POTENTIELLE LITERATUR
Das geschriebene Wort
von Wolfgang Bortlik

Am 27. November 1960, in einem Pariser Restaurant namens "Au vrai Gascon", beschlossen sieben gestandene Herren, einer literarischen Werkstatt beizutreten. Also hieben sandene Gesterren den "Ouvroir de Littérature Potentielle", kurz Oulipo genannt, aus dem Taufbecken - wahrscheinlich war es mit diversen Flaschen Wein wohl gefüllt. "Das Wort 'potenziell' bezeichnet die eigentliche Natur der Literatur, das heisst, dass es sich im Grunde vielleicht weniger um Literatur im eigentlichen Sinne als vielmehr darum handelt, Formen für den Gebrauch, den man von Literatur machen kann, bereitzustellen. Wir nennen potenzielle Literatur die Erforschung von neuen Formen und Strukturen, die von Schriftstellern ganz nach Belieben benutzt werden können." So beschreibt es in einem Interview Raymond Queneau (1903-1976), der Bekannteste der sieben Herren. Spätere, auch im deutschen Sprachraum bekannt gewordene Oulipisten sind Georges Perec, Italo Calvino, Jacques Roubaud oder Harry Mathews. "Zum Schluss sei ein Wort an die ausgesprochen ernsten Personen gerichtet, die ohne genau hinzusehen jegliches Werk, in dem sich ein Hang zum Scherz offenbart, in Grund und Boden verdammen. Wenn sie das Produkt von Dichtern sind, gehören Unterhaltung, Ulk und Betrug noch zur Poesie. Die potenzielle Literatur ist daher nach wie vor die ernsthafteste Sache der Welt. Quod erat demonstrandum." So sagt es François le Lionnais, mit Queneau eigentlicher Initiator von Oulipo, in seinem ersten Manifest "La Lipo". Oulipo bedeutet einerseits strikte Regeln in der Sprache, andererseits aber auch das Spiel mit der Sprache. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass Sprache beziehungsweise Literatur die Wirklichkeit nicht abbilden können, Literatur und Sprache also künstlich sind, dann kann, ja muss man damit experimentieren, spielen, ausprobieren, seltsame Sachen machen und den alten Sprachlehrer in uns allen übertölpeln.


Beispielsweise mit dem Lipogramm

Dieses hat nicht etwa der Oulipo erfunden. Es existiert schon seit der Antike, und auch deutsche Barockdichter verwendeten es gerne. Im lipogrammatischen Text wird ganz einfach ein missliebiger Buchstabe weggelassen. Das zu zischende "s" oder das zu rollende "r" wird einfach nicht verwendet, der Text soll aber weder an Logik noch Gehalt einbüssen. Wie bei allen folgenden oulipistischen Interventionen entsteht der wunderbare Nebeneffekt, dass starre sprachliche Konventionen damit aufgelöst oder unterlaufen werden. Das war auch die Absicht anderer Kunstradikalismen wie Dada, Surrealismus oder Lettrismus - und Queneau gehörte als junger Mensch ebenfalls zu den Surrealisten, bis er sich 1929 mit deren Papst Breton überwarf und ausgeschlossen wurde. Das allerschwierigste Lipogramm ist natürlich das ohne ein "e". Ein geradezu herkulischer Roman ist somit Georges Perecs "La Disparition" aus dem Jahre 1969, welcher auf gut 360 Seiten ohne ein einziges "e" auskommt. Mord und Totschlag regieren, es handelt sich um eine wahre Schauermär, die auch ohne den häufigsten Buchstaben höchst literarisch und spannend vom Verschwinden einer ganzen Familie in der Zeit nach dem Pariser Mai von 1968 erzählt. Selbstverständlich ist in einem solchen Fall auch die deutsche übersetzung des Romans kongenial. "Anton Voyls Fortgang" heisst Perecs Werk in Deutsch und kommt ohn dn häufigstn doitschn Buchstabn aus. übersetzt wurde es von Eugen Helmlé und erschien erstmals 1986 bei Zweitausendeins - andere deutsche Verlage winkten damals dankend ab.

"Ich bin zu imaginativ, sinnt Voyl mal in Angst, mal voll Spass.
Ist doch toll, was aus dir noch wird: Schakalslunch, Spitzmausration, Polarfrass.
Das ist nun mal so, da machst du nichts dran.
Das sah schon Arthur so und Buddha längst vor ihm.
Willst du davon fort, gibtÕs nur Absolutsstopp, für sofort und künftig, kurzum, das Nirwana."

(aus "Anton Voyls Fortgang" von Georges Perec, übersetzt von Eugen Helmlé)

Man hört den besonderen Klang, spürt die Fantasie und Subversion dieser Sprache sofort. - Perecs deutscher übersetzer Eugen Helmlé ist im übrigen, neben Oskar Pastior, die graue Eminenz des Oulipo in Deutschland. Er hat selber ebenfalls zwei lipogrammatische Kurzromane geschrieben - beide ohne ein einziges "e". Sie heissen "Knall und Fall in Lyon" und "Im Nachtzug nach Lyon".


Oder mit dem Monovokalismus

Sozusagen das intime Gegenteil des Lipogramms ist der Monovokalismus. So wie Perec einen Roman ganz ohne "e" geschrieben hat, so schrieb er auch einen nur mit "e" als einzigem Vokal: "Les Revenentes". Das Werk liegt mittlerweile auch in deutscher übersetzung vor und heisst da "Dee Weedergenger".

"Telles des chèvres en détresse, sept Mercédès-Benz vertes, les fentres crpées de reps grège, descendent lentement West End Street et prennent sénestrement Temple Street vers les vertes venelles semées de htres et de frnes (É)"
(aus "Les Revenentes" von Georges Perec)

Georges Perec (1936-1982) war gewissermassen der bewaffnete Arm des Oulipo. Seine beiden Hauptwerke, neben "Dee Weedergenger", heissen nicht ganz unbescheiden "Die Dinge" und "Das Leben - Gebrauchsanweisung". Verstörend in seiner Wucht und Fantasie wirkt Perecs Werk vor allem dann, wenn man es neben jenes windiger französischer Modeschriftsteller wie Hou‘llebecq, Olmi und Konsorten stellt.

Raymond Queneaus oulipistisches Hauptwerk dürfte "Stilübungen" sein. Dort steht ein kurzer Text am Anfang, so genannte Angaben beziehungsweise Beschreibungen eines unangenehm weinerlichen und langhalsigen Typs mit einem Hut mit Kordel in einem Autobus, der dem Autor zwei Stunden später wieder am Bahnhof Saint-Lazare begegnet. Dieser Sachverhalt wird danach in 99 Varianten erneut erzählt: in Odenform, als Komödie, als Telegramm, als Italianismus, in Pidgin-Englisch, als Geruch, als Geschmack, als Permutation, als Lautmalerei, als StatistikÉ - wobei der Titel der einzelnen Variante die jeweilige Absicht des Texts wiedergibt. Besonders prägnant ist in dieser Hinsicht die übung "Wortkomposition":

"Ich autobusplattformte mit-mengenähnlicherweise in einem lutecio-meridionalen Zeitraum und nachbarlichte mit einem langhalslichen, rotznasigen Kordelumdenhutgetüm. Selbiges sagte zu einem Irgendanonym: 'Sie anrempelscheinen mich.' Dies ausgestossen, freiplatzte er sich gierig. In einer späteren Raum-Zeitlichkeit sah ich es wieder, wie es mit einem X saint-lazarierte, der zu ihm sagte: 'Du solltest deinen überzieher knopfvervollständigen.' Und er warumerklärte ihm die Sache."
(aus "Stilübungen" von Raymond Queneau)

Die "Stilübungen" entstanden lange vor der Gründung des Oulipo - schon 1947 kam das Buch in Frankreich heraus. Noch heute kommt man ob des Sprachgewitters von Queneau nicht aus dem Staunen heraus.


Oder mit dem Anagramm


Ein beliebter Oulipo-Sprachspielplatz ist auch das Anagramm. Aus aktuellem Anlass ein besonderes Beispiel:

"Der Ball ist rund
Alb, lindre Durst
Lid, stur labernd
Bildnudel starr
Stirnbude drall
Rund ist der Ball"

(Das ist mit Verlaub von mir)

Guter Brauch beim Oulipo ist auch das Palindrom, diese Worte und Sätze, die von vorn und von hinten gleich gelesen werden. Ausserdem gibt es Figurengedichte und Homophonien. Letzteres sind Sätze, die je nach Wort-Zerteilung oder Wort-Einteilung einen neuen Sinn bekommen. Damit hat übrigens auch einer der Vorläufer des Oulipo gearbeitet, der solitäre französische Literaturavantgardist Raymond Roussel (1877-1933). Er zählt zu den grossen Literaturvätern der Moderne, "Locus Solus" und "Impressions dÕAfrique" heissen seine Hauptwerke rein spekulativer Literatur. Wie beim Oulipo gab es deutsche übersetzungen, vor allem in den 1980er-Jahren - zum Beispiel seine "Eindrücke aus Afrika" mit zwölf wunderschönen Radierungen von Markus Raetz im Verlag Matthes & Seitz. Heute, in der Aera des neuen deutschsprachigen Familienromans, hat die Literatur hierzulande wieder diesen "haut g™ut" des Authentischen, des Lebensähnlichen bekommen. Und man mag dem Oulipo die extreme Künstlichkeit, vielleicht das Formelhafte vorwerfen. Aber langweilig war der Oulipo nie!


Deutsche Playlist

Georges Perec: "Anton Voyls Fortgang". Verlag Zweitausendundeins. Leider zurzeit völlig vergriffen!

Georges Perec: "Dee Weedergenger". Verlag Johannes Lang, Bochum 2005, Euro 16.50 / sFr. 29.40

Raymond Queneau: "Stilübungen". Bibliothek Suhrkamp, Euro 12.80 / sFr. 23.50

Raymond Queneau: "Zazie in der Metro". Suhrkamp Taschenbuch, Euro 5.- / sFr. 9.30. Queneaus berühmtester Roman.

Raymond Queneau: "Unwahrscheinliche Flausen bekehrter Sodomiten". Wagenbach Salto, Euro 13.90 / sFr. 25.10.
Eine Einführung und Zusammenfassung seines Werks.