Magazin
Autark

Der italienische Künstler Igort ("5 ist die perfekte Zahl") hat den Stein ins Rollen gebracht. Bei einem intimen Teebesäufnis mit David B. beschloss er, eine "offene, erfrischend neue und poetische Sichtweise" auf die Realität zu erfinden. Bereits die ersten Ideen hätten den gewöhnlichen Rahmen von Comicpublikationen gesprengt - seine Kontinente überschreitende Geschichte "Baobab" kalkulierte Igort auf rund 400 Seiten. Dafür wurde umso deutlicher, dass allfällige Ko-Autoren am besten in kompletter kreativer Eigenverantwortung arbeiten würden. - Bei den Zeichnern fand Igort mit seiner Idee des "Comic-Nomaden", der ohne festen Redaktionssitz agiert, regen Zuspruch. Und der Plan, die Alben in sechs Ländern (Frankreich, Italien, Spanien, Holland, USA, Deutschland) gleichzeitig zu veröffentlichen, sicherte auch die Finanzierung ab. Eine knappe Seitenzahl würde zudem eine rasche Publikation neuer Bände erlauben. Ohne grossen ökonomischen Druck konnten sich die Autoren jetzt epischen Erzählformaten und experimentellen Erzählformen widmen, wobei der klassische Comic als Bezugspunkt bestehen bleiben sollte. In einer ersten Staffel erscheinen nun Arbeiten von David B., Igort, Gipi und Matt Broersma - aussergewöhnlich gestaltete, grossformatige Alben im Zweifarbdruck. Sie sind wie nicht anders zu erwarten sehr unterschiedlich ausgefallen, genügen aber ausnahmslos höheren Ansprüchen. Abschliessend sind sie allerdings noch nicht zu beurteilen - die Bände entsprechen zum Teil nur ersten kurzen Kapiteln längerer Geschichten. Weitere Alben von Lorenzo Mattotti, Gabriella Giandelli, Kevin Huizenga, Leila Marzocchi und Marti sind bereits in Planung.

Christian Meyer




Kollektion Ignatz David B.: "Band 1 - Babel 1". Gipi: "Band 2 - Die Unschuldigen". Igort: "Band 3 - Baobab 1". Matt Broersma: "Band 4 - Insomnia 1". avant-verlag 2005, je 32 Seiten, zweifarbig, je Euro 9.95 / sFr. 18.-
Persönliche Länderkunde

Der Kulturaustausch unter Comicschaffenden steht hoch im Kurs. Vor kurzem erschien beim Berliner avant-verlag der Band "Cargo" mit Geschichten von Israelis, die Deutschland bereisen, und von Deutschen, die aus Israel berichten. Jetzt werden bereits Franzosen nach Japan geschickt: Neun französische Autorinnen und Autoren sind in den fernen Osten gereist, um ihre Erlebnisse und Erfahrungen in Kurzgeschichten festzuhalten. Leider kamen im Gegenzug keine asiatischen Autoren nach Frankreich, aber immerhin konnten acht japanische Zeichner dafür gewonnen werden, dem allfällig verklärten Blick französischer Asientouristen eine erhellende Darstellung des realen Alltags gegenüberzustellen. Die Mischung funktioniert, auch weil die Ergebnisse nicht zu kontrastreich ausgefallen sind. Franzosen, die den japanischen Alltag kennen, weil sie schon länger in Japan leben, sind in diesem Sammelband genauso zu finden wie Japaner, die das exotische, mythische Bild ihres eigenen Landes erkunden. Auch herkunftsunabhängig ist eine Stilvielfalt zu erkennen, die vom wilden "Gekrakel" ("Aurélia Aurita" von Joann Sfar - grossartig!) über zarte Bleistiftzeichnungen ("Little Fish" von Frédéric Boilet) bis zu detailverliebten Bildern (von Nicolas de Crécy, Peeters/Schuiten) reicht. Manga hier, Ligne Claire dort - dieses Klischee wird nicht bedient. Das liegt vor allem daran, dass sich die Protagonisten der so genannten "Nouvelle Manga" angenehm den Zuordnungen entziehen und die Stile vermischen. Der Sammelband erscheint zeitgleich in Japanisch und Französisch, aber auch in Englisch, Spanisch, Italienisch und sogar Niederländisch. Nur nicht in Deutsch. Was wieder einmal Bände spricht über die Comicszene im deutschsprachigen Raum. über den Merchandising-Vertrieb Atomax kann man hierzulande zumindest die englische Version kaufen.

Christian Meyer




Div.: "Japan - as viewed by 17 creators". Fanfare/Ponent Mon 2005, 256 Seiten, schwarzweiss, Euro 24.90
Kunstgeschichte?

Interessant an der Anthologie Ganzfeld ist, dass sie sich allen Einordnungen widersetzt: Ganzfeld ist trotz einer klar vom Comic geprägten Sensibilität kein Comicmagazin, es ist aber ebenso wenig ein reines Illustratoren- oder Graphiker-Ding und schon gar kein Kunstkatalog - Ganzfeld ist von allem ein bisschen, und das macht auch die vierte, in die Kapitel "Art History", "Drawings", "Artists On Art" und "Comics" unterteilte Ausgabe zu einer anregenden Lektüre. Unter dem Titel Ganzfeld 4 - Art History? treten einige altbekannte STRAPAZIN-Autorinnen und -Autoren an: Julie Doucet hat das an alt-ägyptische Papyrus-Malereien gemahnende Cover gestaltet, David Sandlin exorzisiert auf 18 beeindruckenden Seiten seine Faszination für H.C. Westerman, von Gary Panter gibt es die derzeit in jeder Anthologie geradezu obligaten Seiten aus seinen Skizzenbüchern, und auch der unumgängliche Marc Bell begeistert mit seinen ebenso witzigen wie abgründigen Kritzeleien. Daneben gibt es tollen Nonsense aus Japan von Shigeru Sugiura, die Auseinandersetzung des Illustrators Peter Saul mit Dal, Skizzen der alten Trickzeichner Frank Moser und John Dunn und nicht zuletzt auch zahlreiche Texte und Essays über merkwürdige und obskure Randphänomene in Kunst und populärer Kultur. Kurz: Es ist einmal mehr ein inspirierender Mix, den Herausgeber Dan Nadel mit Ganzfeld 4 - Art History? angerührt hat.

Christian Gasser




Dan Nadel (Hrsg.): Ganzfeld 4 - Art History? Gingko Press 2005, $ 29.95

Sammler und Geizhälse

Bis zum Schluss bleibt Wimbledon Green ein Rätsel. Ohne ihn selber zu Wort kommen zu lassen, lässt Seth andere Comic-Aficionados über ihn reden und fügt ihre Anekdoten, fiesen Anspielungen und Gerüchte zu einem fragmentarischen und widersprüchlichen Bild des "grössten Comicsammlers der Welt" zusammen - ein Bild, das nicht einmal schlüssig zu klären vermag, ob er mit dem berühmt-berüchtigten Don Green von früher identisch ist oder nicht. Bald wird allerdings klar, dass Wimbledon Green für Seth nur ein Vorwand ist, um über das in der Comicszene grassierende Sammlertum zu reflektieren und eine beeindruckende Galerie von ebenso irrsinnigen wie methodischen Sammlern, Händlern, Kritikern, Nerds und Fans (Chip Corners! Daddy Doats! "Very Fine" Findley!) vorzuführen mitsamt ihren herausragenden Charaktereigenschaften Geiz, Kleinlichkeit und Neid. Wimbledon Greens hartnäckigster Konkurrent ist der weder vor Lügen, Diebstahl noch Mord zurückschreckende Jonah, der in seinem Anzug und mit seinem steifen Hut Seth verdächtig ähnlich sieht. Man hofft zwar, dass Seth im richtigen Leben die krankhafte Fiesheit eines Jonah abgeht, spürt aber, dass er der Welt des besessenen Sammlers näher steht, als gesund wäre. "Wimbledon Green" dient Seth aber nicht nur zur Verarbeitung seiner Leidenschaft, sondern auch als Bühne für die Früchte seiner Imagination: schrullige Figuren und obskure Comicserien. Immer wieder schweift Seth ab in höchst vergnügliche Beschreibungen von Plots angeblich legendärer Drittklass-Serien des Golden Age of Comics, die für zehntausende von Dollars gehandelt worden seien. Seth wird nicht müde zu betonen, dass die Geschichte seinen Skizzenbüchern entnommen sei und erzählerisch wie grafisch weit unter seinen gewöhnlichen Ansprüchen stehe. Dabei ist er viel zu bescheiden. "Wimbledon Green" ist nämlich eine überaus vergnügliche Satire über die Comicsammler-Szene, und Seth erweist sich als unerwartet komischer Autor und Meister der lakonischen Ironie. Dass die Zeichnungen weniger sauber ausgearbeitet sind als in seinen "offiziellen" Comics, stört keineswegs. Im Gegenteil, ist man versucht zu sagen: Die Lockerheit des Strichs verleiht der Geschichte viel Schwung. Fazit: Dieses Buch macht nicht nur den armen Tröpfen Spass, die vom Sammelvirus befallen sind.

Christian Gasser




Seth: "Wimbledon Green - The Greatest Comic Book Collector In The World". Drawn & Quarterly 2005, 128 Seiten, $ 19.95
Doppelte Trennung

Denkt man an das Südafrika der Siebziger- und Achtzigerjahre, so kommen einem Apartheid, repressive Staatsgewalt und endlose Debatten über Wirtschaftssanktionen in den Sinn. Wie ein Kind einer weissen Familie diese Zeit erlebte, kann einem angesichts der sozialen Zustände in den Townships auf den ersten Blick gleichgültig erscheinen. Aber Karlien de Villiers, 1975 in Kapstadt geboren, zeigt mit "Meine Mutter war eine schöne Frau", dass diese Sichtweise falsch ist. Sie beschreibt, wie eine Familie erst wegen einer Scheidung und dann durch den Tod der Mutter immer stärker ins soziale Abseits gerät. Dabei offenbart sich der Gefühlskonflikt eines Kindes, dessen liebevolle und warmherzige Mutter das Apartheidregime unterstützt, während die distanzierte und gefühlskalte Stiefmutter liberale feministische Ansichten vertritt. Ursprünglich dachte de Villiers, die auch für das kontroverse südafrikanische Magazin Bittercomix arbeitet, lediglich an eine Autobiografie im engeren Sinn. Doch sie kam nicht umhin, auch die politische Situation während ihrer Kindheit zu thematisieren: "Alle Erinnerungen an persönliches Leiden, an Freude und Staunen sind verstrickt mit der Hinnahme einer tief gespaltenen, turbulenten Gesellschaft." De Villiers driftet mit ihrer bewegenden Geschichte nie ins Sentimentale ab. In einem realistischen Erzählstil und ganz der Tradition der "Ligne Claire" verpflichtet lässt sie verschiedene Sichtweisen aufeinander prallen, ohne sie gegeneinander auszuspielen oder zu werten. Gerade deshalb vermag "Meine Mutter war eine schöne Frau" ein ebenso eindrückliches wie differenziertes Bild von den Wechselwirkungen zwischen privaten und gesellschaftlichen Konflikten wiederzugeben.

Tim Kong




Karlien de Villiers: "Meine Mutter war eine schöne Frau". Arrache Coeur 2006, 64 Seiten, Euro 24.- / sFr. 39.80

Zombies und Meerjungfrauen

Aschenbrödel als Tochter eines Zombies, der auf dem Friedhof eine Untote abschleppt? Der Märchenprinz als toter Pop-Star, zu dessen Konzert die verliebte Cinderalla nur dank einer betrunkenen Fee eingelassen wird, die sie dazu in einen Zombie verwandelt? - Das alles und noch viel mehr ist möglich, wenn sich die junge Japanerin Junko Mizuno eines klassischen Märchenstoffs annimmt und aus Cinderalla eine ebenso hinreissende wie abstruse Comic-Oper macht, die irgendwo zwischen Pop und Psychedelia, kesser Erotik, buntem Kitsch und fröhlichen Albträumen balanciert. Nicht weniger abgedreht sind die Interpretationen der beiden anderen Märchen: Während Hänsel und Gretel versuchen, das Traumland der gigantischen Früchte, üppigen Süssigkeiten und fetten Ferkel vor der bösen Königin Marilyn zu retten, entführen kleine Meerjungfrauen Seemänner, um sie in den Tiefen des Meeres zu meucheln - aus Rache für den Mord an ihrer Mutter, einer legendären Tiefseeprostituierten. Als sich aber die Meerjungfrau Julie in den Fischer Suekichi verliebt, ändert sich alles . Die Geschichten sind zweifellos abstrus. Mizuno unterläuft unsere Erwartungen, bricht Klischees und verblüfft mit überraschenden Wendungen. Es ist, als würde man die altvertrauten Märchen zum ersten Mal lesen - obschon Mizuno eigentlich recht nahe an den Vorlagen bleibt, was die Stimmungen und insbesondere die Grausamkeiten anbelangt. Die Plots von Mizunos Geschichten hingegen sind so unheimlich verschlungen und detailreich - man muss die Geschichten schon selber gelesen haben, um glauben zu können, dass sowas möglich ist.

Christian Gasser




Junko Mizuno: "Cinderalla", "Hansel & Gretel" und "La petite sirne". Editions Imho 2004-05, 120 bis 150 Seiten, je Euro 11.- Unter www.viz.com auch in Englisch erhältlich

Grüsse aus der Provinz

Seinen Blogg nennt der italienische Autor und Zeichner Gian Alfonso Pacinotti (kurz: Gipi) "Baci dalla Provincia" ("Küsse aus der Provinz"). Wer seine Bücher kennt, weiss, wie trefflich dieser Titel ist. Schon in seinem ersten Erzählband "Esterno Notte" ("Nachtaufnahmen") richtet der Künstler seine Aufmerksamkeit auf Regionen Italiens, die fernab bekannter Postkartenidyllen liegen. Es sind öde Provinzen mit halbfertigen Industriebauten aus stillgelegten Fortschrittsträumen, in denen Gipis Protagonisten ihr Unwesen treiben - unschuldige Kleinbürger, die sich der Brutalität des Alltags gebeugt haben und als Kleinkriminelle ihr Leben bestreiten. "Die Unschuldigen" heisst denn auch Gipis neue, ins Deutsche übersetzte Kurzgeschichte. Sie erzählt von gebrochenen Existenzen, die die Gewalt des Staates bitter zu spüren bekommen: Bei einem Ausflug ans Meer erzählt Giuliano seinem Neffen von den Schikanen zweier Polizisten, denen er und sein Freund Valerio in Jugendjahren lange ausgesetzt waren. Nach einem halben Leben hinter Gittern möchte sich nun Valerio an den beiden korrupten Ordnungshütern rächen. Giuliano soll ihm dabei helfen. In monochromen Bildern schildert Gipi eine Reise durch wolkenbehangene Meereslandschaften, Fischerdörfchen und verlassene Strandhäuser. Seine Darstellungen wirken skizziert und gleichzeitig vollendet. Die wenigen Striche, mit denen er seine Protagonisten zeichnet, sind scharf und so ehrlich wie die Geschichten selbst. Der Zeichenstil ändert nur, wenn Ereignisse aus der Vergangenheit die Hauptfiguren einholen. Dann greift eine nervös kritzelnde Hand zur Feder und beschwört mit schwarzen Strichen die Vergangenheit aufs weisse Papier. Sein eigenwilliger Zeichenstil hat dem Künstler aus Pisa schon zahlreiche Preise eingebracht - unter anderem den Prix Angoulême 2006 für das beste Album.

Giovanni Peduto




Gipi: "Die Unschuldigen" (Kollektion Ignatz). avant-verlag 2005, 32 Seiten, zweifarbig, Euro 9.95 / sFr. 18.-

Schaukasten

Vor über 16 Jahren gründete der Kanadier Chris Oliveros den Verlag Drawn & Quarterly. Mit Künstlern wie Adrian Tomine, Seth und Julie Doucet entwickelte sich Drawn & Quarterly über die Jahre zu einem der interessantesten und bedeutendsten Verlage für alternative Comics. Und nach wie vor hat Chris Oliveros bei seiner verlegerischen Arbeit auch junge Zeichentalente im Blickfeld. So schuf er 2003 die Anthologie Showcase, um unbekannten Nachwuchskünstlern eine Plattform zu bieten. In den drei bisherigen Bänden haben sich nun Zeichner wie Nicolas Robel, Kevin Huizenga (Band 1), Penti Otsamo, Jeffrey Brown, Erik DeGraf (Band 2) und Genevieve Elverum, Sammy Harkham und Matt Broersma (Band 3) präsentiert. Die Themen und die Gestaltung der Geschichten decken in ihrer Unterschiedlichkeit das weite Spektrum grafischer Erzählungen ab. Der dritte, 2005 erschienene Band ist in dieser Hinsicht besonders gut gelungen: Genevieve Elverum, ehemals Genevieve Castree, zeichnet in einzelnen Bildsequenzen eine traumartige Geschichte über Traurigkeit und Liebe, Sammy Harkham lässt den Leser am Hochsommer der beiden Teenie-Girls Iris und Edie teilhaben, und Matt Broersma erzählt im Stile Tardis die mysteriöse Geschichte von Dr. Frobisher und seiner Widersacherin Malvern Yoshimoto. Showcase ist die ideale Anthologie, um sich einen überblick über die Arbeiten neuerer und inzwischen vielleicht schon bekannterer Zeichner zu verschaffen. Für Juni 2006 ist bereits der vierte Band mit Dan Zettwoch, Gabrielle Bell und Martin Cendreda angekündigt.

Claudia Jerusalem-Groenewald





Chris Oliveros (Hrsg.): Showcase, Bände 1 - 3. Drawn & Quarterly 2003-05, je 96 Seiten, Broschur, schwarzweiss und vierfarbig, je $ 14.95

Reise nach Auschwitz

Auschwitz entkommt man nicht. Auch nicht in Drancy, diesem Pariser Vorort, wo die Nazis zwischen 1941 und 1944 Wohnblöcke in ein Internierungslager umgewandelt haben. Heute erinnert ein Denkmal an die 100000 Juden, die aus Drancy deportiert worden sind. Nur 1500 von ihnen überlebten. Doch führen die schieren Zahlen zu keiner Vorstellung des Grauens in den Konzentrationslagern. Und Holocaust-Denkmäler scheinen eher auf die Ohnmacht der Kunst zu verweisen, das unermesslich Unmenschliche mit ihren eigenen Mitteln zu erfassen. Für den Franzosen Gregory Ponchard war Drancy 2001 der Ausgangspunkt, um selber nach Auschwitz zu reisen. Dort aber beschlichen Ponchard unerwartete Gefühle: fehl am Platz zu sein. In seiner Familie war niemand in einem Konzentrationslager umgekommen. Ponchard erklärt: "Ich kam mir vor wie ein Hochstapler, den man soeben entlarvte, und suchte ununterbrochen nach Entschuldigungen." War es wirklich nötig, nach Auschwitz zu reisen, um sich der Gräuel bewusst zu werden? Und wozu überhaupt ein Erinnern? Heute sagt Ponchard dazu: "Es geht um die Fragen, die ein Ort aufwirft. Auschwitz ist kein Ort für vorgefasste Antworten, aber er ruft zu Verantwortungsbewusstsein auf." Auf 35 Seiten legt Ponchard in "Drancy-Berlin-Oswiecim" seine Reflexionen dar, was Auschwitz heute bedeuten kann. Seine Bemerkungen sind sparsam und der Tragweite des Themas angemessen. Präzise und mit der nötigen Distanz schildert er seine persönlichen Erlebnisse. - Auf zeichnerischer Ebene fällt auf, dass Philippe Squarzonis Bilder ohne jegliche Surrealismen auskommen. Drancy, Berlin, Dachau und Auschwitz werden fotografisch genau abgebildet und Bildern aus der Kriegszeit gegenübergestellt. Wenn Ponchard hingegen darlegt, wie das Ausmass der Judenvernichtung die Vorstellungskraft übersteigt, greift Squarzoni zur Reduktion und streut schwarze oder weisse Panels in seine Bildfolgen. Diese Zurückhaltung unterscheidet "Drancy-Berlin-Oswiecim" deutlich von "Crash-text", einer anderen Koproduktion der beiden Autoren. Das Banlieu-Drama einer überforderten Mutter, die ihr Baby tötet, wartet zwar mit amerikanischer Härte auf, ergründet die Tiefen der Charaktere aber kaum. Philippe Squarzonis "engagierten" Reportagen über die Zapatisten in Mexiko wiederum fehlt eine gewisse Sensibilität. Statt eines differenzierten Berichts gelingen Squarzoni vielmehr gefällige Illustrationen, die einem Aktionsprogramm der Anti-Globalisierungsbewegung ATTAC entnommen sein könnten.

Florian Meyer




Gregory Ponchard und Philippe Squarzoni: "Drancy-Berlin-Oswiecim". Les Requins Marteaux 2005, Euro 7.- Gregory Ponchard und Philippe Squarzoni: "Crash-text". Les Requins Marteaux 2005, Euro 7.- Philippe Squarzoni: "Garduno en temps de paix" und "Zapata en temps de guerre". Les Requins Marteaux 2002/03, je Euro 15.-