Magazin
Schwebend

Kiriko Nananan, die 1993 mit "Hole!" im Underground-Mangamagazin Garo debütierte, hat schon diverse Alben veröffentlicht. Im deutschsprachigen Raum ist sie allerdings noch relativ unbekannt. Zu eigentümlich ist ihr Stil, als dass sie im Mangastrom der grossen Verlage mit an die Oberfläche gespült worden wäre. Ihre Geschichte "Blue", die im Januar 2005 auch in der Mangafolge der "Comix"-Reihe auf Arte vorgestellt wurde, ist nun zumindest in der englischen Version unkompliziert über Atomax Merchandising erhältlich, neben Werken von Jiro Taniguchi, Kan Takahama oder Kazuichi Hanawa. Schon beim ersten Durchblättern wird klar, warum sich "Blue" nicht in die zahlreichen Teenie-Serien der Grossverlage einordnen lässt, obschon sich der Band thematisch durchaus in einem populären Genre, dem Shojo-Ai-Manga, platzieren lässt. Die Panels sind nie dynamisch, sondern im Gegenteil sehr statisch gehalten. Ebenso wie die klare Einrahmung der Panels sind alle Linien der Zeichnungen sehr ruhig und klar. Der ruhige Strich wird durch die minimalistische Gestaltung der Zeichnungen noch weiter betont. Nananan konzentriert sich vollkommen auf die beiden Protagonistinnen ihrer Handlung, die Hintergründe sind nur rudimentär illustriert. Oft ist hinter den Köpfen der Figuren lediglich eine weisse Fläche zu sehen, wodurch die beiden Mädchen, die sich in der Abschlussklasse ihrer Kleinstadt zunächst miteinander anfreunden und schliesslich auch ineinander verlieben, in einem isolierten Raum zu schweben scheinen, der komplett von ihrer Liebe und der Furcht, sie wieder zu verlieren, ausgefüllt wird. Nananans Zeichenstil zeichnet sich durch eine beeindruckende Klarheit aus, der durch die gelegentlich eingesetzte Rasterfolie nicht beeinträchtigt wird. Und so schleichen sich die beiden Mädchen bei ihrer pubertären Selbstfindung ohne Umschweife und ohne viel Getöse ins Herz der Leser.

Christian Meyer



Kiriko Nananan
: "Blue". Fanfare/Ponent Mon, 232 Seiten, Softcover, schwarzweiss, Euro 23.90. Erhältlich über: www.atomax.de
Licht und Schatten eines Forschers

Als Fritz Haber 1918 den Nobelpreis für Chemie erhielt, stand er auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die 1909 geglück-te Verbindung von Luftstickstoff und Wasserstoff zu Ammoniak hat sich im Ersten Weltkrieg für Deutschland als Segen erwiesen. Dank der raschen Weiterentwicklung der Ammoniaksynthese zu einem industriellen Verfahren für Düngemittel ("Haber-Bosch-Verfahren") konnte nämlich die Ernährungssituation vieler Menschen verbessert werden. Allerdings profitierte auch das Militär von den neuen Syntheseverfahren. Als Leiter der "Zentralstelle für Fragen der Chemie" regte Fritz Haber den Einsatz von Gaskampfstoffen im Krieg an und überwachte persönlich den ersten deutschen Giftgas-Angriff in der Schlacht bei Ypern 1915. Damit steht Fritz Habers Name auch für die zuweilen unrühmliche Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Krieg. Seine Tat liess ihn nicht nur für die Siegermächte zum Kriegsverbrecher werden. Seine Frau Clara Immerwahr, eine engagierte Friedensaktivistin und begabte Chemikerin, erschoss sich aus Enttäuschung mit der Dienstwaffe ihres Gatten. Dass die Nationalsozialisten dann allerdings im Zweiten Weltkrieg eine weitere Erfindung Habers - das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B - in den Vernichtungslagern einsetzten, hat weniger mit Fritz Habers Gesinnung zu tun als mit der zuweilen bitteren Ironie der Geschichte. Und obschon er sich sein ganzes Leben lang dem deutschen Vaterland stärker verpflichtet fühlte als der jüdischen Tradition - wie im Übrigen viele assimilierte Juden seiner Zeit -, musste Fritz Haber bei Hitlers Machtergreifung 1933 Deutschland verlassen. 1934 starb er auf einer Erholungsreise in Basel. Mit dem Ende Fritz Habers beginnt der Belgier David Vandermeulen seine auf drei Bände angelegte Comic-Biografie. Allein die Wahl der visuellen Mittel deutet an, dass es Vandermeulen um mehr geht als um die Biografie eines der einflussreichsten Wissenschaftler überhaupt: Die durchgehend scheinbar vergilbten, braun-gelb gemalten Bildfolgen wecken Erinnerungen an den Stummfilm. Dabei verwässert Vandermeulen seine aquarellierten Panels so geschickt, als ob er die Unschärfen historischer Darstellungen mit zum Ausdruck bringen wolle. Er spart mit moralischen Urteilen und zeigt stattdessen die Menschen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit - Gefangene in einem "Geist der Zeit", der zwischen Rationalismus und Nationalismus hin- und herpendelt.

Florian Meyer



David Vandermeulen: "Fritz Haber - L'Esprit du Temps". Band 1, Editions Delcourt, 2005, 160 Seiten, Hardcover. Euro 17.50 Als Ergänzung zu seinem Comic hat David Vandermeulen im Internet ein Glossar und Personenregister über die Zeit Fritz Habers zusammengestellt: www.editions-delcourt.fr/fritzhaber/
Stummes Elend

Der Titel deutet es an: "Das Schicksal - Eine Geschichte in Bildern" ist düster grundiert. In mehreren hundert Bildern ohne Worte erzählt Otto Nückel um 1930 die Lebensgeschichte einer Frau von ihrer Geburt bis zum bitteren Ende: Nach dem frühen Tod ihrer Eltern verdingt sie sich als Magd, wird schwanger, ertränkt ihr Kind, verkauft sich nach verbüsster Gefängnisstrafe als Prostituierte, heiratet schliesslich einen Freier und betrügt ihn mit dem alten LiebhaberÉ Dieser Reigen entspricht durchaus den Klischees einer tragischen Lebensgeschichte im Deutschland der Zwischenkriegszeit. Interessant ist hingegen, dass Nückel die Schuld nicht gänzlich auf die böse Welt abwälzt, sondern auch das eigene Verschulden seiner namenlosen Protagonisten mit sarkastischem Witz blossstellt. Otto Nückel gehört zu den grossen Vergessenen: Er wurde 1888 in Köln geboren und starb 1955 oder 1956. Ein Studium der Medizin brach er ab, um sich ab 1910 zum Künstler ausbilden zu lassen. Mit Erfolg illustrierte er Bücher von Thomas Mann und E.T.A. Hoffmann und arbeitete für den Simplicissimus. 1930 veröffentlichte er mit "Das Schicksal - Eine Geschichte in Bildern" seinen einzigen Bildroman. Inhaltlich durchaus mit den Bildromanen von Frans Masereel und Lynn Ward verwandt, unterschied sich Nückels Arbeit durch seine Technik. Dem Holzschnitt hatte er schon früh abgeschworen und arbeitete lieber mit Bleischnitten, was den Einzelbildern mehr Geschmeidigkeit und eine feinere Differenzierung verleiht. "Das Schicksal - Eine Geschichte in Bildern" ist wie sein Autor mehr oder weniger vergessen gegangen. Der französische Verlag Editions Imho macht nun den Bildroman in einer schön gedruckten und preislich durchaus vernünftigen Ausgabe wieder zugänglich.

Christian Gasser



Otto Nückel: "Destin". Editions Imho, Paris, Euro 25.-
Von Tag zu Tag durchs Leben

Es ist ein löbliches und ehrgeiziges Unterfangen, das sich der kanadische Verlag Drawn & Quarterly mit der Edition von "Gasoline Alley" zumutet - Frank O. King hat seinen Strip während immerhin rund 50 Jahren gezeichnet. Und doch gehört er trotz seines damaligen Erfolgs zu den eher unterschätzten Klassikern. Sehr zu Unrecht, wie der erste, die Jahre 1921 und 1922 versammelnde und unter dem Titel "Walt & Skeezix" veröffentlichte Band belegt. Ab 1918 verballhornte Frank O. King in "Gasoline Alley" den Autowahn amerikanischer Männer, doch wandelte sich der Charakter des Strips an dem Tag, als der rundliche Junggeselle Walt auf seiner Türschwelle einen Säugling findet und sich in der Folge mit derselben Hingabe dem kleinen Skeezix wie seinem altersschwachen Auto widmet. Historisch interessant ist "Gasoline Alley" vor allem aus zwei Gründen: Zum einen liess Frank O. King unübersehbar autobiographische Elemente in seinen Strip einfliessen, zum anderen liess er seine Protagonisten altern. Skeezix wird älter und schliesslich gar erwachsen, er heiratet und wird seinerseits Vater. Dies erlaubte es Frank O. King, die Entwick- lung der amerikanischen Gesellschaft jahrzehntelang mit liebevoller Ironie zu begleiten. Bereits im ersten, mit dem Babyfund einsetzenden Band gewinnt "Gasoline Alley" eine Dynamik und einen Charme, die ihn von den meisten zeitgenössischen Strips unterscheiden. Frank O. King ringt nicht verzweifelt um Gags, viele Strips sind vielmehr kleine Beobachtungen ohne Pointe und gewinnen ihre Bedeutung erst, wenn man sie nicht wie unabhängige Einzelstrips liest, sondern als Abschnitte eines graphischen Romans von immensen Dimensionen. Die von Chris Ware gestalteten Einzelbände von "Walt & Skeezix" werden von je 80 Seiten starken Dossiers begleitet, die mit unveröffentlichten Zeichnungen und Bildern des Hobbyfotographen King illustriert sind. Sie sollen nicht zuletzt auch das Leben von King und dessen Einfluss auf seinen Tagesstrip aufzeichnen.

Christian Gasser



Frank O. King: "Walt & Skeezix". Drawn & Quarterly, $ 29.95
Auf einer einsamen Insel

Es kommt selten vor, dass das Debüt eines jungen Comicautoren fast zeitgleich mit dem Erscheinen seines Erstlings ein grosses Medienecho auslöst. So erging es aber dem 1981 auf Maui geborenen Kikuo R. Johnson mit seinem Buch "Night Fisher". Viel dazu beigetragen hat sicherlich der Erfolg von Künstlern wie Craig Thompson, mit dessen "Blankets" Johnsons weit kürzere Geschichten inhaltliche und formale Aspekte teilen. Wie schon bei Thompson dreht sich "Night Fisher" um eine Jugendfreundschaft und deren Ende. Die Geschichte handelt vom jungen Loren Foster, der mit seinem Vater von Boston nach Hawaii zieht, dort das erhoffte Paradies aber nicht findet. Der Junge steht kurz vor dem Erwachsensein, der Schulabschluss naht und mit ihm die Suche nach einem College. Sein bester und einziger Freund Shane, ein fleissiger Konsument der in Hawaii populären Methylamphetamine, distanziert sich mehr und mehr von ihm. Zum nächtlichen Fischen, das die beiden Freunde einst regelmässig zusammen brachte, muss Loren nun alleine aufbrechen. Um die Freundschaft aber aufrecht erhalten zu können, versucht er mit Shane nun doch mitzuziehen, kommt in Kontakt mit Drogen und Kriminalität und distanziert sich so wiederum vom Vater. "Night Fisher" dokumentiert die Qualen des Erwachsenwerdens, den Versuch, sich in eine Gruppe zu integrieren und die Suche nach einer eigenen Zukunft auf einer Insel, die ausser schönem Wetter nur wenig zu bieten hat. Loren ist ein von Unsicherheit geplagter Junge, der kontinuierlich seine Lebenssituation zu hinterfragen scheint. Diesen Zustand zeigt der Autor nicht mit Worten, sondern vielmehr mit unkommentierten Landschaftsbildern, in denen sich die Hauptfigur zunehmend verliert. Stimmungen und Entwicklungen, die der Schüler von David Mazzucchelli gekonnt mit Tusche in schwarzweissen Kontrasten in Szene setzt. Wie die Insel droht Loren - der im Gegensatz zu Shane nicht auf das Festland an eine Uni gehen möchte - zu erstarren, bis er auf der letzten Seite des Buches ganz in der Landschaft untergeht.

Giovanni Peduto



Kikuo Johnson: "Night Fisher". Fantagraphics Books, 2005, 144 Seiten, schwarzweiss, $ 12.95
Über den Wolken...

Der Junge Simon und sein Kater Jack sind mal wieder zu spät dran, als sie die Schule erreichen. Der Versuch, sich unbemerkt in die Klasse zu schleichen, schlägt fehl. Also heisst es für die beiden, schnellstmöglich die Flucht vor der jähzornigen Lehrerin Missus Poe zu ergreifen. Sie finden eine Treppe, die in den Himmel und in eine Reihe haarsträubender Abenteuer führt. Simon und Jack machen Bekanntschaft mit der freundlichen Wolke Perch, geraten mitten ins Herz eines schrecklichen Sturms und werden schliesslich von einem Schwarm missmutiger gelber Vögel verschleppt. Doch dies zum Glück lediglich zurück in Simons Klassenzimmer. Die grosszügig gestaltete Hardcover-Ausgabe im quadratischen Format, Cranes klare Zeichnungen und seine harmonische Farbwahl tragen neben seinem erzählerischen Esprit zum Charme dieses Buchs bei. Dem Amerikaner Jordan Crane ist mit "The Clouds Above" eine hinreissend abenteuerliche Geschichte gelungen, die sich zwischen Comicerzählung und Bilderbuch bewegt. Wirklich erfreulich, dass es immer wieder Verlage gibt, die sich trauen, solch schöne, aber finanziell gewagte Buchprojekte zu veröffentlichen.

Claudia Jerusalem-Groenewald



Jordan Crane: "The Clouds Above". Fantagraphics Books, 216 Seiten, vierfarbig, Hardcover, $ 18.95
Wie die Karnickel

Nach den zwei erfolgreichen Alben "Wir können ja Freunde bleiben" und "Die Band" veröffentlicht Markus "Mawil" Witzel nun eine Sammlung seiner frühen Arbeiten. Ganz dem "Sgt. Pepper"-Cover der Beatles nachempfunden, präsentieren sich auf der Rückseite des neuen Buches die Hasen-VIPs aus Literatur- und Fernsehwelt, wobei es Mawils eigene Kreation "Supa-Hasi" leicht mit dem Playboy-Bunny oder dem "Looney Tunes"-Protagonisten Bugs Bunny aufnehmen kann. Hauptteil im "grossen Supa-Hasi Album" ist die Geschichte "Wie die Tiere den Wald retteten", ein schon in den 1990er-Jahren erdichtetes Abenteuer, das für das Album formal überarbeitet worden ist. Wie eine von jeglichem moralischen Inhalt befreite Tierfabel kommt die Geschichte daher, in der Hasi und seine Freunde einen Ausflug in die Stadt unternehmen und sich buchstäblich wie Tiere benehmen. Sie geben sich Alkoholexzessen hin, reissen Mädchen auf und zetteln Schlägereien an, um schliesslich auf der Flucht vor den Gesetzeshütern in den Wald zurückkehren. Was nach pubertären Absturzgeschichten klingt, erweist sich aber dank Mawils erzählerischem Talent und Sprachwitz als eine wahnsinnig komische Geschichte. Wie schon in seinen letzten zwei Alben werden auch in Mawils frühen Arbeiten Alltagsprobleme auf kreative Weise verarbeitet. Dass nun ein kleines, niedliches, Brille tragendes Kaninchen diese Leiden verkörpert, verschiebt die Geschichten nicht nur auf eine etwas bizarre Ebene, sondern lässt darauf schliessen, dass hinter der grossen Berliner Schnauze des kleinen Hasen auch eine Menge Unsicherheit steckt. Unsicherheit, die sich vor allem in der Begegnung mit leichtbekleideten Mädchenfiguren manifestiert. Mit Selbstironie geht Mawil im Supa-Hasi-Kostüm dem oft komplizierten Liebesleben zwischen einem Hasen und einem Mädchen nach, befasst sich aber auch mit dem Thema der ersten Wohnung, denkt über gesunde Ernährung nach und rettet Prinzessinnen vor Ausserirdischen. Im Moment ist "Supa-Hasi" wohl der mit Abstand meistbeschäftigte Hase der Welt.

Giovanni Peduto



Mawil: "Das grosse Supa-Hasi Album". Reprodukt, 2005, 128 Seiten, Euro 13.- / sFr. 23.50
Religion und Zufall

"Endstation Mars" des Zeichners Fil ist bereits der vierte Sammelband des Epos um die beiden Berliner Schweine Didi und Stulle, die sich auch hier wieder in Prolo-Trainerhosen durch den Berliner Asphalt-Dschungel kämpfen. Doch wie der Titel schon andeutet, enthält der Band mehr als Dialektdiskurse über Girlie-Shirts mit dem Aufdruck "Nutte". Kernstück des Bandes bildet eine Science-Fiction-Story, die die Helden ins All und auf verworrenen Pfaden wieder zurück ins Märkische Viertel führt. Alle mögen den Zeichner und Entertainer Fil, sogar Mitglieder von Freikirchen, nicht zuletzt wegen seiner christllichen Heavy-Metal-Songs ("He's got metal in his hands, he's got metal in his feet"). Tatsächlich versteckte Fil bisher in seinem ganzen Werk wiederholt religiöse Botschaften. So feierten zum Beispiel der grobe Didi und sein sensibler kleiner Freund Stulle 1997 ihre Wiederauferstehung. Und als wäre das noch nicht genug Verweis auf die Passionsgeschichte, stellte sich später heraus, dass Stulles Vater niemand geringerer als Gott persönlich war. Doch Fil betreibt kein simples Missionarentum. Im Gegenteil - er vermag seine Anhänger auch immer wieder vor den Kopf zu stossen. 1999 kam es zu einem kleinen Skandal, als Fil öffentlich erklärte, er sei "lustiger als Jesus". Obwohl er auf öffentlichen Druck widerrief, erlitt seine Karriere damals einen empfindlichen Schlag. Sein Leben wurde von Zufall und Chaos bestimmt und seine Beziehung mit der Schauspielerin Jasmin Tabatabai zerbrach. ähnlich wie Eminem, dessen neue Songs mitunter von seinen Eheproblemen handeln, verarbeitet auch Fil sein Privatleben auf künstlerische Weise: Jasmin Tabata-bai kommt in "Endstation Mars" ebenso vor wie der Zufall, dem Fil im Übrigen eine eigene Religion(!) widmet. Natürlich lässt auch hier die Glaubenskrise nicht lange auf sich warten. "Was is det fürn Zufall, der sowat zulässt", sagt Didi einmal und sorgt damit für heisse Köpfe in den theologischen Seminaren. Doch "Endstation Mars" ist nicht nur etwas für angehende Priester. Wie Fil seine berlinernden Schweine in die un-möglichsten Situationen schickt, ist einzigartig. Und wie er sie jeweils daraus befreit, erinnert an den Akt eines Entfesselungskünstlers. "Endstation Mars" enthält viel Humor, aber auch Besinnlichkeit. Ganz so, dass dem Leser - wie Fil es ausdrückt - "hin und wieder das Schmunzeln im Halse steckenbleibt".

Tim Kongo




Fil: "Didi und Stulle - Endstation Mars". Reprodukt, Berlin 2005, 48 Seiten, Euro 7.- / sFr. 13.-
Modernes Leben nach Fischli

In den Cartoons des 32-jährigen, in Zürich lebenden Zeichners Andy Fischli kämpfen Katzen in Hundekörpern gegen ihr Karma, suchtanfällige Lehrer gegen den Drogenkonsum auf dem Pausenplatz und Grossstadtmenschen gegen ihre eigenen Schwächen. Kafkaesk geht es wiederum im Kaufhaus zu, wo weder Bargeld noch Kreditkarten, ja nicht einmal Kundenkarten akzeptiert werden. Andy Fischlis Protagonisten sind aggressive Clowns, ungeschickte Hasen und niedliche kleine Wesen, bei denen der Leser selbst entscheiden kann, ob sie wie Kiesel, Kartoffeln oder Eier aussehen. Fischlis Stil ist auf rotzige Art spröde. Immer sehr präsent mit dicken Buchstaben ist der Text. Kein Zufall, erweitert doch Fischli darin die Sprache um ein paar sehr originelle Ausdrücke. So lässt er zum Beispiel sogenannte "Klugscheisser" mit einem Buch namens "Die neue Rechthabung" aufmarschieren. "Ich", "Es" und "Über-Ich" - dargestellt als Tick, Trick und Track - werden derweil im Cartoon "Er-gänzende Psychoanalyse" mit einem äusserst schlagkräftigen "Über-Es" konfrontiert. Es sind denn auch diese zahlreichen unerwarteten Wendungen, die "Fast alles" zu einem Werk machen, mit dem man sich gerne vom modernen Alltag erholt.

Tim Kongo




Andy Fischli: "Fast Alles". Eigenverlag, 36 Seiten, Euro 10.- / sFr. 15.-
Bewegte Kreaturen

"Character Design" bezeichnet die Gestaltung der Grundzüge einer Figur, die durch beispielhafte Ansichten und Bewegungsmomente in ihrer spezifischen Form erkennbar bleibt. Vor allem im Bereich des Animationsfilms ermöglichen diese gestalterischen Vorlagen eine industrielle Arbeitsweise. Im klassischen Design-Kontext, der maschinelle Produktion immer mitdenkt, werden daher die Entwicklungen des "Character Design" mehr beachtet als in der individualistischen, künstlerischen Comicszene, wo meist alleine und autonom an den Figuren gewerkelt wird. Umso erstaunlicher ist, dass in dem von Pictoplasma herausgegebenen Buch und in der beiliegenden DVD nicht nur aussergewöhnliche Charaktere zu finden sind, sondern auch ausformulierte Geschichten. Die DVD wie das Buch sind eingeteilt in die Rubriken "Characters in narration", "Characters in rhythm" und "Characters in motion". Die erste Abteilung nimmt am meisten Raum ein, da sich hier die Geschichten entfalten. Und was man hier zu sehen bekommt, lässt einem den Atem stocken. Das Spektrum ist sowohl stilistisch als auch thematisch so breit gefächert, dass der Versuch eines kurzen Umreissens scheitern muss. Von einer Christian-Andersen-Adaption von Monogataris Kathi Käppel über die nihilistischen Krakelzeichnungen von Frederic Dufau bis hin zum komplett LSD-verseuchten, kunterbunten Manga-Irrsinn von Saiman Chow: Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Aber auch die Rubriken "Characters in rhythm" und "Characters in motion" haben viel zu bieten, obwohl hier dem freien Lauf der Fantasie zumindest thematisch Grenzen gesetzt sind. "Characters in rhythm" widmet sich den Musik-Clips, "Characters in motion" den Werbeaufträgen. Anders als die reinen Buchvorgänger von Pictoplasma, die sich an ein Fachpublikum wandten, wird diese Veröffentlichung dank der DVD - mit einer Spielzeit von 180 Minuten das eigentliche Hauptwerk - auch zu einem umfassenden Überblick für Laien und Comic- sowie Animationsfilm-Interessierte.

Christian Meyer




Peter Thaler, Lars Denicke
(Hg.): "Characters in Motion". Pictoplasma Publishing, Berlin 2005, 98 Seiten plus DVD (180 min), gefüttertes Cover, farbig, Euro 35.-