Canicola, das italienische Strapazin

von David Basler

Genau fünf Jahre ist es her, dass Hans Keller im STRAPAZIN Nr. 66 unter dem Titel »Mano und die Comicsszene in Bologna« eine Bestandesaufnahme der Comicsszene in Bologna gemacht hat. Die Zeitschrift Mano gibt es zwar nicht mehr, doch ist mittlerweile wieder ein grossartiges Pflänzchen nachgewachsen, die Zeitschrift Canicola.


Im Editorial der ersten, im Frühjahr 2005 erschienenen Ausgabe von Canicola schreibt Edo Chieregato zuerst lange über die Bedeutung des Namens »Canicola« (»Gluthitze«, »Hundstage«), bevor er zum Schluss zugibt, dass sie diesen Namen gewählt haben, weil er sich einfach sehr gut angehört habe.
Durchaus ernsthafter ist im selben Editorial die Behauptung gemeint, dass Canicola als Gruppe vornehmlich von Zeichnern auftritt. Im Impressum der ersten beiden Ausgaben finden sich folglich die Namen der Autoren wieder, deren Geschichten in den beiden Heften abgedruckt sind: Andrea Bruno, Davide Catania, Edo Chieregato, Liliana Cupido, Giacomo Monti, Giacomo Nanni, Michelangelo Setola, Alessandro Tota, Amanda Vähämäki. Einzige Ausnahme im Impressum ist Liliana Cupido, die mit Edo Chieregato als Herausgeberin fungiert.
Erst in der dritten Ausgabe taucht zum ersten Mal ein Gastautor auf: der bei uns schon ziemlich bekannte Gipi. Er und Andrea Bruno gehören im Übrigen zu den Autoren, die wir damals im STRAPAZIN Nr. 66 bereits einmal vorgestellt haben. Die ersten drei Ausgaben von Canicola sind sich in Umfang, Gestaltung und Ausstattung sehr ähnlich: 80 Seiten, zweifarbiger Umschlag, 21 x 29 cm im Hochformat, die Seiten schwarz-weiss.
Die vierte, im Dezember 2006 erschienene Ausgabe unterscheidet sich nun wesentlich von den bisherigen. Die Seitenzahl hat sich mehr als verdoppelt und von den 192 Seiten nehmen Gastautoren über einen Drittel ein. Einige von ihnen – Marco Turunen, Anke Feuchtenberger und< Francesca Ghermandi – sind den STRAPAZIN-Lesern bereits bekannt. Man findet aber auch neue, interessante Autoren wie Gregor Wiggert, Jesse Moynihan, Yan Cong, Anders Nilsen und Chihoi. Die beiden Letzteren sind auch in der hier vorliegenden Ausgabe des STRAPAZIN zu finden.
Auffallend ist, dass Canicola zweisprachig erscheint: italienisch in den Sprechblasen, die englische< Übersetzung am unteren Rand der Comicseiten. So wird von Anfang an ganz bewusst auf eine grössere Verbreitung gesetzt, was mit der persönlichen Präsenz der Herausgeber an internationalen Festivals noch zusätzlich unterstrichen wird. Dies in der richtigen Annahme, dass in Italien kaum genug Interesse für diese Art von Comics existiert. Ob Canicola dank der englischen Übersetzungen höhere Verkaufszahlen erzielen kann, ist allerdings fraglich, da ein internationales Vertriebsnetz für Comics fehlt. Zumindest wird Canicola dank der englischen Übersetzungen aber zu einer grosszügigen Präsentationsmappe für seine Autoren.
Die Wesensverwandschaft mit Zeitschriften wie Orang aus Hamburg oder dem finnischen Glömp ist offensichtlich. Alle diese Zeitschriften stellen aufregende, in den letzten Jahren entstandene
lokale Comicsszenen vor und unterlegen ihre Geschichten mit einer englischen Übersetzung. Die Verwandschaft wird auch dadurch dokumen- tiert, dass verschiedene Geschichten der Canicola- Autoren bereits in Orang und Glömp abgedruckt worden sind und umgekehrt nun Gregor Wiggert und Marko Turunen in Canicola erscheinen. Zu einem fruchtbaren Austausch führen auch persönliche Verflechtungen: Die Finnin Amanda Vähämäki lebt seit sieben Jahren in Bologna, während der Bologneser Stefano Ricci seit drei Jahren in Hamburg wohnt und arbeitet.
Die vierte Ausgabe von Canicola ist mit ihren 192 Seiten und den verschiedenen Gastautoren entsprechend teurer geworden als die ersten drei Ausgaben. Die Herausgeber verlassen damit wagemutig einen einigermassen sicheren Weg und dürften wahrscheinlich Kopf und Kragen riskieren. Der Preis von 18 Euro geht nämlich in Italien, wo Comics immer noch vornehmlich über den Zeitschriftenhandel vertrieben werden, weit über das hinaus, was man für Comics zu bezahlen bereit ist. Und das internationale Publikum kann wegen des fehlenden Vertriebsnetzes fast nur an den einschlägigen Festivals erreicht werden.


Schlecht gezeichnet?
Zu den Canicola-Autoren, die in diesem STRAPAZIN präsentiert werden


Zeichnerische Virtuosität ist nicht das Markenzeichen der Canicola-Autoren. Die vordergründig dilettantischen, skizzenhaft erscheinenden Comics haben mein Interesse jedenfalls lange nicht zu wecken vermocht. Der zweimalige Gewinn des Zeichenwettbewerbs am Fumetto Comix-Festival in Luzern durch Canicola-Autoren – Amanda Vähämäki 2005 und Michelangelo Setola im letzten Jahr – liess mich aber aufhorchen. So habe ich Canicola nochmals in die Hand genommen und – gelesen! Da tat sich eine ganz andere, neue Welt auf: Scheinbar unbedeutende Alltagsgeschichten wurden in packender, poetischer und realistischer Art erzählt. Und plötzlich waren die Zeichnungen stimmig und verliehen den Szenen ungeahnte Tiefe.
Der ungelenke Stil von Giacomo Monti passt ideal zur Geschichte des verklemmten Enkels, der sich nach einem Besuch bei der Nonna mit den geschenkten 50 Euro etwas Liebe kaufen will. Da er sich mit der Prostituierten aber nicht über den Preis einigen kann, muss er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Das Mädchen begleitet ihn zur Türe, schliesst sie wieder zu, und er läuft davon – besser, als es Monti zeichnet, kann man die Banalität und Emotionslosigkeit dieser Szene nicht zeigen.
Treffend auch die Darstellung der Arbeit eines Kellners in einem Bingorestaurant. Monti zeigt das trostlose soziale Klima dieser schlecht entlohnten Arbeiter so genau und so authentisch, dass er es nur selbst erlebt haben kann.
Die Kindheitsgeschichten von Edo Chieregato, zeichnerisch von Michelangelo Setola umgesetzt, glänzen durch die Details und die erzählerische Exaktheit. Ein Junge fährt mit seinem Vater ans Meer, in Italien streikt der Tabakmonopolist, doch im Dorf bei Catania hat man davon nichts mitgekriegt. Der Vater ist zufrieden, wenn er sich eine ganze Stange MS kaufen kann, während Catania zur Pause bereits drei Tore kassiert hat. »Minchia ci vorebbe Cantarutti« (»Scheisse, Cantarutti muss her!«) sagt ein jugendlicher Nichtsnutz, der auf einer Vespa und gemeinsam mit einem Kumpel im wahrsten Sinne des Wortes dauernd durch die Geschichte fährt. Aber nicht nur deren Geschichte wird beiläufig mitgenommen, auch der Tabakverkäufer und seine Kundschaft in der Tabacchi- Bar kommen immer wieder ins Bild.
Chieregato schafft es, die Erzählstränge neben- und durcheinander laufen zu lassen, ohne dabei den Erzählfluss zu stören. Dazu die verschmierten, schlecht radierten Bleistiftzeichnungen von Michelangelo Setola – wenn man die Zeichnungen Montis ungelenk nennen mag, kann man Setolas Stil als schmutzig bezeichnen.
Schön hingegen sehen die Comics von Amanda Vähämäki aus, die in diesem STRAPAZIN ebenfalls vorgestellt wird. Enigmatisch und träumerisch sind die Inhalte ihrer Geschichten. Erinnerten ihre ersten Arbeiten zeichnerisch und inhaltlich an Anke Feuchtenberger, so ist die in der letzten Ausgabe von Canicola publizierte Geschichte ganz anders. Stilistisch hat sie sich nun Setola angenähert, inhaltlich hat sie mehr Kontur angenommen. Offensichtlich sucht Amanda Vähämäki, deren Talent unbestritten ist, noch ihren Stil.


PS: Im Editorial der letzten Ausgabe widmet sich Edo Chieregato noch einem ganz wichtigen Thema: dem Tischfussball und nach welchen komplizierten Regeln er in Italien gespielt wird. Der Grund für diesen editorialen Ausflug dürfte wohl, darin liegen dass die Canicola-Redaktion am Fumetto in Luzern meistens geschlagen wurde ... Da nützt alles Hadern über das im Ausland erlaubte Ziehen, Passen, Stossen und Rütteln nichts: Im Fussball mögen sie Weltmeister sein, im Comicbereich über ein wunderbares Magazin verfügen – aber im Tischfussball müssen die Italiener noch einen weiten Weg gehen, bis sie wenigstens STRAPAZIN-Niveau erreichen!