Shiriagari Kotobuki

In Europa ist Shiriagari, geboren 1958, noch kaum bekannt (was sich durch Angoulême 2006 ändern mag); in Japan hat er sich als äusserst vielseitiger Zeichner einen Namen gemacht, vor allem mit der Serie "Yaji Kita in Deep" (1998-2003, 8 Bände bei Enterbrain). Die Titelhelden, zwei herrenlose Samurai, die auf der Pazifikseite Japans zum Ise-Schrein wandern und dabei in seltsame Situationen geraten, entstammen einem berühmten Schelmenroman des frühen 19. Jahrhunderts. Doch viel mehr haben Vorlage und Manga nicht gemein, denn bei Shiriagari wird der alte Pilgerweg zum gestrichelten Highway der Träume: Da beten Dorfbewohner einen Holländer mit Superman-Logo als Götzen an, warten Geister an einer Ampel auf Grün, verlieren die Hauptfiguren sich immer wieder in den Spiralen einer bodenlosen Welt. Die Serie, die ab 1997 in dem subkulturellen Monatsmagazin Comic Beam erstveröffentlicht wurde, bekam zum Erstaunen vieler 2001 von der renommierten Tageszeitung Asahi Shinbun den Tezuka-Osamu-Kulturpreis verliehen. Tezukas Witwe hielt damals die Laudatio auf alle Preisträger (Nummer 1 war ihre Schwiegertochter Okano Reiko), aber bei der Nennung des Zweitplatzierten stockte sie. Dessen Name bedeutet nämlich in etwa "Fortunas Hinternhoch" (jap. "shiri": Hintern). Eigentlich soll er nicht pikieren, sondern optimistisch stimmen ("shiriagari" bedeutet auch: Aufwärtstrend), auf jeden Fall aber andeuten, dass Glückskinder nur diejenigen sind, die die Dinge lachend zu verkehren verstehen und zwar in neue Fragen statt alte Antworten.

Der Zeichner, der mit bürgerlichem Namen Mochizuki Toshiki heisst, studierte an der Tama-Kunsthochschule in Tokio Graphic Design und arbeitete anschliessend von 1981 bis 1994 in der Werbeabteilung von Kirin Beer. In seiner Freizeit wurde er Shiriagari Kotobuki. Bereits 1985 erschien bei Hakusensha mit "Ereki na haru" ("Elektrischer Frühling") sein erster Sammelband. Dieser fiel zum einen durch witzige Geschichten um Anzugmenschen und Bürofrauen auf, zum anderen durch Parodien auf Jugendmanga (u.a. auf Shirato Sanpeis Ninja-Werke). Stilistisch galt er als "hetauma", denn er zielte auf einen mit technischem wie intellektuellem Geschick bewirkten Eindruck von Ungeschicktheit (jap. "heta": unbeholfen; "uma(i)": exzellent). In gewisser Weise dem europäischen Punk nahe, tauchte diese Kategorie auch im Musikbereich auf. Beim Manga bezeichnete sie Kritzeleien, die sich gleichermassen gegen das soziale Sechzigerjahre-Pathos des Gekiga wie gegen die Glätte der Kulturindustrie sperrten. Dass gerade in der Perfektion des Ökonomismus der Untergang zu suchen sei, thematisiert Shiriagari noch Jahre später in "Haikai rojin Don Quichote" ("Stadtstreicher Don Quichote", 2001 bei Asahi Shinbunsha). Ein verwirrter Alter zieht durch Tokio und kämpft mit seinem Speer gegen Egoismus, Schikanierung und Besitzgier. Einst ein gefürchteter Firmenboss, attackiert er nun vergebens die Riesenmonitore in Shibuya Ð ein Bündel heftig gezeichneter Striche gegen eine mit dem Computer eingearbeitete Fotografie. Aber von Shiriagari gibt es auch Manga, die auf eine ruhigere Art nachdenklich stimmen. So handelt "Hinshi no esseiisto" ("Der sterbende Essayist", Zeitschriftenserie ab 1993) von einem Autor, der auf seiner Suche nach einem Essay in verschiedenen Episoden dem Sterben begegnet, allerdings ohne durch vordergründige Tragik den Blick des Lesers zu trüben. Für die 2002 bei Soft Magic erschienene Buchausgabe liess Shiriagari die Seiten so bedrucken, als wäre nachlässigerweise etwas verrutscht. Seither experimentiert er des Öfteren mit dem Buch als Objekt. Dazu gehört auch die Wiederentdeckung von Pinsel und Tusche, durch die die Bilder noch stärker handgemacht und auch "japanischer" wirken, z.B. in den 24 Kapiteln von "Futago no oyaji" (etwa: "Das doppelte Onkelchen", 1998-2001 serialisiert in Ax, 2002 als Buch im Schuber bei Seirinkogeisha), wo zwei mittelalte, halbkahle Nackte tief in den Bergen über Zeit und Autonomie, Gott und Demokratie philosophieren. Shiriagaris Spektrum umfasst darüber hinaus den täglichen Zeitungsstrip, Comic-Kolumnen in diversen Zeitschriften sowie Installationskunst in Galerien.

Jaqueline Berndt



Shiriagari Kotobuki, "Yaji Kita in Deep"