OUBAPO -
OUVROIR DE BANDE DESSINEE POTENTIELLE
Eine Wegleitung

von Christian Gasser

Im Frühjahr 2003 wurden die Besucherinnen und Besucher der zeitgleich stattfindenden Comicfestivals von Luzern und Bastia Zeugen eines eigenartigen und sicher auch einzigartigen Experiments. Via Internet und mittels Zeichnungen kommunizierten Zeichner in Luzern (François Ayroles, Christophe Badoux, Alex Baladi, Mattt Konture, Andreas Kündig, Nicolas Mahler, Max) mit den Gästen der "Rencontres" in Bastia (David B., Jochen Gerner, Bruno Heitz, Killoffer, Marc-Antoine Mathieu, JC Menu, Marjane Satrapi, Lewis Trondheim und anderen).

Der virtuelle Brückenschlag zwischen der Insel im Mittelmeer und der Stadt am Vierwaldstättersee fand unter der ägide des Oubapo statt, des im Dunstkreis des Pariser Autorenverlags L'Association agierenden "Ouvroir de Bande dessinée Potentielle" ("öffner potenzieller Bildgeschichten"). Im Vorfeld bestimmten Jean-Christophe Menu, François Ayroles und Lewis Trondheim die Form - jeder Strip musste aus zwei quadratischen Panels bestehen - und die insgesamt 35 Themen - von den Radionachrichten am Morgen vor der Abreise über mitgebrachte oder vergessene Objekte, von Erlebnissen am Festival über sympathische oder weniger sympathische Begegnungen bis hin zu Beobachtungen in Bars oder KlosÉ . Diesen Vorgaben gehorchend erzählten die Zeichner kurze Anekdoten, mailten ihre Strips hin und her, reagierten auf die Strips der anderen und sorgten drei Tage lang für einen regen Austausch zwischen den beiden Anlässen.

Für "Oupus 4", die Buchausgabe dieses Projekts, wurde jeweils ein Strip aus Bastia mit einem Strip aus Luzern zu einem aus vier Panels bestehenden Streifen montiert. Nach dem Schema B-L-L-B oder L-B-B-L verknüpften diese neuen Strips nicht nur zwei Zeichner und zwei Festivals, sondern auch zwei verschiedene Themen. Das klingt nun arg kopfig, konstruiert und konzeptionell - doch straft die Lektüre von "Oupus 4" diese Vorurteile Lügen: Die Genialität der Grundidee und die Klasse der beteiligten Zeichner schaffen aus der Gegenüberstellung unterschiedlicher Sichtweisen auf den an sich banalen Alltag zweier Festivals verblüffende Bezüge mit hohem Unterhaltungswert.


Generativ und transformativ

Der Oubapo hat ein illustres Vorbild: Im November 1960 gründeten die Schriftsteller Raymond Queneau und François Le Lionnais den Oulipo ("Ouvroir de Littérature Potentielle"), dessen Aufgabe ist, mittels selbstauferlegter formaler und inhaltlicher Einschränkungen neue Ausdrucksweisen zu finden. Der Oulipo verfeinerte im Laufe der Jahre seine Ideen ständig, mehr noch: er ermunterte Künstler aus anderen Sparten zur Nachahmung. So riefen Musiker den OuMuPo ins Leben, Maler den OuPeinPo, Dramaturgen den OuTraPo - und 1992 hob eine kleine Gruppe von Comicautoren um Jean-Christophe Menu, Lewis Trondheim und den Kritiker Thierry Groensteen den Oubapo aus der Taufe, dem sich bald auch François Ayroles, Etienne Lécroart, Jochen Gerner, Killoffer und andere anschlossen. In mehreren Essays entwickelte Thierry Groensteen einen ausführlichen Katalog der auf die Sprache der Comics zugeschnittenen Einschränkungen und Zwänge, mittels derer die Oubapoisten das Potenzial der Erzählmöglichkeiten in Wort und Bild erforschen sollten. Groensteen unterscheidet grundsätzlich zwischen generativen Zwängen, die originale Werke hervorbringen, und transformativen Zwängen, die Eingriffe in bereits existierende Comics bedeuten (siehe unten "Zwänge und Einschränkungen", 1. Generative Zwänge).

Natürlich gab es schon vor dem Oubapo Autoren und Zeichner, die mit dem Comic experimentierten und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchten - der berühmteste ist zweifellos Moebius. Besonders interessant ist allerdings, dass zu den (unbewussten) Pionieren und Ahnen des Oubapo etliche amerikanische Comiczeichner des frühen 20. Jahrhunderts gehören. Sie betraten Neuland, eine neue Ausdrucksform, deren Gesetze sie erst verstehen und definieren mussten, und auf dem Weg zum festen Regelwerk experimentierten sie mit den Möglichkeiten, die ihnen die Verknüpfung von Wort und Bild und die Gestaltung der Seite gewährten. Nachträglich betrachtet scheinen nicht wenige frühe Comicseiten und -serien unter Oubapo-mässigen Bedingungen geschaffen worden zu sein. Am bekanntesten - und auch von Groensteen regelmässig zitiert - sind die "Upside-Downs", die Gustave Verbeek zwischen 1903 und 1905 im New York Herald publizierte.


Sinn und Unsinn

Natürlich drängt sich die Frage nach Sinn und Unsinn von derlei Experimenten auf, und man darf sich zu Recht fragen, ob dabei mehr herausschaut als Stilübungen und kurzlebiges Amüsement für die Autoren und eine Handvoll Insider.

Interessant sind die Bemühungen des Oubapo vielleicht nicht in erster Linie wegen der Comics, die ihre Bemühungen hervorbringen, sondern allgemeiner wegen der Reflextion über die Ausdrucksmöglichkeiten des Comics, die die Auseinandersetzung mit Beschränkungen automatisch auslöst. "Im besten Fall", sagte Killoffer in einem Interview mit der Fachzeitschrift Neuvime Art, "führen Einschränkungen zur Entdeckung neuer ästhetischer Ansätze und Formen, die einem gefallen und die man später wieder anwendet, allerdings ohne die konsequente Systematik eines Oubapo-Experiments. Wie alles andere können auch bewusste Einschränkungen in der Kunst sinnvoll sein - aber man muss sie auch überwinden können."

Und für den Leser? In den meisten Fällen sind die Comics des Oubapo unterhaltsam und amüsant. Die unter generativen Einschränkungen entstandenen Bildgeschichten spielen mit der Semantik der Comics, während die unter transformativen Zwängen produzierten Comics ihren Unterhaltungswert in erster Linie aus dem Umstand ziehen, dass sie klassische Serien verfremden und unterlaufen. In beiden Fällen schärfen die Experimente des Oubapo das Bewusstsein des Betrachters für die Eigenheiten der Comic-Sprache, ohne ihn dabei mit theoretischem Ballast zu belästigen.

Zwänge und Einschränkungen


(nach Thierry Groensteen)


1. Generative Zwänge

Die ikonische Einschränkung:
Sie untersagt dem Zeichner, ein gegebenes Element darzustellen. - In dieser STRAPAZIN-Ausgabe kann von einer ikonischen Einschränkung gesprochen werden, da die Zeichner den Auftrag erhielten, einen Comic ohne Handlungsträger zu zeichnen. Dafür gibt es auch schon Vorbilder aus der Zeit vor dem Oubapo - etwa "La Cage" von Martin Vaughn-James aus den 1970er-Jahren: In diesem 180 Seiten langen Comic wird keine einzige handelnde Figur im Bild gezeigt.

Die Mehrfach-Lesbarkeit:
Eine Comic-Seite muss in jede Richtung gelesen Sinn machen (von links nach rechts, rechts nach links, oben nach unten, unten nach oben, diagonal etc.).

Das Palindrom:
Der Comic muss auch rückwärts lesbar sein. - Ein Spezialist für Comic-Palindrome ist Etienne Lécroart, der ganze Comicalben wie etwa "Cercle Vicieux" nach diesem Prinzip geschaffen hat.

Die Umkehrbarkeit:
Die Comic-Seite muss sich auch auf den Kopf stellen lassen können. - Die berühmtesten Vorfahren sind die "Upside-Downs" von Gustave Verbeek (1903-05).

Die ikonische Iteration:
Ein Comic besteht aus demselben Bild; nur der Text ändert sich. - Mit endlos vervielfältigten Einzelbildern in Alben wie "Le Dormeur" und "Moins d'un quart de seconde pour vivre" begann Lewis Trondheim seine Karriere als Comic-"Zeichner".


2. Transformative Zwänge

Die ikonische Erweiterung:
Aus Detailansichten eines einzigen Panels wird eine ganze Geschichte erzählt.

Die Expansion:
Ein bestehender Comic wird durch das Einfügen zusätzlicher Panels gestreckt.

Die Reduktion:
Ein Comic wird auf ein paar Schlüsselpanels reduziert. - So haben François Ayroles und Jochen Gerner ganze "Tim und Struppi"-Alben auf vier, beziehungsweise zwei Panels verkürzt. Die Hybridation: Zwei verschiedene Comics werden miteinander verknüpft.

Die verbale Substitution:
Die Sprechblasen werden mit einem neuen Text gefüllt, der entweder aus einer anderen Comicserie oder vom Oubapoisten selber stammt. - Ein besonders schönes Beispiel ist François Ayroles' Verarbeitung von sieben Michel-Vaillant-Seiten in "Oupus 2", in welchen der Autorennfahrer Michel Vaillant, seine Eltern und sein Umfeld mit hochgestochenem, semiologischem Vokabular selbstkritisch und selbstmitleidig über ihre Existenz als (hölzern gezeichnete) Kunstfiguren in ultrabanalen Genre-Comics philosophieren.

Dies ist nur ein kleiner Teil der von Thierry Groensteen aufgelisteten Zwänge und Einschränkungen. Die gesamte Liste ist in "Oupus 1" oder "Schreibheft 51" nachzulesen.