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Einmal Südsee retour

Am 35. Mai muss der Mensch aufs Äusserste gefasst sein, ahnt Apotheker Ringelhuth, als er seinen Neffen Konrad von der Schule abholt. Die erste merkwürdige Begegnung machen Onkel und Neffe auf dem Nachhauseweg: Ein schwarzes Pferd bittet sie höflich um ein Stück Zucker und lehnt die Zigarette ab, die ihm stattdessen angeboten wird: “Danke, nein, ich bin Nichtraucher.” Trotzdem bleibt Konrad bedrückt. Er muss einen Aufsatz über die Südsee schreiben. Als der Rappe, ein ausgemustertes Zirkuspferd mit dem Namen Kaballo, wenig später in Ringelhuths Wohnung auftaucht, fasst dieser einen kühnen Entschluss: Um seinem Neffen Anschauungsmaterial zu geben, reisen sie auf Kaballos Rücken kurzerhand in die Südsee.

“Der 35. Mai”, Erich Kästners wunderbare und anarchische Abenteuergeschichte, erschien 1932 und wurde nun von Isabel Kreitz zu einem Comic verarbeitet. Da Kästners Kinderbücher untrennbar verknüpft sind mit den Zeichnungen von Walter Trier, hat Kreitz mit grosser Bescheidenheit, aber ebenso grossem Talent und Stilsicherheit aus ihrem “35. Mai” auch eine Hommage an den begnadeten Illustrator gemacht. Bis hin zur Kolorierung strahlen Kreitz' Zeichnungen eine angenehme nostalgische Wärme aus.

Auf ihrer rasanten Odyssee besuchen Onkel Ringelhuth, Neffe Konrad und Kaballo unter anderem das Schlaraffenland, die beängstigende Zukunftsstadt Elektropolis und eine Sonderschule, in der Eltern, die ihre Kinder misshandeln, gezüchtigt und umerzogen werden. Nach einem Galopp über den Äquator landen sie endlich in der Südsee, wo sich Konrad ein bisschen in die Häuptlingstochter Petersilie verliebt, deren Haut schwarz-weiss kariert ist wie ein Schachbrett, weil die Mutter ein Tippfräulein aus Holland war... Am Schluss dieses wilden Ritts um die Welt fragt sich der Leser jedenfalls verwundert, warum Erich Kästners Romane bisher immer nur verfilmt, aber nie in Comics umgesetzt wurden.

Christian Gasser




Isabel Kreitz / Erich Kästner: Der 35. Mai als Comic. Cecilie Dressler Verlag, 108 Seiten, farbig, Euro 16.90 / sFr. 30.10  
Verkannte Comic-Visionäre

Herbie Popnecker ist kein Junge wie jeder andere. Er ist so rund wie hoch, trägt eine lächerliche Pilzfrisur, dicke Brillengläser und wirkt leicht debil. Sein Vater hackt pausenlos auf ihm herum und mag ihn nur, wenn er weit weg ist – am besten bei seinem ebenso runden und bebrillten Grossvater.
Aber: Herbie Popnecker hat Superkräfte. Dank der magischen Lollypops in seinem Gürtel ist er mal übermenschlich stark, mal wahnwitzig schnell, saust durch die Luft oder macht sich unsichtbar. In “Herbie and the Loch Ness Monster” befreit er in Churchills Auftrag Britannien vom blutrünstigen Ungeheuer und darf sich zum Dank auf den Schoss der Queen setzen.
Die Herbie-Popnecker-Geschichten, die Ogden Whitney zwischen 1958 und 1967 nach Szenarien von Richard E. Hughes gezeichnet hat, gehören zu den bizarrsten Superheldencomics überhaupt. Sie sind witziger als jede Parodie – und zugleich unendlich traurig. Der dicke Junge wirkt selbst in den dramatischsten Momenten unbeteiligt, und nie spiegelt sich in seinem Gesicht auch nur die Andeutung einer Emotion. Was viele Superhelden-Autoren in prätentiösen Dialogen zerreden, vermittelt Ogden Whitney allein durch die Atmosphäre seiner Panels: Die unerträgliche Einsamkeit seines Helden.

Die Geschichte der amerikanischen Comics ist über weite Strecken identisch mit der Geschichte des Comicmarktes. Nach den anarchischen Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert, als eine Reihe begabter Zeichner ein neues Medium in aller Freiheit erforschten und nutzten, wurde der Zeitungsstrip schon bald durch die fortschreitende Syndikalisierung formatiert. Erfolglose Strips (und später auch Comic-Book-Serien) wurden ungeachtet ihrer künstlerischen Qualitäten eingestellt – die Ausnahme “Krazy Kat” bestätigte nur die Regel. Erst in den späten Sechzigerjahren, dank des Undergrounds, befreite sich der Comic vom Korsett des kommerziellen Diktats und erlaubte persönlichen Ausdruck jenseits der Mainstream-Stereotypen. Da in den Boomjahren jedoch eine enorme Nachfrage nach Comics herrschte, gab es durchaus Schlupfwinkel für Ungewöhnliches. Diesen kauzigen Aussenseitern errichtet “The Ganzfeld”-Herausgeber Dan Nadel in seiner prächtigen Anthologie “Art Out Of Time. Unknown Comics Visionaries 1900–1969” ein Denkmal und entwirft damit eine Parallelgeschichte der Comics: Ausnahmsweise wird die Vergangenheit nicht anhand vertrauter Klassiker aufgearbeitet, sondern anhand von Künstlern wie Dick Briefer, Stan Mac Govern, Boody Rogers, Cecil Jensen und Figuren wie White Boy, The Explorigator, Slim Jim, Sparky Watts oder Elmo – Namen, die heute selbst Comic-Kennern grösstenteils kein Begriff mehr sind.

Am bekanntesten ist ohne Zweifel Gustav Verbeek, dessen “The Upside Downs” (1903-05, siehe STRAPAZIN Nr. 83) bis heute verblüffen: Nach der Lektüre der ersten sechs Panels muss man die Seite wenden und den Strip kopfüber weiterlesen. Weit obskurer ist Herbert Crowley, in dessen “The Wiggle Much” (1910) form-, farb- und ausdruckslos rundliche Wesen vor detailreichen Hintergründen sinnfreie Erfahrungen machen. Nach dreizehn Folgen wurde diese surreale Comic-Poesie abgesetzt, und Herbert Crowley verschwand spurlos. Nur wenig mehr Erfolg hatte James Forbells “Naughty Pete” (1913), das fünf Monate lang erschien – seine intelligente Seitengestaltung nimmt etliche Innovationen Chris Wares vorweg!
Da es auch in den Comic-Books, die in den 1930er-Jahren entstanden, für Sonderlinge wenig Raum gab, mussten diese ihre Nischen innerhalb der existierenden Genres und Medien schaffen. Deshalb gaben sie vor, Superheldenstories zu erzählen, Western-Comics, Horror-Alpträume, Funny - Animals - Fabeln, häusliche Soap Operas und Vaudeville-Slapstick, und dehnten dabei die Genres bis an den Rand der Kenntlichkeit aus. Fletcher Hanks liess um 1940 seinen “Stardust the Superwizard” das Universum pausenlos vor kosmischen Katastrophen retten. Seine Erzählweise ist fiebrig, die Sprache simpel und kommentierend, der Strich kantig und ungelenk – in diesen Space-Opern ist man dem Art Brut verdächtig nahe.
Die stilistische und inhaltliche Bandbreite der neunundzwanzig in “Art Out Of Time” dem Vergessen entrissenen Kuriositäten ist gross. Gemein ist den Autoren und Zeichnern eine persönliche Vision, die kraft ihrer wahnwitzigen Einfälle und der obsessiven Dringlichkeit ihrer Arbeit über den Rahmen des Mainstreams hinausschaute. Damit beweist “Art Out Of Time”, dass die Comic-Geschichte noch vielfältiger ist als vermutet und es zahlreiche Zeichner und Serien wiederzuentdecken gilt. Der ansonsten bedingungslos zu empfehlende Band hat nur zwei Makel: Die Verkleinerung der Sonntagsseiten auf das Buchformat macht gewisse Texte unleserlich. Und warum Dan Nadel in seiner “brief chronology of modern comics” nur amerikanische Comics aufführt, ist sonderbar, leider aber auch typisch – an diese US-amerikanisch-zentrische Perspektive haben wir uns längst gewöhnen müssen.

Christian Gasser




Dan Nadel (Hg.): Art Out Of Time. Unknown Comics Visionaries 1900-1969.
Abrams Books, 320 Seiten, farbig, $ 40.- 
Kriegsverwirrungen

Die noch junge Karriere des italienischen Künstlers Gipi entwickelt sich rasant: Nach den zwei langen Geschichten “Le Local” (bislang nicht auf Deutsch erhältlich) und “Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte” sowie nach den zwei Kurzgeschichten in der “Kollektion Ignatz” und der Geschichtensammlung “Nachtaufnahmen” ist er einer der gefeiertsten Newcomer der Comicszene. Zuletzt wurde dies beim Festival in Angoulême mit der Auszeichnung der Kriegsgeschichten als bester Comic unterstrichen. “Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte” handelt von drei Jugendlichen, die sich in den Kriegswirren durchschlagen müssen und ist im Italien der nahen Zukunft angesiedelt. Giuliano, einer der Protagonisten, erzählt rückblickend, wie sein Alltag und derjenige seiner Freunde durch den Krieg zerstört wird.

Die drei Jugendlichen schlagen sich notdürftig mit Hehlerei durch. Für Giulianos Freunde Christian und Stefano eröffnen sich dabei ungeahnte Möglichkeiten: Während nämlich Giuliano aus der Mittelschicht stammt, sind die anderen beiden eigentliche Verlierer, deren gesellschaftliche Position sich in den neu herrschenden Verhältnissen nur verbessern kann. Durch den Kriminellen Felix werden sie erst Dealer und schliesslich Geldeintreiber. Vor allem der skrupellose Stefano nutzt die neuen Verhältnisse für sich aus – die Hierarchien ändern sich...

Gipis Stil bewegt sich von seinen ersten, sehr malerischen Arbeiten zunehmend in die Richtung schlichterer Zeichnungen mit einem harten, kantigen Strich, was ausgezeichnet zu seinen Sujets passt, die er meist in der gewalttätigen, armen Jugend der italienischen Provinz findet. Der aquarellierte Hintergrund ist jeweils kaum geschmeidig, sondern wirkt schmuddelig wie die staubigen Strassen und die heruntergekommenen Häuser in der Landschaft – schnell denkt man an Filmklassiker des Neorealismus, an Pasolinis Vorortsdramen “Mamma Roma” und “Accatone” oder an Viscontis “Rocco und seine Brüder”. Eine ähnliche Nähe zu den Figuren stellt Gipi mit der Charakterisierung der drei Jungen und ihrer Beziehung zueinander her. Die soziale Herkunft spielt dabei eine grosse Rolle, was nicht nur Giuliano in seinen Träumen bemerkt, für die Gipi, wie bereits in seinen anderen Arbeiten, den Zeichenstil ändert. Am Ende werden sie alle wieder von der alten gesellschaftlichen Ordnung eingeholt – wie Gipi auf den letzten Seiten gleich mehrere überraschende und bedeutsame Wendungen einbaut, zeugt von seiner dramaturgischen Souveränität.

Christian Meyer




Gipi: Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte. avant-verlag, 114 Seiten, zweifarbig, Euro 19.95 / sFr. 35.- 
Samurais gegen Gurus

Wilde Schlachten, Menschen mit Tierköpfen, Geister in den Wäldern und tiefes Schwarz, das oft die Panels bestimmt: Auf den ersten Blick scheint “Die heilige Krankheit” eher ein düsterer Heldenepos zu sein als eine Autobiografie – und doch ist der Comic von David B. (*1959 in Nîmes) genau dies. Gerade indem er Phantasie und Realität gleichberechtigt nebeneinander stellt und sie ineinander übergreifen lässt, zeichnet er ein genaueres Bild der kindlichen Erlebniswelt als manch anderer Autobiograf.

“Die heilige Krankheit” sollte man nicht auf das Thema der Epilepsie reduzieren, doch nimmt die Beschreibung der Krankheit des Bruders von David B. darin grossen Raum ein. Der Weg durch medizinische, religiöse und esoterische Institute scheint endlos und wird vom Autor mit Scharfsinn und bisweilen auch sarkastisch beschrieben. Und dennoch: Der Comic handelt weniger von der Krankheit an sich als vom gesellschaftlichen und persönlichen Umgang damit. Die Krankheit bleibt wie der betroffene Bruder immer ein wenig fremd. Währenddessen schildert David B. mit grosser Offenheit seine eigenen Gefühle – Furcht, Sorge und auch Hass. In Frankreich ist “L’Ascension du Haut Mal” schon längst ein Comic-Klassiker. Das jetzt in der Edition Moderne erschienene Buch ist die Übersetzung der ersten drei Bände des in sechs Bänden angelegten Werkes. Die restlichen drei Bände werden in einem Jahr auf Deutsch erscheinen.

Dem Autor gelingt es, die tiefsten Ängste genauso gut zu beschreiben wie die Wut, die er als Kind empfand und die für “hunderttausend Krieger” reichte. So füllt der kleine Fafou – ein Kosename des jungen David – stapelweise Blätter mit brutalen Schlachten und unzähligen Toten. Die Beschäftigung mit Schlachten und Kriegen ist für ihn gleichsam ein Ventil. Mehr noch: die Samurais und Soldaten bieten dem Jungen Schutz, genauso wie die Geister des Waldes, der das Haus umgibt und in den er sich nachts schleicht. Die wirkliche Gefahr geht stattdessen von den realen Menschen aus – von profilierungssüchtigen Ärzten, verdrehten Makrobiotikern und selbsternannten Gurus, die zwar Heil versprechen, sich aber alsbald als machtbesessene Ignoranten entpuppen.

David B. stattet seine Geschichte mit manchmal üppigen, von fernöstlichen Kulturen beeinflussten Ornamenten aus und lässt die Figuren seiner Kindheit mit mythologischen Gestalten umgeben. Dabei ist das fast schon obsessive Bedürfnis des Autors erkennbar, nicht nur blosse Verzierungen zu produzieren, sondern jene Bilder, die ihn als Junge auf Schritt und Tritt begleiteten und beständig aus seinem Innern in die Aussenwelt drangen. Mithin ein Grund, weshalb man sich diesem Werk nur schwer entziehen kann.

Tim Kongo




David B.: Die Heilige Krankheit. Edition Moderne, 176 Seiten, schwarz / weiss Euro 22.- / sFr. 39.80 
Märtyrer des Dekors

Alison Bechdel hat sich in den USA schon in den 1980ern als lesbische Cartoonistin einen Namen gemacht. Aber erst dieses Jahr erreichte sie dank ihrem autobiografischen Buch “Fun Home: A Family Tragicomic” internationale Anerkennung. “Fun Home” ist die humorvolle Abkürzung von “Funeral Home” (deutsch: Bestattungsinstitut) und der Name, welche Alison und ihre zwei Brüder dem Haus geben, in dem sie aufgewachsen sind.

Der Vater – Leichenbestatter, Englischlehrer, fanatischer Restaurateur viktorianischer Architektur und verkappter Homosexueller – hat das Haus bis ins kleinste Detail in eine Hochburg viktorianischen Designs umgebaut. Der Inhalt des Buches konzentriert sich denn auch ausschliesslich auf die Beziehung Alisons zu ihrem distanzierten Vater, diesem “Märtyrer des Dekors”, dessen einzige Freuden das Verschönern des Heimes und der (männliche) Babysitter und Gartengehilfe zu sein scheinen.

Die sieben Kapitel des Buches handeln in zyklischer Erzählstruktur von den Kernpunkten aus Alisons Kindheit: dem Telefongespräch mit der Mutter, die von der Homosexualität des Vaters erzählt, Alisons Brief an die Eltern, in dem sie ihren Eltern die eigene Homosexualität eingesteht, der obsessiven Beschäftigung des Vaters mit der Innendekoration des Hauses und zuletzt von seinem tödlichen Unfall, der vielleicht gar keiner war. Als roter Faden ziehen sich durch das über 200 Seiten starke Buch unzählige literarische Anspielungen, welche auf die familiären Verhältnisse übertragen werden. So werden unter anderem Bücher von Joyce, Fitzgerald, Proust und Colette auf intelligente Weise in die Familiengeschichte eingeflochten. Immer wieder zieht Bechdel Parallelen zwischen der Beziehung der beiden Hauptfiguren aus Joyces “Ulysses” und ihrer eigenen zu ihrem Vater. Damit hat sie etwas “Altes” und “Viktorianisches” restauriert und somit das Wesen ihres Vaters, dieser wundervollen komisch-tragischen Figur, die selber aus einem Roman zu stammen scheint, auf präzise Weise erfasst.

Giovanni Peduto




Alison Bechdel: Fun Home: A Family Tragicomic. Houghton Mifflin, Boston 2006, 232 Seiten, schwarzweiss/grau, Euro 17.95 
Urbane Poesie

Ingo Giezendanner alias GRRRR dokumentiert seit 1998 in der Manier eines Flaneurs die städtischen Räume, die er bewohnt. Anders aber als ein James Joyce oder Walter Benjamin bannt der Zürcher die Metropolen in Form von detailreichen Zeichnungen aufs Blatt. Treffend also, dass vor zwei Jahren seine Kunst das Atelier und die Ausstellungssäle verliess und sich auf die Strasse wagte. Aufmerksamen Passanten (oder Flaneuren!) werden jedenfalls seine Malereien auf dem Baustellenzaun des Kunsthaus Zürich aufgefallen sein – Malereien, welche Einsicht auf die Baustelle im Innern des Gebäudes gewährten.

Minutiös zeichnet GRRRR seine unmittelbare Umgebung, beschränkt sich dabei aber nicht nur auf seine Heimatstadt. In seinem 30. Buch “Urban recordings” lässt er den Leser auf fast 350 Seiten von Karachi über Nairobi nach New York oder London wandern, um immer wieder in das vertraute Nest an der Limmat zurückzukehren. Je dichter das Stadtbild, desto detailreicher der Strich. Deshalb gehört der Taxiparkplatz in Kampala oder die urbane Pflanzenwelt Zürichs zu den schönsten Seiten des Buches, zusammen mit den Betrachtungen kleinerer städtischer Bestandteile wie Werbeplakate, Graffitis oder Abfälle am Strassenrand. Mit Momentaufnahmen kurzlebiger Stadtviertel wie dem Shantytown oder des einst besetzten Sihlpapier-Geländes in Zürich versteht sich der Band auch als Gedächtnis einer sich rasch verändernden Städtelandschaft.

Doch Giezendanner schafft nicht nur Panoramabilder, er wagt sich auch näher ran, betritt Innenräume und gibt intime Orte wieder, die ebenso dicht sind wie die Aussenwelten. Nur die vereinzelten Porträts fallen wegen ihrer Schemenhaftigkeit aus der Reihe, stören den Leserhythmus und geben wenig her. Ansonsten fasziniert “Urban recordings” mit Bildern, die beinahe zu schade sind für das relativ kleine Buch. Giezendanners Darstellungen möchte man am liebsten in Originalgrösse auf der Strasse sehen, an Hauswänden – oder zumindest auf Baustellenzäunen.

Giovanni Peduto




Ingo Giezendanner: GRR30: urban recordings. Passenger Books, 344 Seiten, Euro 16.80 / sFr. 29.90, www.GRRRR.net 
Top Shelf erforscht die Kindheit

Der amerikanische Independent-Comic-Verlag Top Shelf macht dieser Tage Schlagzeilen mit der Veröffentlichung von “Lost Girls”, dem lang erwarteten “künstlerisch-pornografischen” Projekt von Alan Moore und Melinda Gebbie, das im Sommer sofort nach Erscheinen ausverkauft war und bereits seine dritte Auflage erlebt hat. Dabei war dieses kontroverse und ausgesprochen teure Projekt ein grosses Wagnis für Top Shelf, denn der Verlag existiert erst seit 1997. Heute ist Top Shelf immerhin ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Untergrund-Comicszene. Die beiden Gründer Brett Warnock und Chris Staros verbindet die Leidenschaft, junge, unbekannte Künstler zu unterstützen – wie früher auch der bedauerlicherweise eingegangene Verlag Highwater Books. Warnock und Staros wollen ein sehr breites Spektrum an Stilen präsentieren, legen dabei aber grossen Wert auf die Ausführung und eine hochwertige Ausstattung.

“Lost Girls” begann 1991 als Serie in der Zeitschrift Taboo, aber in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hatten es die meisten Fans bereits in einer von Borges’ Bibliotheken vermutet – oder vielleicht in Dylan Horrocks’ mythischem Leuchtturm? –, zusammen mit Moores anderem unvollendeten Meisterwerk “Big Numbers”. Mit der Publikation der “Lost Girls” so lange zu warten, erwies sich aber als der Sache würdig: Die ganze Geschichte nimmt nun drei riesige, farbige Hardcover-Bücher in Anspruch, verpackt in einem Schuber und mit einem Gewicht von mehr als einem Kilogramm. Der erste Eindruck ist der eines Comic-Kamasutra in Form eines mittelalterlichen Stundenbuches. “Lost Girls” ist in vielerlei Hinsicht ein Comic über die Kindheit, aber es ist mit Sicherheit kein Buch, das man einem Kind geben sollte. Moore und Gebbie erdichten eine Pubertät für Figuren wie Wendy (“Peter Pan”), Alice (“Alice im Wunderland”) oder Dorothy (“Der Zauberer von Oz”) und untersuchen die Schmerzen und Prüfungen dieser Zeit und den damit einhergehenden Verlust der Unschuld. Dabei – und das ist nicht überraschend, wenn man Moores Interessengebiete bedenkt – benutzt das Werk allseits bekannte literarische Figuren, um die Strukturen des “Ichs” zu untersuchen und zwingt den Leser, das Wesen der Pornografie zu überdenken und sie in Beziehung zur sogenannten Hochkunst zu setzen.

Im Gegensatz zu den “Lost Girls” ist Andy Runtons charmantes “Owly: The Way Home & The Bittersweet Summer” ein ausgezeichnetes Buch, um es mit einem Kind zu lesen: eine stille Geschichte, die den kindlichen (aber nicht kindischen) Blick auf die Welt einfängt und die Bedeutung der Freundschaft erforscht. Die Hauptfigur ist eine Eule mit grossen Augen und noch grösserem Herzen, an deren Lernprozess wir teilhaben. Die wundervollen Zeichnungen und die fantastischen Landschaften erinnern ein wenig an “Bone”, und die Charaktere – darunter ein sehr ausdrucksvoller Wurm und ein Kolibripärchen – sind einfach entzückend.

Top Shelf bietet noch ein weiteres Fenster in die Kindheit: mit “Spiral-Bound” von Aaron Renier, einem Band, dessen Design dem Titel entsprechend einen klassischen Schulblock imitiert. “Spiral-Bound” lässt uns an den Abenteuern einiger Kinder teilhaben, die in einer von antropomorphen Tieren bevölkerten Stadt leben. Dabei lernen sie etwas über Kreativität, Mut und die Herausforderung, älter zu werden, ohne das eigene Ich oder seinen Glauben zu verraten. Obwohl Renier noch sehr jung ist, lässt er ein ausserordentliches Talent für das Erzählen in Comicform erkennen: Seine Panels sind lebendig und detailliert und seine Seiten entwickeln einen natürlichen Sog. Seine wahre Leistung ist aber die gelungene Darstellung der Gefühlswelt eines Kindes, in der sich ein Sommernachmittag scheinbar endlos ausdehnen kann und genug Abenteuer für ein ganzes Leben bietet.

Das Thema “Kindheit” ist also ein guter Ansatz, das Programm von Top Shelf zu betrachten, auch wenn natürlich viele Bücher im Angebot sind, die weder von Kindern handeln, noch für solche gedacht sind. Ein grosser Teil des Katalogs besteht dennoch aus Comics, die für Kinder geeignet und ausserdem auch höchst unterhaltsam für Erwachsene sind – gab es nicht vor langer, langer Zeit einmal eine Periode, als man das von vielen guten Comics generell sagen konnte?

Mark David Nevins




Alan Moore & Melinda Gebbie: Lost Girls. Top Shelf, $ 75.- / Aaron Renier: Spiral-Bound. Top Shelf, $ 14.95 / Andy Runton: Owly: The Way Home & The Bittersweet Summer. Top Shelf, $ 10.- , www.topshelfcomix.com