutes Dutzend Artikel, weitere erscheinen in unregelmässigen Abständen. Als das "Lexikon der Comics" mit dem Abdruck dieser Artikel begann, war die Manga-Welle, die den deutschen Comic-Buchhandel im wahrsten Sinne des Wortes überfluten sollte, aus Amerika gerade erst über den Atlantik geschwappt. Fundierte Texte über Manga waren in deutscher Sprache kaum verfügbar. Das Feuilleton begann zwar, sich mit dem damals noch neuen Phänomen auseinanderzusetzen, die wenigen Comic-Fachzeitschriften brachten erste Beiträge. Fast alle Autoren hatten aber mit der fundamentalen Sprachbarriere zu kämpfen, die nicht nur den Zugang zu allen noch nicht übersetzten Werken verstellte, sondern darüber hinaus den Zugriff auf die japanisch-sprachige Sekundärliteratur unmöglich machte - soweit diese überhaupt verfügbar war. Hier leisten die Mitarbeiter des Lexikons bis heute Pionierarbeit, denn die Artikel stammen ausnahmslos aus der Feder von Personen, die der japanischen Sprache mächtig sind und Zugriff auf umfassende Manga-Archive und die relevante Forschungsliteratur haben. So konnten - in einigen Fällen sogar in Zusammenarbeit mit den porträtierten Künstlern und deren Verlagen - Artikel über Personen, Werke und spezielle Themen wie den Shojo-Manga oder Ladies' Comics entstehen, die mit Beiträgen über Comics in der VR China, Korea und Taiwan inzwischen sogar über den rein japanischen Manga hinausweisen. Abgerundet wird jeder Beitrag durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis und eine nach Vollständigkeit strebende Bibliografie. Unter www.corian-verlag.de gibt es weitere Infos zum Werk.

Marcus Czerwionka



Marcus Czerwionka (Hrsg.): "Lexikon der Comics". Corian Verlag, Meitingen 1991ff , Loseblattsammlung (Stand August 2005: Grundwerk inkl. 55. Ergänzungslieferung, ca. 10'200 Seiten in 9 Ordnern). Euro 498.- / sFr. 757.- (Ratenzahlung in Absprache mit dem Verlag möglich. Kontakt: Corian Verlag, Bernhard-Monath-Strasse 28, 86405 Meitingen)

Helter Skelter

Der Carlsen Verlag bringt derzeit einige Manga heraus, die in das bislang unterrepräsentierte Mittelfeld zwischen leicht konsumierbarer Massenware und anspruchsvollem Underground gehören. Einer dieser Titel ist "Helter Skelter", die gut 300-seitige Geschichte des Supermodels Ririko. Fast nichts ist echt an diesem Meisterwerk der Schönheitschirurgie, doch die Risse in der Fassade - aufgehende Narben, Haarausfall, nächtliche Brechserien über der Toilettenschüssel - bleiben der öffentlichkeit verborgen. Sie zeigen sich nur der Heldin und ihrem Stab und mit ihnen der Leserin. Gerade die Heftigkeit, mit der Ririkos Körper immer wieder in die ums Visuelle zentrierte Welt des schönen Scheins einbricht und sich gegen die Blicke sperrt, deren Forderungen er eigentlich nachkommen soll, sein "Drunter und Drüber" also, macht aus "Helter Skelter" etwas anderes als ein konsum- oder medienkritisches Moralstück. Wie der Manga versucht auch seine Protagonistin, Identität zwischen Inszeniertwerden und Selbstinszenierung zu entwickeln, statt sich an Gegensätze wie die von schön und hässlich oder echt und unecht zu klammern, an denen man nur zerbrechen kann. Ririko findet schliesslich in der Parodie zu sich - und akzeptiert damit gewissermassen auch, dass Grauraster nicht deckungsgleich mit Körperkonturen sein müssen. Letzteres ist neben bildlosen Panels voller Monologzeilen und einer betont flächigen Grafik ein stilistisches Charakteristikum der 1963 geborenen Okazaki Kyoko, die Anfang der 1990er Jahre einen neuen, alltagsnahen Manga für Frauen etablierte und Zeichnerinnen wie Anno Moyoco und Sakurazawa Erica nach sich ziehen sollte. Im Mai 1996 wurde Okazaki von einem Betrunkenen angefahren und fiel ins Koma. Im Vormonat hatte sie die erste Staffel von "Helter Skelter" in der Monatszeitschrift Feel Young beendet. Als die Buchausgabe 2003 schliesslich erschien, war sie zwar wieder erwacht, aber noch nicht zu einer so gründlichen überarbeitung imstande, wie man es vor dem Unfall von ihr kannte. Was von ihr nun als erstes Werk in einer westlichen Sprache erscheint, ist traurigerweise ihr unfreiwilliges Vermächtnis.

Jaqueline Berndt



Okazaki Kyoko: "Helter Skelter". Carlsen Verlag, Hamburg 2005, sw/f, 328 S., Euro 14.90 / sFr. 26.80

Manga Design

Ein Nachschlagewerk zum japanischen Comic für all diejenigen, die sich nicht auf japanisch mit den nötigen Informationen versorgen können, war überfällig. In dieser Hinsicht füllt das Handbuch des Taschen-Verlags mit seinen fast 600 Seiten (+ DVD) eine Lücke. Es stellt 135 Zeichner/innen vor (einschlie§lich eines Teams wie Clamp) und berücksichtigt dabei zu einem knappen Drittel Frauen. Jedem Eintrag sind durchschnittlich vier Seiten gewidmet. Mehr als die Hälfte des Platzes gehört Bildbeispielen, erfreulich oft in Form von Doppelseiten (Vorsicht aber bei Shirow Masamune: Das erste Bild ist nicht von ihm, sondern offenbar von Shirato Sanpei). Insgesamt lässt sich ein visueller Eindruck von Mangaka gewinnen, die man bislang nur dem Namen nach kannte. Von hohem Gebrauchswert sind auch die Angaben zum Namen - sowohl in sinojapanischen Schriftzeichen als auch in Transkription -, zu Geburtsjahr, Debut und den bekanntesten Werken. Leider gibt es im Inhaltsverzeichnis viele Schreibfehler (z.B. Tsuge Yoshiharo statt korrekt Yoshiharu), Vornamen erscheinen an der Stelle von Nachnamen (z.B. Moto, Hagio statt korrekt Hagio, Moto), Vokallängen werden entweder gar nicht oder uneinheitlich gekennzeichnet. Im übrigen wäre es sinnvoller gewesen, zu den Werken auch noch das Erscheinungsjahr und den gerade beim Manga so symptomatischen Erstveröffentlichungsort anzuführen anstatt Auszeichnungen aufzulisten, die nur in Japan von Belang sind. Auch den kurzen Erläuterungstexten (auf Japanisch, Englisch, Französisch und Deutsch) merkt man an, dass sie im japanischen Kontext verbleiben. Der deutsche Herausgeber wollte offenbar "Authentizität" gewährleisten. Doch eine Zusammenarbeit mit nichtjapanischen Comicexperten hätte dem Projekt gut getan. Dann wären nicht nur die Texte aussagekräftiger, sondern auch Zeichner wie Nakazawa Keiji ("Barfuss durch Hiroshima") oder der im ausländischen Comic-Diskurs stärker als in Japan präsente Gekiga-Begründer Tatsumi Yoshihiro in die Auswahl miteinbezogen worden. Und man hätte vielleicht sogar das Glanzpapier vermieden.

Jaqueline Berndt



Amano Masanao & Julius Wiedemann (Hrsg.): "Manga Design". Taschen Verlag, Köln 2004, Flexicover + DVD, farbig, 576 S., Euro 29.99 / sFr. 50.-

Im Reich der Missverständnisse

In seinem Essay "Wrong about Japan" unternimmt der Schriftsteller Peter Carey eine Expedition in die Welt der Manga und Anime. Charley ist zwölf Jahre alt, und als sein Vater eine gemeinsame Reise nach Tokio vorschlägt, hält sich seine Begeisterung erst einmal in Grenzen: "Nicht wenn ich das echte Japan sehen muss." Charley, der jeden Samstag in den Comicläden der Lower East Side nach neuen Folgen von "Akira" oder "Mobile Suit Gundam" sucht, hat seine eigenen Vorstellungen von einer Expedition in das Land der Manga. "Keine Tempel, keine Museen", erklärt er kategorisch, und glücklicherweise fällt es seinem Vater nicht schwer, sich auf diese Bedingungen einzulassen. Der Schriftsteller Peter Carey ist genau wie sein Sohn fasziniert von der fremden Welt der japanischen Bildergeschichten mit ihren hochgerüsteten Robotern und rehäugigen Teenagern. Also machen sie sich gemeinsam auf, um herauszufinden, "was dieses ganze merkwürdige Zeug bedeutet". "Wrong about Japan" heisst das Buch, das im Anschluss an diese Reise entstanden ist. Der Booker-Preisträger Peter Carey, der zuletzt den Roman "Mein Leben als Fälschung" veröffentlichte, beschäftigt sich nun zunächst einmal mit der Entstehungsgeschichte der Manga. Die japanische Form des Comics steht in der Tradition des "Kamishibai", des "Papiertheaters", das in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts äusserst populär war: Märchenerzähler fuhren von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt und illustrierten ihre Geschichten mit Bildern, die auf grosse Tafeln gezeichnet waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen die ersten Bildergeschichten in Magazinen für Kinder, und Ende der Sechzigerjahre entstanden daraus die Gekiga, wörtlich "Bilderdramen", die nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch junge Erwachsene ansprachen. Themen wie Sex, Gewalt und Politik spiegelten den Geist der Zeit, und die Studenten, die sich damals begierig auf das neue Medium stürzten, blieben den Bildergeschichten bis heute treu: Während Comics in den USA und in Westeuropa als Unterhaltungsform für Kinder gelten, werden Manga in Japan auch von Fünfzig- oder Sechzigjährigen gelesen. Peter Carey und sein Sohn Charley besuchen einige der bekanntesten Zeichner und Regisseure, darunter sogar den legendären Miyazaki Hayao (dessen letzter grosser Animationsfilm "Das wandelnde Schloss" erst vor einigen Wochen in den deutschen Kinos gelaufen ist). Immer wieder erkundigen sie sich bei diesen Treffen nach den verborgenen Bedeutungsebenen in den Manga und Anime, die ihnen als "Gaijin", als Fremde also, doch sicherlich entgangen seien. Leider werden sie fast immer enttäuscht. So muss Peter Carey zum Beispiel seine auf den ersten Blick recht originelle These, dass die bemannten Kampfroboter in der "Mobile Suit Gundam" ein Symbol für die Entfremdung der menschlichen Individuen sind, recht schnell wieder aufgeben. "So ist es gar nicht", erklärt ihm eine japanische Comic-Spezialistin mit freundlichem Lächeln, "Pilot in einem Mobile Suit zu sein, ist genauso, wie sich im Mutterleib zu befinden." Das ist nur eins von vielen Missverständnissen, die sich durch dieses Buch ziehen. Peter Carey ist ständig "wrong about Japan" und muss einsehen, dass er mit seinen sorgfältig angelesenen Hintergrundinformationen nicht weit kommt. "Es ist besser, nichts zu wissen, als wenig zu wissen." Und das gilt nicht nur für die Recherche in Sachen Manga, sondern auch für die Exkurse in die traditionelle japanische Kultur oder die wechselvolle Geschichte der amerikanisch-japanischen Beziehungen mitsamt der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs - mit der sich im übrigen auch ein Klassiker des Animationsfilm befasst: "Die letzten Glühwürmchen" aus Miyazaki Hayaos Ghibli-Studio erzählt die Geschichte von der grausamen Bombardierung Tokios im März des Jahres 1945. Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass ein japanischer Zuschauer in diesem Zeichentrickfilm etwas anderes sieht als jemand, der wie Peter Carey in Australien geboren wurde und heute in New York lebt. Worin genau die unterschiedlichen Betrachtungsweisen liegen, ist allerdings nicht ganz so einfach festzustellen, und so verwandelt sich Careys literarische Reisebeschreibung nach und nach in einen klugen Essay über die grundsätzlichen Schwierigkeiten beim überschreiten kultureller Grenzen: Im Zeitalter der globalen Popkultur, deren vermeintlich universelle Vernunft sich durch Schallplatten, Filme und Comics in den letzten fünfzig Jahren mit rasender Geschwindigkeit über den ganzen Erdball ausgebreitet hat, ist das Spiel der Differenzen nicht einfacher, sondern eher komplizierter geworden. Der zwölfjährige Charley hat das natürlich längst verstanden. Auf jeden Fall kann er nur müde lächeln, als sein Vater sich weigert, in Tokio ausgerechnet in einer Filiale der amerikanischen Coffee-Shop-Kette Starbucks zu frühstücken. "Das hier", fasst Charley mit einem einzigen Satz das System der feinen Unterschiede im 21. Jahrhundert zusammen, "ist das japanische Starbucks."

Kolja Mensing



Peter Carey: "Wrong about Japan - Eine Tokioreise". Aus dem Englischen von Eva Kemper, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, Hardcover, 141 S., Euro 17.90 / sFr. 31.70

Hitler als Comicfigur

Vergangenheitsbewältigung in Mangaform schien in Deutschland lange Zeit nicht möglich. Erst jetzt (Nov. 2005) wird zwanzig Jahre nach dem japanischen Original die deutsche übersetzung des Manga "Adolf" ("Adorufu ni tsugu", wörtlich: "Aufruf an Adolf") im Carlsen Verlag erscheinen. In "Adolf" verbindet Tezuka Osamu (1928 - 1989), der in Japan wohl bekannteste Manga-Autor, eine frei erfundene, facettenreiche und spannungsgeladene Handlung mit einem historischen Panorama von Japan und Deutschland in den 1930er-Jahren, dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit. Nicht nur seine Behandlung eines historischen Themas, auch sein realistischer Zeichenstil und der relativ statische Panelaufbau unterscheiden "Adolf" von den derzeit populären Manga in übersetzungsausgaben. Doch gerade dieser etwas archaisch wirkende Duktus hat durchaus seine Reize. Insbesondere der erste Band, wo Tezuka Bilder aus Leni Riefenstahls Filmen "Olympia" und "Triumph des Willens" aufnimmt, zeigt beispielhaft seine Technik, historische Realität darzustellen und zugleich ironisch zu konterkarieren. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen drei Figuren mit dem Namen Adolf: Die beiden fiktionalen Figuren Adolf Kamil und Adolf Kaufmann - beide in der japanischen Stadt Kobe geboren, der eine als Sohn einer jüdischen Immigrantenfamilie, der andere als Sohn eines deutschen Diplomaten und seiner japanischen Frau - und Adolf Hitler. Die Namensgleichheit verweist auf ähnlichkeiten im Charakter: Adolf Kaufmann entwickelt sich im Verlauf der Story zu einem brutalen Nazi; und der letzte Band schildert Adolf Kamils schonungsloses Vorgehen gegen die Palästinenser im neu gegründeten Staat Israel. Diese moralische Gleichung ist ebenso einfach wie problematisch, und dürfte wohl nicht für jeden Leser aufgehen. Auch in Japan war die Mischung aus Unterhaltung, Moral und Geschichte kein durchschlagender Erfolg. Im Oeuvre von Tezuka gehört "Adolf" zu den weniger geschätzten Werken, obwohl der Autor selbst in diesem Manga eines seiner wichtigsten sah. Trotzdem bzw. gerade deshalb ist zu hoffen, dass "Adolf" mit seinem ganz eigenen (um nicht zu sagen: eigenwilligen) Zugang zur japanisch-deutschen Geschichte im derzeitigen Manga-Boom als weitere Facette der vielfältigen japanischen Manga-Kultur seinen Weg zum deutschsprachigen Publikum findet.

Bettina Gildenhard



Osamu Tezuka: "Adolf". Carlsen Verlag, Hamburg 2005, Band 1: "Mord in Berlin". Kleinformat, sw, 272 Seiten, Euro 12.- / sFr. 21.90, Band 2: "Das geheime Dokument". Kleinformat, sw, 272 Seiten, Euro 12.- / sFr. 21.90

Ziel verfehlt

Wie soll man die Geschichte japanischer Comics zusammenfassen? Frederik L. Schodt hat es vorgemacht und 1983 mit "Manga! Manga! The World of Japanese Comics" eine kluge und aufschlussreiche Einführung zu diesem umfangreichen und komplexen Thema veröffentlicht. 20 Jahre nach Schodt hat es auch der Engländer Paul Gravett versucht. Dabei war es ihm wichtig, auch aktuelle Entwicklungen und Titel einzubeziehen. Doch trotz seines Anspruchs auf Präzision hat Gravett sein Ziel verfehlt. Warum? Sein Buch "Manga - Sixty Years of Japanese Comics" besteht zu mehr als zwei Dritteln aus Abbildungen, die durch das ungewöhnliche Format (28 x 24 cm) hervorragend zur Geltung kommen. So wird dem Leser ein visueller Parcours durch die Entwicklungsgeschichte der Manga geboten. Die Idee ist gut. Das Buch hätte ein klar strukturierter Katalog werden können. Doch auch wenn der Autor den Abbildungen die tragende Rolle zukommen lässt, hätte er schon genau recherchieren müssen, ob seine Bildbeispiele auch zutreffend sind. Stattdessen liest man Dinge, die man schon weiss - noch dazu oft generalisiert und falsch bebildert. Auf Seite 22 etwa wird eine Szene aus Tagawa Suihos "Tako no hacchan" (etwa: "Die kleine Krake Achtfuss") als Beispiel für den japanischen Patriotismus zitiert, denn alle Tiere tragen Marineuniformen. Doch in diesem Comic geht es gar nicht darum, die Tintenfische in den Krieg zu schicken, man will sie einfach nur nicht völlig nackt auf die Menschheit loslassen! Sicher findet man gerade zu alten Veröffentlichungen schwer Zugang, vor allem, wenn man der japanischen Sprache nicht mächtig ist. Aber auch hier hätten sich Fehler vermeiden lassen. Auf Seite 42 heisst es beispielsweise, der Name Garo bedeute auch "Kunstgalerie", doch das ist schlichtweg falsch. Hier wurden die für die japanische Sprache typischen Silbenlängen nicht beachtet und aus "garo" schnell "garou" gemacht, was tatsächlich "Kunstgalerie" heissen kann. Der Punkt ist der: Gravett wollte einen historischen Abriss schreiben, ohne die Quellen zu beherrschen, und ist am Ziel vorbeigeschossen. Denn sein Buch ist nicht ausführlich genug und zudem ungenau. Mit der Sorgfalt, die er in die Auswahl der Bilder investiert hat, hätte er vielmehr ein Buch realisieren sollen, das seine Leidenschaft für Comics mit weniger verallgemeinernden, dafür persönlichen und sensiblen Texten zum Ausdruck bringt. Schade!

Béatrice Maréchal (übersetzung Heike Drescher)



Paul Gravett: "Manga - Sixty Years of Japanese Comics". Laurence King Publishing, London 2004, Paperback, vierfarbig, 176 S., £ 19.95 / Euro 23.50

Fumetto 06: "Comic-Workshop" mit Actus (Tragicus), Israel

Israel ist in der Comic-Landschaft nach wie vor weitgehend ein weisser Fleck. Im Land selber hat internationale Kommerzware einen schweren Stand, die Eigenproduktion erschöpft sich vielfach im Kopieren ausländischer Mainstream-Muster. Und doch beginnt das Comic-Eigengewächs langsam zu blühen. Und auch dies: Während die israelische Comic-Szene grundsätzlich von einer kleinen aktiven Comic-Gemeinde bestritten wird, gewinnt sie dank den Bemühungen Einzelner zusehends an internationaler Beachtung, sodass hoffentlich ein Ausbruch aus der relativen Abgeschottetheit möglich wird. Zu verdanken sind die Entwicklungen hin zu einer internationalen Beachtung des israelischen Comic-Schaffens nicht zuletzt dem Engagement von "Actus Tragicus" aus Tel Aviv. Unter diesem Namen (nach einer Bach-Kantate) wurde die Gruppe 1995 gegründet; mittlerweile nennt sie sich nur noch "Actus". Den festen Kern bilden drei Frauen und zwei Männer, die allesamt zu den renommierten Illustratoren, Comic-Schaffenden und Art-Directors in Israel zählen und notabene auch Dozierende an Kunsthochschulen in Tel Aviv und Jerusalem sind: Yirmi Pinkus, Rutu Modan, Mira Friedmann, Itzik Rennert und Batia Kolton verfolgen als Comic-Schaffende in der Gruppe je ihre individuellen ästhetischen Positionen. Was sie - heute alle zwischen 38 und 53 Jahre alt - verbindet, ist ihr Anspruch, unter dem Label "Actus" auf hohem "state of the art"-Level verlegerisch tätig zu sein. Kommerzielles Kalkül ist ihnen beim Edieren wie beim Produzieren fremd. Was sie hochhalten, ist der freie künstlerische Ausdruck im Medium Comic. So vertreten alle fünf denn auch den künstlerisch orientierten Comic, der sich im Laufe der nun auch schon 10-jährigen Actus-Geschichte von mehr experimentellen Formen zum Literarisch-Erzählerischen - dies aber in avancierter Gestalt - gewandelt hat. In Luzern, wo der Workshop mit Actus-Leuten im Rahmen von Fumetto 06 eingerichtet wird, sind die Comic-Schaffenden aus Tel Aviv keine Unbekannten. Actus Tragicus war bei der Festivalausgabe 1998 bereits zu Gast mit einer schönen Werkschau auf dem Schiff MS Waldstätter. Inzwischen publizieren Mitglieder vermehrt ausserhalb Israels, sei das in Frankreich, Deutschland, Kanada oder natürlich auch in der Schweiz (siehe Strapazin-Schwerpunkt der Nummer 79, Juni 2005).

Comic-Workshop: Montag, 3. bis Freitag, 7. April 2006, Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern (HGKL) KursteilnehmerInnen, die nicht an einer schweizerischen Gestalterhochschule immatrikuliert sind, bezahlen eine Kursgebühr von 300 Franken. Dem Bewerbungsschreiben sind ein paar Fotokopien von eigenen Arbeiten beizulegen.

Bewerbungen bitte bis 10. Februar 2006 an: HGK Luzern, Sekretariat, Stichwort Comic-Workshop, Sentimattstrasse 1, 6003 Luzern Für Fragen und weitere Informationen: nspengler@hgk.fhz.ch

Fumetto Comic-Wettbewerb 2006 zum Thema Musik
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Der internationale Comic-Wettbewerb 2006 von Fumetto (1. - 9. April 2006) ist zum Thema "Musik" ausgeschrieben worden. Musik und Comics sind beides wichtige Teile der Populärkultur und in unserem Leben allgegenwärtig. Mit Musik verbindet jeder spezielle Emotionen oder bringt damit ganze Zeitabschnitte seines Lebens in Verbindung, schöne und traurige, lustige und verhasste. Wer erinnert sich nicht gerne an sein erstes Konzert oder den Kauf der ersten Schallplatte. Ein riesiges Feld für Inspiration, Leidenschaft und Erlebnisse aller Art. Comics zum unerschöpflichen Thema sind bis 20. Januar 2006 bei Fumetto einzureichen.

Wettbewerbsbedingungen unter: www.fumetto.ch