Materialien zu Kinderbüchern und ihren Autoren

Index

Komik. Comic. Bilderbuch
Illustration in Osteuropa
Das künstlerisch gestaltete Bilderbuch in den Vereinigten Staaten...
Dr. Seuss - Anarchie im Kinderzimmer
Arne Ungermann - Erle Perle Pif Paf Puf
Das Drama des alternden Kindhelden Frank Kings "Skeezix"-Bilderbücher
Tove Jansson
Miroslav Sasek, der Weltenbummler
Trnka, der Name zu den Bildern
Erinnerungen an Edward Gorey
Die Ligne Trier des Walter Trier
Me, myself and Ronald Searle
Wie man es anstellen soll, weiss ich auch nicht

Komik. Comic. Bilderbuch

von Jens Thiele

Es ist schon komisch: Komik im Bilderbuch ist eine scheinbar unverzichtbare Bedingung; Kinder sollen ordentlich was zum Lachen haben, wenn sie ein Bilderbuch anschauen – so ein breiter Konsens unter den Akteuren der Bilderbuchszene. Comic Strips aber, jene "komischen Streifen" aus Bild und Wort, die (oft) auf das Lachen hin angelegt sind, werden vom Bilderbuchmarkt bis heute mit einem gewissen Misstrauen beäugt, denn unausgesprochen gelten sie im pädagogisch geführten Diskurs über das gute Kinderbuch als Angebote zweiter Wahl oder, im Falle der Szene- und Avantgardecomics, als bildnerische Überforderung der Kinder. Dabei sind die erfolgreichsten Vorläufer des Bilderbuchs – Heinrich Hoffmanns "Struwwelpeter" (1845) und Wilhelm Buschs Bildgeschichte "Max und Moritz" (1864) – in ihrer Sequenzhaftigkeit und zeichnerischen Lust dem Comic Strip näher als dem Bilderbuch mit seinen geschlossenen Bildkonzepten und seinem disziplinierten Strich.

Das Bilderbuch ist ein merkwürdiges Medium: Es will Kinder bilden und fördern und hat doch im Verlaufe des 20. Jahrhunderts immer wieder mediale Einflüsse aus Comic, Film, TV-Kultur oder aus der Computerwelt abgewehrt, um seine pädagogische Besonderheit zu behaupten. Diese bestand freilich in erster Linie in einer eher kunstgewerblich ausgerichteten Illustration, die jede Form von Experiment oder Provokation vermied, und in Themen, die in künstliche Welten verpackt wurden. Erst mit der Popart flossen dann, wenn auch zögerlich, Alltag, Design, Comic, Werbung und Medienkultur auf Umwegen in die Kinderbuchillustration ein: Heinz Edelmann, Jürgen Spohn, Friedrich K. Waechter zeichneten für Kinder und kümmerten sich dabei wenig um die ungeschriebenen Gesetze des Bilderbuchmarktes. In Amerika war bereits zuvor Maurice Sendaks "In the Night Kitchen" (1970) erschienen, eine Bildgeschichte, die alles zugleich bot: Traum und Realität, Fantasie und Film, Comic und Bilderbuch.
Heute, in Zeiten des Crossover, der Inter- und Transmedialität, haben sich die ästhetischen Grenzen des Bilderbuchs spürbar geöffnet. Auch wenn die "pedagogical correctness" weiterhin als entscheidendes Kriterium des Bilderbuchmarktes gehandelt wird, scheint die Lust an veränderten, neuen Bilderfahrungen und anderen Erzählkonzepten größer geworden zu sein. Durch die Berührungen unterschiedlicher Medien, Gattungen und Stile rückt das Bilderbuch dichter an die ästhetischen Alltagserfahrungen der Heranwachsenden heran. Auch die Internationalisierung des Kinderbuchmarktes hat zu einer größeren Bandbreite von Erzählformen in Wort und Bild beigetragen.

Verdichtung des Erzählflusses

Der englische Autor und Zeichner Raymond Briggs ("Father Christmas", 1973; "When the Wind Blows", 1982) hat 1992 ein Bilderbuch veröffentlicht, das man auch als Comic lesen kann. "The Man" erzählt in einer zeichnerisch bewegten, beinahe rohen Form vom Konflikt zwischen einem Heranwachenden und seinem "inneren Besucher", einem rätselhaften, kleinwüchsigen Mann. Es geht zur Sache, wenn beide ihre politischen, kulturellen und ideologischen Positionen beziehen – Themen, die wohl nur in dieser bildnerisch undisziplinierten, gewaltsamen Form zu vermitteln sind. Briggs unterläuft alle ungeschriebenen Gesetze des Bilderbuchmarktes: Er zeigt Gewalt ohne Weichzeichner, er fragt nicht nach der ausgewogenen Bildkomposition, er verzichtet auf das nicht ausrottbare Stereotyp des Niedlichen, er erzählt von den unmittelbaren Alltagsproblemen eines Jungen, der eigentlich zu alt ist für das Bilderbuch, und es gibt kein Happy End. Layout und Typografie entsprechen der Dramatik der Handlung; die Bilder rücken so dicht aneinander, dass sich die Übergänge zwischen ihnen immer wieder auflösen; mehrere typografische Schichten schieben sich in die Bildräume hinein, das Layout wirkt zerrissen, unruhig, so dass man im Chaos der Bilder und Worte nach Orientierung sucht, so wie auch der Junge seinen Weg sucht. Dass sich ein deutscher Kinderbuchverlag entschlossen hat, diese Comic-Erzählung im Medium Bilderbuch zu veröffentlichen, dürfte auch an der Popularität des englischen Zeichners Raymond Briggs gelegen haben. Gleichwohl bieten solche marktstrategischen Erwägungen immer wieder die Chance zur Öffnung und Erweiterung des behüteten Mediums.

Postmoderne Ironie

Auch die experimentelleren Spielarten des Comics haben im letzten Jahrzehnt das Bilderbuch erreicht. Dass dieses Zusammenspiel in Frankreich stattfand, verweist auf die dortige hohe Wertschätzung der "bandes dessinées". Ein Jahr nach seinem Erscheinen in Frankreich wurde "John Chatterton détective" (1993) von Ivan Pommaux hierzulande unter dem Titel "Detektiv John Chatterton" veröffentlicht. Dieser Detektiv ist eine Mischung aus dem beweglichen Figurenset amerikanischer Zeichentrickserien wie "Tom und Jerry" und den verschlossenen Detektivtypen des Film noir der 40er-Jahre. Er tritt als postmoderner Zwitter auf, der augenzwinkernd zwischen verschiedenen Medien und Genres changiert. Er sitzt in einem kargen Souterrain-Büro wie Humphrey Bogart in "The Maltese Falcon" und erhält Besuch von einer mondänen Dame, welche ihm eine Geschichte erzählt, die an "Rotkäppchen" erinnert.

Pommaux legt seine sequenzhafte Erzählung vom verschwundenen Mädchen in Rot als ironisches Spiel mit der Medienkultur an, in der sich der (freilich erwachsene und gebildete) Betrachter amüsiert auf die Suche nach den verschiedenen Referenzen begeben kann: Er entdeckt nicht nur Zitate aus Grimms Märchen, sondern auch aus dem "Zauberer von Oz", und er taucht ein in die Bildästhetik der frühen Zeichentrickfilme und nimmt die Schwarzweiß-Ästhetik der schwarzen Filmserien und Comics wahr. Die Entfernung von den ästhetischen und thematischen Standards des Bilderbuchs bedeutet hier auch, dass sich die Kategorie des Adressaten verschiebt und der erwachsene Bilderbuchsammler ins Blickfeld rückt.

Das "unfertige" Bild

Das Bilderbuch hat aus seinem Verständnis vom "kindgemäßen" Bild heraus stets das überschaubare, sorgfältig durchgearbeitete, geschlossene Bild favorisiert, meist abgetrennt vom Text. Skizzenhafte, "unfertige" Bilder wie etwa von Tomi Ungerer, Friedrich K. Waechter oder Jutta Bauer blieben Ausnahmen. Die Comic-Kultur hat uns aber gelehrt, dass das Einzelbild Teil im Fluss der Bilder ist und doch symbolisch hochbedeutsam sein kann. Jutta Bauers Bildgeschichte "Opas Engel" (2001), die in ihrer Erzählkonzeption der Comic-Tradition nahe steht, führt das anschaulich vor Augen. Das Buch besteht aus kleinen, bewusst bescheiden gezeichneten Szenen, skizzenhaft mit der Feder angelegt, unterlegt mit blassen Aquarellfarben, immer mit einer treffsicheren Komik, die aber nie übertrieben wirkt, sondern von verhaltener zeichnerischer Bescheidenheit zeugt. So zum Beispiel, wenn der kleine Junge über gefährliche Abgründe springt und von seinem Schutzengel unmerklich gehalten wird. Wir sehen herausgehobene Momentaufnahmen in einem assoziativen Bilderfluss, der ein Vorher und ein Nachher einschließt.

Die Comic-Kultur in ihren vielschichtigen ästhetischen Erscheinungsformen hat dem Bilderbuch das angeboten, was ihm immer fremd war: eine Verdichtung des Erzählflusses in Bildern, einen unbekümmerten, lustbetonten Strich und damit in gewisser Weise eine Entpädagogisierung des Bildes, einen subversiven Ton, den Bildergeschichte und Comic Strip (im besten Falle) immer hatten, verbunden mit Themen, die auf symbolische Weise vom Alltagsleben erzählen. Die lange abgewehrten Einflüsse der Medienkultur haben den Bilderbuchmarkt, zumindest an seinen Randgebieten, lebendiger, lebensnäher und bildnerisch freier werden lassen. Auch wenn Comic- und Bilderbuchkultur in grundlegend unterschiedlichen gesellschaftlichen, medialen und künstlerischen Kontexten stehen, so können ihre Berührungen und Überlagerungen das Kind für die Teilhabe an einer vielfältigen, widersprüchlichen und zugleich faszinierenden Bilderwelt qualifizieren. Das ist dem Bilderbuch in seinen traditionellen Ausprägungen bis heute nicht gelungen.

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Jutta Bauer. "Opas Engel". Carlsen-Verlag, 2001 
Illustration in Osteuropa

von Andreas Bode

In unserer westlich orientierten Gesellschaft ist der Blick Richtung Mittel- und Osteuropa ziemlich benebelt, auch auf dem Gebiet der Kunst. Wer Illustration zur Kunst rechnet und nicht als Ge- oder gar Verbrauchskunst abtut, dem dämmert beim Namen Bilibin immerhin etwas. In der Tat, Ivan Jakovlevic Bilibin (1876-1942) war als Illustrator einer der herausragenden Vertreter der russischen Jahrhundertwendekunst, die auch dort eine grundlegende künstlerische Erneuerung im Sinn des Jugendstils bewirkte. Seine Mitstreiter waren die frühverstorbene Elena Polenova, Mstislav Dobuzinskij, Dmitrij Mitrochin, Bilibins Schüler Georgij Narbut und einige andere. Sie arbeiteten vor allem fürs Bilder- und Kinderbuch. Kinder sollten gute Bücher in die Hand bekommen. Deshalb verzichteten Künstler und Verleger weitgehend auf feste Einbände und schufen das preiswerte, aber anspruchsvoll gestaltete Heft, durchgehend farbig illustriert, meistens in Chromolithografietechnik.

Nach der Oktoberrevolution brauchte nur das Begonnene fortgesetzt zu werden. Neue Stilformen schufen die Konstruktivisten Vladimir Lebedev, Nikolaj Tyrsa, Vladimir Lapsin, Vera Ermolaeva und andere – solange man sie ließ. 1936 wurden die Vertreter dieser "Leningrader Schule" in der Pravda als Schmierfinken verunglimpft und auf den sozialistischen Realismus, wie er von Stalin gefordert und von Maksim Gorkij propagiert worden war, eingeschworen. Lebedev zeichnete fortan streng naturalistisch, andere Künstler verschwanden von der Bildfläche.
Volkstümlich oder allgemein konservativ arbeitende Illustratoren kamen nun zum Zug: Jurij Vasnecov, Aleksej Laptev und Evgenij Racev, der "Spätjugendstiler" Boris Dechterev – alles durchaus handwerklich professionell arbeitende Illustratoren, aber eben brav, abgesehen von der genialen Aquarellistin Tat jana Mavrina. Es dauerte naturgemäß lange, bis weit nach Stalins Tod, bis die jüngeren Künstler vorsichtig zu experimentieren begannen: Viktor Pivovarov, Michail Majofis, Jaan Tammsaar (heute Estland), Birute? Zilyte, die Brüder Aleksandr und Valerij Traugot. Für stilistische Analysen ist hier nicht Raum, es sei nur hingewiesen, dass neben den vielen mehr malerisch mit Deck- oder Aquarellfarben arbeitenden Künstlern – wie Vladimir Konasevic, Nikolaj Ustinov oder Evgenij Carusin – auch immer Künstler der Linie präsent waren, etwa das Karikaturistenteam der Stalinzeit Kukryniksy (Pseudonym für die Künstler M. Kuprijanov, P. Krylov und N. Sokolov) und in der Chruscev-Ära Fedor Lemkul’, Viktor Cizikov, Gennadij Kalinovskij, aus den baltischen Ländern Vello Vinn, Valerij Slauk und einige andere. Heute sind, entsprechend der Tendenz der neunziger Jahre, vor allem die "Miniaturisten" Gennadij Spirin und das Ehepaar Andrej Dugin und Ol’ga Dugina und die vordergründig naturalistisch malende Anastas’ja Archipova bekannt – alles Emigranten.

Die tschechischen Illustratoren hatten im österreichischen Kaiserreich zwar alle von der Wiener Sezession gelernt, aber schwammen nicht in ihrem Fahrwasser, sondern trugen einen bedeutenden Teil zu deren Glanz bei – die in Prag und anderswo in Böhmen und Mähren ansässigen Adolf Kaspar, Vojtech Preissig, Artus Scheiner und andere. Bis weit über die Grenzen breitete sich seit den zwanziger Jahren der Ruhm von Josef Lada aus, vor allem als Illustrator der "Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" von Jaroslav Hasek. Von den zahlreichen farbigen Bilderbüchern, die er in seiner gerundeten Linienkunst und immer mit Humor schuf, drang nur wenig bis zu uns, und kaum in adäquater Druckqualität. Zu den wichtigen Illustratoren der zwanziger und folgenden Jahre gehörten aber auch Josef Capek und Antonín Strnadel. Erst in der Nachkriegszeit konnten sich einige, noch vor 1945 ausgebildete Künstler mit großem zeichnerischen Können entfalten und den "typisch tschechischen" Stil in der Illustration – eine geschickte Mischung aus Volkskunst und Moderne in dekorativen Formen und Farben – schaffen, der auch unter dem sozialistischen Regime nicht verkümmerte; zu ihnen gehörten Jirí Trnka, Karel Müller, der Slowake Vincent Hlozník, Ota Janecek, Mirko Hanák und Dagmar Berková. Hauptsächlich arbeiteten diese Künstler malerisch. Zu den wenigen linear arbeitenden gehörte die dekorativ ausgerichtete, aber mit Humor begabte Helena Zmatlíková. Besonders fantasievoll als Grafikerinnen waren Kveta Pacovská und Markéta Prachatická. Der slowakische Illustrator Miroslav Cipár war auch als Trickfilmzeichner tätig. Als Vertreter des fantastischen Realismus muss man den Slowaken Albín Brunovsky bezeichnen, doch hatte auch die groteske Illustration etliche Anhänger, beginnend mit Cyril Bouda. Der exzellente Grafiker Adolf Born gehört ebenso dazu.

Und was tat sich in Polen? Sehr viel! Erst nach dem 1. Weltkrieg bekam Polen für wenige Jahre seine Selbstständigkeit zurück. In der Zeit davor reichte der künstlerische Einfluss Frankreichs und Englands bis ins Polnische. Zentrum der "Engländer" war Krakau, das damals zu Österreich gehörte. Zu ihnen zählte der Illustrator Józef Czajkowski. Im russischen Warschau herrschte der französische Einfluss, ihr Haupt war der Maler und Grafiker Stanisl/aw Wyspianski, der auch illustrierte. Nach dem Ersten Weltkrieg schloss sich die Illustrationskunst der Moderne in Maßen an, wofür Namen wie Edmund Bartl/omiejczyk, Stanisl/aw Bobinski und Stefan Norblin als Nachjugendstilkünstler stehen, während Janusz Levitt (Pseudonym Jan Lewitt) und Jerzy Him eher Einflüsse der Konstruktivisten aufnahmen. Nachdem die Kunst ins schwarze Loch der nationalsozialistischen Unterdrückung gefallen war, konnte sie 1945, wie in der Tschechoslowakei, kurze Zeit vom politischen Druck befreit, zeigen, dass sie überlebt hatte. Mit der Tätigkeit von Jan Marcin Szancer, Jan Grabia´nski und einiger anderer etablierte sich die Buchillustration neu, hier vor allem im Kinderbuch, das als weitgehend unpolitisch bald ein beliebtes Fluchteiland für Illustratoren wurde, die sich von den neuen Unterdrückern politisch nicht einspannen lassen wollten. Das traf natürlich für alle kommunistischen Regime zu. In den fünfziger Jahren freilich, solange die Beschränktheit stalinistischer Kunstfunktionäre herrschte, war Volkstümlichkeit angesagt. Aber es geschah das künstlerische Wunder der Tauwetterzeit nach Stalin, als sich die Plakatkunst vor allem in Polen zu einer avantgardistischen grafischen Kunst aufschwang, die auch erheblichen Einfluss auf die Buchillustration nahm. Das Plakative, Flächige des Plakats einerseits, die freie, stark ins Groteske und surreale ausschreitende Phantasie ihrer Künstler andererseits war wie geschaffen für das auf holzhaltigem Papier wenig sorgfältig gedruckte Buch, vor allem für das Kinderbuch, das ja billig sein sollte. In diesem Medium und seinem rohen Material wirkten die stark vereinfachten Formen und reduzierten, flächigen Farben, die im Offsetdruck vom rauen Papier geradezu gierig aufgesogen wurden, wie originalgrafische Arbeiten, zum Beispiel die Illustrationen von Janusz Stanny, Jerzy Srokowski, Bohdan Butenko, Jan Lenica und Tereza Wilbik. Doch selbst differenzierte Farbaufträge wie die eines Stasys Eidrigevicius bekamen in der Vergröberung durch den Druck eine neue grafische Wirkung, die sie auf glattem weissen "westlichen" Papier – oft zum Ärger der ambitionierten Illustratoren – nie erreichten. Das wird klar ersichtlich, wenn bestimmte Auflagen für den westlichen Markt auf besseres Papier gedruckt wurden. Leider endete diese Zeit freier grafischer Gestaltung in der Illustration ziemlich bald. Sicher spielte das sich verändernde, stärker reaktionäre politische Klima im kommunistischen Regime seine Rolle der Knebelung der Kunst, doch hatte sich auch der Geschmack des Publikums verändert. Ausgehend von der Popart in Westeuropa und den USA drangen einerseits jugendstilartige Formen in die Illustration ein, andererseits war Volkstümlichkeit wieder stärker gefragt. Einsame Größe war hier neben viel Durchschnittlichem Olga Siemaszko. Schließlich waren auch die Illustratoren immer weniger willens, ihre Vorlagen nach den Unzulänglichkeiten der Reproduktion auszurichten, und aquarellierten, was das Zeug hielt, mochte das Druckergebnis noch so patzig ausfallen. Zum Beispiel wechselte Józef Wilkon von der grafisch popartigen Illustration zu malerischen Zeichnungen, Antoni Boratynski tobte sich expressiv mit dem Pinsel aus.

Heute ist leider von der Eigenart polnischer, tschechischer und russischer Illustrationskunst nur noch wenig vorhanden. Nach der Wende hatte die westliche Unverbindlichkeit der Massenproduktion, genauer gesagt, die disneysche Uniformität vorerst auf der ganzen Linie gesiegt. Allenfalls wurden alte Illustrationen hervorgezogen und recht lieblos nachgedruckt. Einige wenige Künstler konnten sich auch unter den neuen Bedingungen behaupten, wenn sie auch häufig oder gar überwiegend für westeuropäische Verlage arbeiten wie etwa Józef Wilkon. In der Slowakei hat Dusan Kállay das Erbe von Albín Brunovsky angetreten, einige wenige Versuche moderner Illustration gibt es in jedem der Länder. Der Rest ist Wüste. Nur zaghaft wächst daraus wieder so etwas Ähnliches wie Buchkunst hervor.

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Viktor Pivovarov. "Skandinavskie skazki". 1982
Das künstlerisch gestaltete Bilderbuch in den Vereinigten Staaten von Amerika seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

von Dr. P. Christian Hauswedell

Seit der Mitte der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts begann sich in den Vereinigten Staaten eine eigene Bilderbuch-Kultur zu entwickeln, die nicht mehr von den europäischen Vorbildern abhängig war. Durch verlegerische Aktivitäten und eine Fülle begabter Illustratoren entstand ein Kanon bedeutender Bilderbücher mit genuin amerikanischer Identität. Unterstützt durch die Vervollkommnung der Drucktechniken (insbesondere des Farbendrucks), die Verbreitung des Bildungsgedankens und die kommerziellen Chancen eigener Bilderbuch-Abteilungen in den großen Verlagen gewann das amerikanische Bilderbuch an künstlerischer Qualität und pädagogischer Bedeutung. Bereits seit 1921 wurde durch die American Library Association die "Newbery Medal" für das jährlich beste Jugendbuch verliehen; im Jahre 1938 wurde diese Auszeichnung durch die "Caldecott Medal" ergänzt, die jährlich an den bedeutendsten Bilderbuch-Künstler vergeben wird. Ab 1924 wurde in Boston von Bertha Mahoney und Elinor Whitney das Horn Book Magazine herausge-geben, in dem ausschließlich Jugendbücher und Bilderbücher rezensiert werden. Legendäre Lektorinnen wie Ursula Nordstrom im Verlag Harper und Margaret McElderry bei Harcourt Brace sowie Ann Beneduce haben in den fünfziger und sechziger Jahren gezielt Illustratoren-Talente gesucht und gefördert. Bedeutende Kinderbuch-Autorinnen wie Charlotte Zolotow, Margaret Wise Brown und Ruth Krauss wurden mit kongenialen Illustratoren zusammengebracht.

Die amerikanischen Bilderbuch-Verleger haben im internationalen Vergleich eine Reihe von Vorteilen. Der größte ist der kaufkräftige Binnenmarkt mit heute über 300 Millionen Einwohnern, die gewohnt sind, für die Bildung ihrer Kinder etwas auszugeben. So konnte man immer mit großen Auflagen kalkulieren. Einige der Startauflagen der legendären, preiswerten Pappdeckel-Bilderbücher Little Golden Books (Golden Press, Western Publishing Company), die ab 1942 erschienen, lagen bei 50'000 (!) Exemplaren und wurden meist nachgedruckt. Die Rechte für gute Bilderbücher lassen sich wegen der unbedeutenden sprachlichen Barriere auch gut nach Kanada, Großbritannien und Australien verkaufen. Amerikanische Verlage sind heute bei den Buchmessen in Frankfurt und der Kinderbuchmesse in Bologna stets führend vertreten. Im eigenen Lande haben sich die amerikanischen Verlage auch lange Zeit darauf verlassen können, dass die Regierung und die Einzelstaaten die Volksbildung durch großzügige Ausstattung der Ankaufsetats der öffentlichen Bibliotheken unterstützen. Selbst wenn diese Zuschüsse inzwischen zurückgeganen sind, war der positive Einfluss für die Verbreitung der Bilderbücher doch beträchtlich. Auch die Ausstattung der Bilderbücher war anspruchsvoll. Von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren waren Leinen- oder Halbleinen-Einbände manchmal häufiger als der laminierte Pappband. Fast alle amerikanischen Verlage haben für lange Zeit neben der normalen Auflage eines Bilderbuchs auch eine sogenannte "Library Copy" ausgeliefert, die durch einen besonders haltbaren, schmutzabweisenden Einband zum Glück der Sammler eine erstaunliche Langlebigkeit aufweist.

Es würde den Rahmen dieser kleinen Übersicht sprengen, hier eine erschöpfende Aufzählung der mächtigsten amerikanischen Bilderbuchkünstler vorzunehmen. Aber eine Klassifizierung soll versucht werden. Zunächst geht es um die großen Künstler, welche – zum Teil auch aus Europa kommend – den Sprung über den Atlantik geschafft und auch bei uns weite Verbreitung gefunden haben. Zu dieser Gruppe zählen der unbestrittene Nestor der amerikanischen Bilderbuch-Künstler, Maurice Sendak, aber auch deutlich William Steig, Leo Lionni, Chris van Allsburg, Eric Carle, Martin und Alice Provensen, Edward Gorey, Hans Augusto Rey, Tomi Ungerer und Roger Duvoisin. Es gibt aber darüber hinaus eine beachtliche Gruppe bei uns leider weniger bekannter amerikanischer Illustratoren, die in künstlerischer Hinsicht mit der oberen Gruppe durchaus gleichwertig sind. Da hier nur Platz für ein paar wenige Namen ist, folgt eine subjektiv bestimmte Auswahl, die selbstredend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Die leider viel zu früh verstorbene Margot Zemach, die sich im Rahmen ihrer künstlerischen Ausbildung auch in Europa aufhielt, hat vor allem Volkserzählungen, Märchen, Kinderlieder und jüdische Themen (viel von I.B. Singer) illustriert. Sie hat die Fähigkeit, komische und absurde Charaktere mit großer menschlicher Wärme darzustellen. Meine Favoriten: die von ihrem Ehemann Harvey Zemach nacherzählte schwedische Volkserzählung "Nail Soup" und der Ozark-Volksgesang "Mommy, buy me a china doll". An schalkhaftem Humor wird sie nur vom ebenfalls früh verstorbene Arnold Lobel übertroffen, der in seinen Illustrationen an Edward Lear erinnert und neben Illustrationen für andere Autoren seine 28 Bilderbücher selber verfasst und illustriert hat. Seine "Frog and Toad"-Geschichten in der "I can read"-Reihe des Verlags Harper & Row werden immer noch aufgelegt. Unübertroffen seine Erzählung "Tear water tea" in dem Buch "Owl at home", in der sich eine liebenswert kauzige Eule ihren Tee mit Tränen aufbrüht. Die dreifache Caldecott-Medal-Gewinnerin Marcia Brown, Jahrgang 1918, hat ebenfalls an die dreißig Bücher illustriert. Ihre Illustrationen zu Andersens Märchen (insbesondere "Der standhafte Zinnsoldat" und "Die wilden Schwäne" ) sowie Perraults "Der gestiefelte Kater" haben Bestand. Sie sind besonders einfühlsam, originell und farbenfroh. Der aus Italien in die USA emigrierte Beni Montresor war eigentlich Bühnenbildner und Kostüm-Designer, bevor er sich auch der Illustration von Bilderbüchern zuwandte. Seine Illustrationen zu Beatrice Schenk de Regniers "May I bring a friend" gewannen 1965 die Caldecott Medal. Andere Favoriten sind sein ABC-Buch "A for an angel" und seine Ilustrationen in "I saw a ship a sailing" zu Mother-Goose-Reimen. Das aus Deutschland und Norwegen stammende Illustratoren-Ehepaar Ingri und Edgar Parin d’Aulaire, die schon 1929 in die USA ausgewandert waren, illustrierten vorwiegend nordische Sagen und Mythen, aber dann zunehmend in großformatigen Bilderbüchern mit einer hervorragenden Farblithografie-Technik amerikanische Geschichte und Biografien, u.a. zu George Washington, Abraham Lincoln (Caldecott Medal 1939), Pocahontas, Benjamin Franklin und Buffalo Bill. Während des 2. Weltkriegs fielen sie durch patriotische Bilderbücher wie "The star spangled banner" und "Wings for Per" auf.

Ein absoluter Meister absurder Komik und verschmitzten Humors ist der ebenfalls früh verstorbene Illustrator James Marshall, der insbesondere durch sein Flusspferd-Paar George und Martha wie auch die Charaktere in "The Stupids" und "The Cut-outs" zu einem Klassiker wurde. Sein exzentrischer Humor kommt auch in seinen Off-Beat-Illustrationen der Märchen-Klassiker ("Hansel and Gretel", "Little Red Riding Hood" und "Cinderella") sowie in "Goldilocks and the three Bears" und in den hintergründig komischen Geschichten in "Rats on the roof" zum Ausdruck.
Im gleichen Atemzug sollten auch andere grandiose Illustratorinnen genannt werden, die in den fünfziger und sechziger Jahren die große Tradition ihrer Vorgängerinnen Wanda Gag, Helen Sewell, Virginia Lee Burton und Lois Lenski fortsetzten. Hier stechen besonders hervor: die großartigen Koloristinnen Adrienne Adams und Barbara Cooney und die naiv farbenfrohen Illustrationen von Dahlov Ipcar. Viele amerikanische Bilderbuchkünstler sind über die Werbegrafik und das Design zur Bilderbuch-Illustration gekommen, wie Eric Carle, Paul Rand, Ivan Chermayeff, Joseph Low, Leo Lionni und Simms Taback. Andere sind bekannte Karikaturisten, die unter anderem auch für den New Yorker gearbeitet haben bzw. noch arbeiten. Hier wären William Steig, Roz Chast, Seymour Chwast und James Stevenson aufzuzählen. Unter den Karikaturisten, die zu Bilderbuch-Autoren wurden, sind Theodor Seuss Geisel (Dr. Seuss) und Crocket Johnson die prominentesten. Es gibt auch eine Querverbindung von den Walt-Disney-Studios zur Bilderbuch-Illustration, denn Hardie Gramatky, Kay Nielsen, Gustaf Tenggren, Mary Blair und das Ehepaar Provensen hatten vorher bei Disney gearbeitet. Eine Besonderheit der amerikanischen Bilderbuch-Illustration sind gemeinsam arbeitende Ehepaare, "husband & wife"-Teams, von denen sich meist ein Partner auf den Text und der andere auf die Illustration spezialisiert. Misha und Maud Petersham, Ingri und Edgar Parin d’Aulaire sowie Berta and Elmar Hader wirkten in den dreißiger und vierziger Jahren; in der neueren Zeit waren Alice und Martin Provensen sowie zurzeit Leo und Diane Dillon solche "teams".

In den letzten zehn bis zwanzig Jahren sind eine Reihe neuer Illustratoren-Talente am amerikanischen Bilderbuchmarkt aufgetaucht. Sollte man einige Namen nennen, kommt man an der in leuchtenden Farben malenden Karen Barbour nicht vobei, die mit multikultureller Begabung die Welt der Karibik ("Flamboyan") ebenso beherrscht wie das Mittelmeer ("I have an olive tree)" und auch Ge-dichtsammlungen (z. B. "Street music" von Arnold Adoff oder "Marvelous math" von L.B. Hopkins) durch ihre Illustrationen buchstäblich schwingen lässt. Auf der humoristischen Seite sind vor allem die sehr oft in Schwarzweiß arbeitende New Yorker Künstlerin Amy Schwartz zu nennen, die typische Kindheitserlebnisse in der Großstadt einfühlsam illustriert ("Annabelle Swift, Kindergartner", "Jane Martin, Dog Detective", "Oma and Bobo", "Maggie doesn’t want to move"), aber auch der ungemein produktive G. Brian Karas ("Mr. Carey’s garden", "Truman’s aunt farm"). Die Illustratorin Nadine Bernhard Westcott, die Situationskomik zeichnerisch hervorragend darstellen kann ("How to grow a picket fence", "I have been working on the railroad") gehört ebenso zu dieser Richtung wie Paul Yalowitz. Seine wichtigsten Arbeiten sind "Somebody loves you, Mr. Hatch", "Some of my best friends are monsters" und "Moonstruck – The true story of the cow who jumped over the moon". Der Maler Todd McKie arbeitet mit vermeintlicher Naivität und großer Farblichkeit, die an die britische Illustratorin Lucy Cousins erinnert, aber zu den Texten von Harriet Ziefert reichere Tiefgründigkeit erreicht. Schließlich hat der in China geborene und später in die USA emigrierte Ed Young viele hochgepriesene Bilderbücher entweder illustriert oder geschrieben. Seine Naturstudien, etwa in der Illustration zu "Birches" von Robert Frost oder auch die Wüsten-Darstellung in "Desert song", sind mehr als gekonnt.

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William Steig. "Shrek!". Gerstenberg Verlag, 1991 
Dr. Seuss - Anarchie im Kinderzimmer

von Matthias Schneider

"Bump" lärmt es laut, als für uns süddeutsche Gymnasiasten die Anarchie im Klassenzimmer ausbricht. Ein neuer Kunstlehrer hält die Vertretungsstunde. Mitten im Diktat wirft er urplötzlich Stühle um und macht allerlei Radau. Unser verdutztes Staunen schlägt sofort in Begeisterung um, als wir aufgefordert werden, die Laute in Worte zu fassen. Es ist das einzige Diktat, das mir in Erinnerung geblieben ist, weil es so viel Spaß gemacht hat.

"Bump" lärmt es laut, als The Cat in the Hat erstmalig für Chaos im Kinderzimmer sorgt. Allein zu Hause, sitzen zwei Geschwister gelangweilt am Fenster und betrachten den Regen. "And then something went bump! How that bump made us jump." Durch die Tür tritt der Polterkater mit Schirm, Charme und Wackelhut. Der Goldfisch warnt noch die Kinde: "Make that cat go away! You don’t want to play", da herrscht bereits die Anarchie im trauten Heim. Auf einem Wasserball stehend, jongliert der Kater den Goldfisch im Wasserglas, eine Torte, Bücher und allerlei Krimskrams, bis... na ja, bis zu dem Moment, als alles auf den Boden donnert. Die beiden Kater-Helferlein "Thing 1" und "Thing 2" sorgen für weiteren Tumult, als sie versuchen, in der Wohnung Drachen steigen zu lassen. "We saw the two Things, bump their kites on the wall! Bump! Thump! Thump! Bump! Down the wall in the hall. "Die Rhythmik der Verse verleiht den quicklebendigen Illustrationen eine mitreißende Dynamik. Und die Gesichter der Kinder spiegeln zugleich Verzückung und schlechtes Gewissen wider, das schlagartigem Entsetzen weicht, als sie ihre Mutter herannahen sehen. Und erneut ist der Kater mit Hut für eine Überraschung gut und räumt schwuppdiwupp mit Hilfe einer vielarmigen Fantasiemaschine die Wohnung wieder auf.

Für vorurteilsbehaftete Europäer ist es kaum zu glauben, dass "The Cat in the Hat" in den fünfziger Jahren im Auftrag des amerikanischen Bildungsministeriums entstanden ist. Unter dem Pseudonym Dr. Seuss entwickelt Theodor Seuss Geisel, Sohn deutscher Immigranten, 1904 in Springfield, Massachusetts, geboren, den immer gutgelaunten Chaoskater für die Reihe Beginner Books. Mit dieser Kinderbuchserie soll bei den ABC-Schützen wieder die Lust am Lesen gefördert werden. Denn in den fünfziger Jahren befürchtet man, dass die Jugend verdummt, ausgelöst durch Frederic Werthams Comic-verteufelung "Seduction of the Innocent", langweilige Kin derbücher und ansteigenden Fernsehkonsum. Und nach einer These von Louis Menand, einem Autor des New Yorker, spielen ebenso die Sputniks eine maßgebliche Rolle. Aufgrund des Vorsprungs im Weltall wächst in den USA nämlich die Angst vor einer übermächtigen UdSSR. So wird im Zuge des Kalten Krieges die Bildung zum Bestandteil der Landesverteidigung und der Demokratie erhoben. Von dem Bildungsprogramm profitieren die Kinderbuchverlage, insbesondere Random House, denen es gelingt, dass die Beginner Books als Schulmaterial zum Einsatz kommen, wodurch hohe Auflagen garantiert sind.

Die Figur des Anarchokaters entsteht dabei durch Zufall. Der Cartoonist und Illustrator Geisel erhält von dem Verlag eine Liste mit 300 ausgewählten Wörtern für Leseanfänger, aus denen er eine Geschichte entwickeln soll. Dabei stechen ihm sofort die beiden Wörter "cat" und "hat" ins Auge. Für die Story selbst sitzt er um so länger dran, insgesamt neun Monate. "Throwing it across the room and letting it hang for a while – but I finally got it done." Um den Text unterhaltsamer zu gestalten und den Kindern den Zugang zu erleichtern, rhythmisiert Geisel ihn mit Hilfe von Reimen und zum Teil dadaistischen Wortspielereien; eine Technik, die er bereits bei seinen Antinazi-Animationsfilmen "Private Snafu" zur Vollendung gebracht hat. So holpern und poltern die Wörter im Einklang mit all dem lebhaften und umtriebigen Fantasiegetier des Dr. Seuss – wie in "Fox in socks", "Hop and pop", "One fish. Two fish. Red fish. Blue fish" und vielen anderen Büchern. Allerdings fand nur ein Bruchteil von Dr. Seuss’ Œuvre den Weg in deutschsprachige Kinderzimmer, wohl aufgrund der Übersetzungsschwierigkeiten als auch der schrillen Geschichten, die dem hierzulande vom Bildungsbürgertum geprägten Kinderbuchmarkt überhaupt nicht gefallen. Leider darf das Lernen noch viel zu selten Spaß machen – und dies keineswegs nur in den Gymnasien Süddeutschlands.

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Dr. Seuss. " The Cat in the hat". Random House, 1957
Arne Ungermann - Erle Perle Pif Paf Puf

von Atak

Zusammen mit dem Dichter Jens Sigsgaard schuf Arne Ungermann gleich drei dänische Kinderbuch-Klassiker. Allein beim Lesen der Titel wie "Okker gokker Gummiklokker" (1943) oder "Abel Spendabel" (1945) ist der Spaß an den Nonsensreimen und den grotesken Bildern gut vorstellbar. Ungermanns drittes Buch "Palle alene i verden" ("Paul allein auf der Welt") von 1942 wurde international ein großer Erfolg. In mehrere Sprachen übersetzt, gibt es bis heute immer wieder Neuauflagen.
Etwas vergilbt liegt das Büchlein jahrelang unbeachtet im Regal meiner Oma. Auf dem Umschlag steht ein kleiner Junge mit einer gestreiften Schirmmütze vor einer niedlichen Kleinstadtkulisse, in der einen Hand einen Keks, in der anderen einen Geldbeutel. Er ist vielleicht fünf Jahre alt. Seine Geschichte beginnt damit, dass er eines Tages sehr früh am Morgen aufwacht. Alles ist so still um ihn herum. Leise schleicht er durch die Wohnung. Aber seine Eltern sind nicht da. Er geht runter auf die Straße. Auch die Straße ist lautlos und leer. Kein Auto! Keine Straßenbahn! Nirgends sieht er einen Menschen. Paul ist ganz allein auf der Welt! Am Anfang findet er es herrlich. Er nascht Bonbons und Obst aus den leeren Geschäften. In der Bank nimmt er sich so viel Geld, wie er tragen kann. Jetzt kann er sich alles kaufen, was er schon immer haben wollte. Doch dann wird sein Traum zum Albtraum. Als er schreiend erwacht, ist Paul froh, alles nur geträumt zu haben. Die charmanten Zeichnungen von Arne Ungermann sorgen dafür, dass Pauls Geschichte nicht zum Horrortrip gerät.
Über 40 Bücher hat der 1902 geborene Däne illustriert, darunter Klassiker wie Boccaccios "Decameron", Voltaires "Candide" und, wie es sich für einen Dänen gehört, auch die Märchen von Hans Christian Andersen. Später war er auch literarisch tätig. Auf meinen Dänemark-Reisen entdeckte ich einige feine grafische Kinderbücher verschiedener Autoren, alle bebildert von Ungermann. Er scheint halb Dänemark illustriert zu haben. Kein Wunder, dass das kleine Land trauerte, als er am 25. Februar 1981 starb.
Seine Biografie ist eine unglaubliche Auflistung von Preisen, Auszeichnungen und Medaillen. Bekannt wurde er nicht nur durch seine Buchprojekte, sondern vor allem auch durch unzählige Karikaturen für die Zeitung Politiken und deren Sonntagsbeilage Magasine sowie die Satireblätter Svikmøllen und Blæksprutten. Auch die Comic-Serie Hanne Hansen erfreut sich bei den Dänen seit 1935 großer Beliebtheit. Mit seiner Vielseitigkeit, er machte auch Reklame und Plakate, prägte er wie kein anderer das Grafikdesign in Dänemark. Höhepunkt seines Schaffens sind vermutlich die vielfältigen und formal hochkarätigen Arbeiten und Bücher aus den 40er- und 50er-Jahren. Mit seinem damaligen Stil, einfache moderne Farbflächen unter eine klare Linie zu legen, wirken seine Arbeiten bis heute frisch und unverbraucht.
Ein noch heutzutage unglaublich modern wirkendes Meisterwerk ist das Verkehrserziehungsbuch "Onkel Foerdsels Signal" von 1947. Gemeinsam mit Co-Autor Harald Lund erklärt Ungermann in farbintensiven, witzigen Bildern, die von einer meisterhaften Beherrschung der Farbseparation zeugen, das Einmaleins jedes Verkehrsteilnehmers im Straßenverkehr. Aber wie! Man könnte meinen, dass all die Zeichner der franko-belgischen Comic-Avantgarde – angefangen bei Joost Swarte über Ever Meulen bis Yves Chaland – mit ihrem "Neo Ligne claire"-Durchbruch in den 80er-Jahren eigentlich nur dieses eine Buch abgepaust haben, so sehr gleichen sich die Bildformen und die Bildsprache.
Es ist faszinierend, wie sich seine Bücher, 50 Jahre nach Erscheinen, allein durch ihre künstlerische Ausdruckskraft am Leben erhalten. Obwohl sich die abgebildeten Gegenstände, wie zum Beispiel eine schwarze Dampflok oder eine Wasserpumpe, inzwischen längst überlebt haben.

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Arne Ungermann. "Onkel Foerdsels Signal". Wilhelm Hansen, 1947 
Das Drama des alternden Kindhelden
Frank Kings "Skeezix"-Bilderbücher


von Andreas Platthaus

Den Grund, warum der Comiczeichner Frank King damit begann, Bilderbücher zu schreiben (und natürlich selbst zu illustrieren), hat er im Herbst 1924 in einem Radiobeitrag zum Erscheinen seines ersten Buchs "Skeezix and Uncle Walt" folgendermaßen benannt: "Wenn Schriftsteller (...) ohne die Lizenz zum Zeichnen Comic Strips anfertigen, ist es an der Zeit für Karikatu-risten und Comiczeichner, Bücher zu schreiben – als Entgegnung auf die literarische Bruderschaft." Ganz ernst war es ihm mit dieser boshaften Bemerkung nicht, aber King war sich bewusst, dass sich in einer Zeit, in der die Zeitungscomics auf dem Gipfel ihrer Popularität standen, allerlei Leute an diesem finanziell einträchtigen Genre versuchten, die gar nicht das Zeug dazu hatten. King selbst war dagegen ein Star des Metiers, dem seine Zeitung, die Chicago Tribune, 1924 fast zwanzigtausend Dollar für seinen Strip "Gasoline Alley" zahlte – ein Honorar, das ungefähr dem Zehnfachen des damaligen amerikanischen Durchschnittseinkommens entsprach. Doch mit dieser Spitzenbezahlung wurde auch abgegolten, dass die künstlerische Arbeit von Zeichnergrößen wie Frank King keinen Bestand hatte: "Milch wird sich einen oder zwei Tage halten, nachdem sie auf der Türschwelle abgestellt wurde. Ein Eisblock übersteht einen Tag in der Sommerhitze. Eier und Fleisch altern schnell, aber eine acht Stunden alte Zeitung ist tot." Frank King war sich darüber im Klaren, dass er seine täglichen Comicfolgen für Leser zeichnete, die sie sofort wieder vergessen würden. Deshalb war er gerne bereit, auf das Angebot des in Chicago angesiedelten Kinderbuchverlags Reilly & Lee einzugehen und die Figuren seiner erfolgreichen Serie aus der Tribune in einem eigenen Buch auftreten zu lassen.

Schon vierzehn Jahre zuvor hatte der damals erst 27-jährige King ein Buch für das Verlagshaus illustriert. "Bill Busy, the worker" war ein Plädoyer für Eigeninitiative gewesen, der erste Versuch von Reilly & Britton, wie das Unternehmen damals noch hieß, auch Bücher für ein erwachsenes Publikum zu veröffentlichen, nachdem man mit der Reihe um das sagenhafte Land Oz, die Frank L. Baum schrieb, bereits die erfolgreichsten Kinderbücher in den Vereinigten Staaten verlegte. Reilly war indes kein Glück bei älteren Lesern beschieden; fortan verlegte das Haus lieber Kinderliteraturklassiker oder was man dafür hielt: von "Robinson Crusoe" bis zu den Grimmschen Märchen und "Tom Sawyer". Und als Frank King mit "Gasoline Alley" seinen Durchbruch geschafft hatte, erinnerte man sich im Verlag an den virtuosen Zeichner. King ging das Buchvorhaben euphorisch an: Er hatte seinen Stoff parat, denn "Gasoline Alley" erzählte seit dem 14. Februar 1921, dem Tag, als der Junggeselle Walt Wallet auf seiner Schwelle ein Findelkind entdeckte, das er Skeezix nannte, vom Aufwachsen dieses kleinen Jungen in der Obhut seines gemütlichen Adoptivonkels. Das Besondere daran war, dass King in Echtzeit erzählte: Mit jeder neuen Folge wurde Skeezix also auch einen Tag älter. Als er sein Kinderbuch "Skeezix and Uncle Walt" schrieb (den Namen "Gasoline Alley" durfte es nicht tragen, weil die Rechte am Serientitel bei der Tribune lagen), erzählte King einfach noch einmal alle bisherigen Geschehnisse nach: vom Auffinden des Säuglings vor der Tür bis zum Sommer des Jahres 1924. "Das Buch", so erläuterte er, "verdichtet die Geschichte von Skeezix, die in der Zeitung dreieinhalb Jahre Erzählzeit gebraucht hatte, auf ein paar Stunden Lesezeit." Alllerdings versah er die hundert Buchseiten mit zahlreichen neuen Illustrationen, und schon deshalb ist "Skeezix and Uncle Walt" von größtem Interesse für alle Liebhaber von "Gasoline Alley", denn King war ein Zeichner, der seinen Stil fortwährend weiterentwickelte. Und als das Buch sich gut verkaufte und der Verlag um Fortsetzungen bat, musste er auch Geschichten erzählen, die es noch nicht oder anders als in den veröffentlichten Comic Strips gab. Bis 1928 erschienen noch drei weitere Bücher aus Kings Feder: "Skeezix and Pal", "Skeezix at the circus" und "Skeezix out west", alle wieder im bewährten Hundert-Seiten-Format mit mindestens einer Illustration auf jeder Seite und sogar einigen Bildsequenzen, die aber jeweils auf Sprechblasen verzichteten, um dem Bilderbuchstil gerecht zu werden. Alle vier Bücher sind wunderbare Beispiele für die Qualität der Kinderliteratur in den zwanziger Jahren. Jeweils mit roten und grauen Zusatzfarben bei den Illustrationen gedruckt, weisen sie einen immensen Einfallsreichtum bei der Seitengestaltung auf. Text und Bild werden in immer neue Konstellationen gesetzt, und zugleich wird die lapidare Handlung aus "Gasoline Alley" beibehalten, die von nicht mehr erzählt als den Abenteuern einer Kindheit, den Sorgen von Onkel Walt und kleinen Freund- und Feindschaften. King hat sein Erfolgsrezept 1945 so aufgeschrieben: "Intellekt wird Hunderte begeistern, ein bisschen Leben aber Millionen."

Allerdings war King auch ein Büchernarr und fasziniert von Kinderliteraturklassikern wie den "Alice"-Büchern von Lewis Carroll oder "Der Wind in den Weiden" von Kenneth Grahame. In seinen vier "Skeezix"-Büchern konnte er diesen Vorbildern auf eigene Weise nacheifern. Doch für die Zukunft stellte sich ihm ein unüberwindliches Problem: Mit dem Älterwerden von Skeezix entwuchs seine Hauptfigur der Zielgruppe. Bezeichnenderweise beschränkten sich die Bilderbuchaktivitäten von King in den dreissiger Jahren auf Arbeiten für die Reihe The Big Little Book, eine auf billigstem Papier gedruckte, fast quadratische, kleinformatige Buchserie, die erfolgreiche Comics nacherzählte, indem sie auf jede Doppelseite links Text und rechts eine ganzseitige schwarzweiße Illustration stellte. So kamen bis zu dreihundert Seiten dicke Bücher zustande, die nicht mehr erzählten als zwanzig Seiten Comic. Allerdings fertigten die jeweiligen Zeichner für diese gut bezahlten Publikationen jeweils neue Versionen ihrer Bilder an, und das macht selbst eine für King so untypisch effektreich erzählte Geschichte wie "Skeezix in africa" von 1934 spannend. Einmal noch sollte Frank King sich als Buchillustrator versuchen – allerdings für ein Jugendbuch, denn es erschien 1942, als Skeezix einundzwanzig Jahre alt war. "Nina and Skeezix – The problem of the lost ring", erschienen bei Whitman Publishing in Kings Heimatstaat Wisconsin, ist eine harmlose Kriminalgeschichte mit Skeezix und dessen Verlobter Nina in den Hauptrollen. King fertigte für das Buch lediglich neunzehn ganzseitige Illustrationen an, während der Text von einem Ghostwriter verfasst wurde. Man spürt bei der Lektüre den Einfluss von Erich Kästners "Emil und die Detektive", das dreizehn Jahre vorher erschienen und längst auch in den Vereinigten Staaten zum Erfolg geworden war. Bei den Zeichnungen hat sich King nicht viel Mühe gegeben, denn durch die Rationierungen der Kriegszeit konnten sie nicht farbig gedruckt werden. So endete die Bilderbuchkarriere eines der grössten Comiczeichner mit einer ästhetischen Enttäuschung. Doch es bleibt die faszinierende Erbschaft der vier "Skeezix"-Bücher aus den zwanziger Jahren – und seit 2005 die fortschreitende Gesamtausgabe des Comic Strips "Gasoline Alley", die aus rechtlichen Gründen nun fast denselben Titel trägt wie Kings erstes Kinderbuch: "Walt and Skeezix".

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Frank King. "Skeezix and Pal". Reilly & Lee Co., 1925 
Tove Jansson

von Gunnar Lundkvist

1.
Als ich neun Jahre alt war, schrieb ich Tove Jansson einen Brief. Ich schrieb über ihre Figuren. Was ich von ihnen hielt. Ich erzählte auch, welches der Lieder aus ihren Büchern mir am besten gefiel. Etwa eine Woche vor Weihnachten bekam ich eine Antwort in Form eines handschriftlichen Briefes in einem Umschlag, auf den ein goldener Stern geklebt war. Tove Jansson schrieb, dass sie sich sehr über meinen Brief gefreut habe. Sie dachte dasselbe über die Charaktereigenschaften ihrer Figuren wie ich. Sie beschrieb auch den Winter: "Hier in Helsinki hat es garstige Unwetter gegeben, und die ganze Stadt ist voller riesengroßer Schneewehen, die aussehen wie Weihnachtskarten. Ich wohne in der Nähe des Hafens in einem Turm, der zwölf Fenster hat, die beinahe alle vom Schnee bedeckt sind. Das Licht im Atelier sieht aus wie eine grüne Unterwasserbeleuchtung und man fühlt sich, als liege man im Winterschlaf. Im Kamin brennt ein Feuer, und neben mir liegt meine dicke, schwarze Katze. Gleich nach Neujahr fange ich heimlich an, auf den Sommer zu warten – nein, eher noch auf den Frühling; der ist wohl am schönsten, weil er so voller Vorfreude steckt. Sobald das Eis geschmolzen ist, fahre ich mit meiner Katze zu meiner einsamen Insel, einer klitzekleinen ohne Bäume, wunderschön und weiß, draußen im Finnischen Meerbusen gelegen. Magst du Inseln?" Ich habe Tove Jansson nie auf ihren Brief geantwortet. Es war vielleicht genug, einen so schönen und persönlichen Brief zu bekommen.

2.
Ich lese Tove Janssons Bücher über die Welt der Mumins nun schon seit über 40 Jahren. Sie sind auf selbstverständliche Weise ein Teil meines Lebens. Als ich Kind war, ging es darum, dass ich der Wirklichkeit unbedingt entfliehen musste. Und darum, dass etwas in meinem Leben fehlte. Die Geborgenheit in meiner Familie reichte nicht recht aus. Ich wurde ganz unbeweglich. Vielleicht, weil unter der Oberfläche so viel Unsicherheit lauerte. Die Muminfamilie hat eine andere Haltung dem Leben gegenüber. Eine sorglosere Einstellung, die Ernsthaftigkeit nicht ausschliesst. Und nicht dieselbe Schreckensstarre vor allem Gefährlichen. In der Welt der Mumins stellt die Familie den sicheren Mittelpunkt des Lebens dar. Trotzdem hat jeder die nötige Freiheit, die man braucht, damit man sich gemeinsam wohlfühlt. Fürsorge heißt auch zu verstehen, dass der, den man lieb hat, manchmal allein sein muss. Wenn ich als Erwachsener in die Welt der Mumins zurückkehre, dann brauche ich sie auf andere Weise. Vielleicht, um mich an das Kind zu erinnern, das ich einmal war. Daran, wie ich als Kind die Welt sah. Wie ich die Welt durch Tove Janssons Bücher sah. Sich zu erinnern ist manchmal sehr schmerzlich. Ich werde an das erinnert, was verloren ging . Vielleicht ist es nur die Zeit, die verloren gegangen ist. Dann brauche ich die Melancholie, die es auch in der Welt der Mumins gibt.

3.
Als Kind sah ich mir einige Muminbücher an, noch bevor ich lesen konnte. Weil ich nicht verstand, wovon die Bücher handelten, erzählten die Zeichnungen umso mehr. Ich empfinde es noch immer so, dass die Zeichnungen ein Eigenleben führen. Sie sind geheimnisvoll und gleichzeitig erklären sie sich von selbst. Nie werden sie zu Illustrationen degradiert, die der Erzählung untergeordnet sind.

4.
Ich glaube, Tove Jansson war ein künstlerisches Vorbild, ohne dass ich mir dessen bewusst geworden wäre. Ich hatte keinerlei Absichten, Comiczeichner zu werden, als ich als Kind ihre Bücher und Comic Strips las. Für mich als Leser wurde sie eine weit entfernte und doch sehr nahe Freundin. Ich glaubte immer, dass sie es war, die mich tröstete. In Wirklichkeit hat sie mir beigebracht, mich selbst zu trösten.

5.
Tove Jansson (1914-2001) wohnte in Helsinki. Sie verstand sich selbst in erster Linie als visuelle Künstlerin, war aber auch als Illustratorin und Schriftstellerin tätig. Sie schrieb auf Schwedisch. Zwischen 1945 und 1970 wurden elf Bücher über die Welt der Mumins herausgegeben. Auch das Bilderbuch "Den farliga resan" ("Mumins lange Reise") von 1977 spielt in der Muminwelt. Tove Jansson illustrierte unter anderem Bücher von Lewis Carroll und J.R.R. Tolkien. Von 1954 bis 1959 zeichnete sie die Comic Strips über die Welt der Mumins. Allerdings weichen sie betreffend Chronologie und Personenkonstellation teilweise von den früheren Büchern ab. Hier und da wurden die Charaktereigenschaften der Figuren abgeändert. Der Humor der Comic Strips ist erwachsener geworden. Einige Episoden gibt es nur als Comic Strips. Tove Janssons Bruder Lars Jansson (1926-2000) hatte einige Jahre lang Drehbücher verfasst, bevor er das Zeichnen der Comic Strips übernahm. Er zeichnete sie zwischen 1960 und 1975. 1968 wurden Tove Janssons Kindheitserinnerungen "Bildhuggarens dotter" ("Die Tochter des Bildhauers") veröffentlicht. Darüber hinaus schrieb sie vier Kurzgeschichtensammlungen und fünf Romane, die zwischen 1971 und 1991 herausgegeben wurden.

6.
Wenn ihre Bücher neu aufgelegt wurden, ergriff Tove Jansson manchmal die Gelegenheit, Änderungen vorzunehmen. Vielleicht war ihr die künstlerische Naivität der frühen Erzählungen unbehaglich.
In "Kometjakten" von 1946 wurde nicht besonders viel geändert als es 1956 unter dem Titel "Mumintrollet på Kometjakt" (auf dieser Ausgabe beruht die deutsche Übersetzung "Komet im Mumintal" von 1961) herausgegeben wurde. Umfangreicher waren dann die Änderungen, als die Geschichte 1968 unter dem Titel "Kometen kommer" herausgegeben wurde. Von der ursprünglichen Atmosphäre des Buches war viel verschwunden. Wenn ich Tove Jansson lese, habe ich das Gefühl, dass sie als Schriftstellerin niemals einem festgelegten Schema folgte. Der künstlerische Ausdruck in jedem einzelnen Buch war wichtiger als das Verhältnis der Muminbücher zueinander. Aber die Veränderungen in "Kometen kommer" zielen genau darauf ab, die Erzählung den anderen anzugleichen. Als sei es möglich, die Muminbücher als einheitliche Geschichte zu lesen. "Kometen kommer" wurde dadurch zu einem konventionellen Kinderbuch. Viel Irrationales, das doch irgendwie verständlich war, fiel weg. Die Züge des Mumintrolls wurden eindeutig kindlicher – was die Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren, ein-schränkt. Die fantastischen Elemente der Geschichte wurden gestrichen: Die Perlen, nach denen der Mumintroll in den früheren Ausgaben tauchte, wurden jetzt zu weißen Steinen. Stattdessen tut er nur so, als seien die Steine Perlen. Auch der Seidenaffe wird gegen eine Katze eingetauscht. Weil es im Norden keine Seidenaffen gibt. Bei dem Versuch, Unausgereiftes zu verbessern, schreibt Tove Jansson stattdessen eine neue Geschichte in die alte hinein. Und es entstehen parallele Muminwelten.

7.
Das Bilderbuch "Vem ska trösta knyttet?" ("Wer soll den Lillan trösten?") von 1960 unterscheidet sich dadurch von den anderen Büchern, dass es nicht von der Muminfamilie handelt. Es ist Tove Janssons vielleicht düsterste Erzählung, denn sie bringt die absolute Einsamkeit zur Sprache. Ich glaube, dass das Düstere der Geschichte tiefen Eindruck auf mich gemacht hat, als meine Mutter sie mir als kleinem Jungen vorlas. Auch als Erwachsener erkenne ich mich im Lillan wieder. Die Geschichte beginnt in der Nacht. Der Lillan ist alleine in seinem Haus. Draußen gehen mit großen, schweren Schritten die Hemulen umher. In der Ferne hört man das Heulen der Morra. Der Lillan schaltet überall das Licht ein. Trotzdem ist ihm kein bisschen weniger bange zumute. In der Morgendämmerung macht sich der Lillan davon. Andere Lillane, die viel glücklicher sind als er, ziehen in sein Haus ein. Es herrschte eine grenzenlose Verzweiflung in "Wer soll den Lillan trösten?", die mit Sicherheit vielen Lesern Angst eingejagt hat. Aber weil es sich um ein Kinderbuch handelte, wurde der Leser nicht im schlimmsten Moment zurückgelassen: Die Hilflosigkeit des Gillan bringt den Lillan dazu, seine Furcht zu überwinden. Von da an kann nicht einmal die Morra ihn erschrecken. Und die Geschichte, die so sehr von der Einsamkeit handelt, endet mit den Worten: "Nun gondeln Freudenlichter übers Meer, wohin man schaut, nun trösten wir einander, so dass uns nie mehr graut."
Man hat das Gefühl, als ob Tove Jansson von sich selbst erzählte. Vielleicht tat sie das auch. Natürlich wird ein Schriftsteller von dem geprägt, was er erlebt. Aber deshalb wird das Geschriebene nicht gleich autobiografisch. So einfach verhält es sich nicht. Manchmal muss man sich verkleiden, um über sich selbst reden zu können. Manchmal muss man einen Umweg machen, um nach Hause zu kommen.

8.
Tove Jansson schrieb Kinderbücher, die auch Erwachsene lesen können. Den späteren Muminbüchern liegt ein ernsthafterer Tonfall zugrunde. Vielleicht wirken sie anders, weil sie in stärkerem Maße von Einsamkeit handeln. Ernsthaftigkeit gab es von Anfang an in den Muminbüchern.
In "Trollvintern" ("Winter im Mumintal") von 1957 erwacht der Mumintroll zu früh aus seinem Winterschlaf. Er kann nicht wieder einschlafen. Der Rest seiner Familie schläft noch. Die Welt ist nicht wiederzuerkennen. So allein wie jetzt war der Mumintroll noch nie. Die Abwesenheit der Familie ist aber vielleicht der Grund dafür, dass er selbstständiger wird. Wenn Tove Jansson sich als Mensch veränderte, dann traten auch Veränderungen in ihren Geschichten ein. Es scheint, als seien die späteren Muminbücher vor allem für Erwachsene geschrieben. Würden sie nicht von der Welt der Mumins erzählen, wären es vielleicht überhaupt keine Kinderbücher. Es ist möglich, dass Tove Jansson am Ende in der Welt der Mumins eingesperrt war. Dass ihre Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt wurden. Denn man konnte die Muminfiguren verändern. Aber nicht beliebig stark.

9.
Tove Janssons Brief verschwand Mitte der siebziger Jahre. Als ich von zu Hause auszog, fiel eine Papiertüte von der Ladefläche des Wagens. Die Ladeluke war nicht ordentlich geschlossen gewesen. Der Brief befand sich vermutlich in einer Mappe in dieser Umzugstüte, die ich nie wieder fand. Das Einzige, was ich noch besaß, war der Umschlag mit einem aufgeklebten goldenen Stern. Ich erzählte meinen Eltern nicht, dass der Brief verschwunden war. Ich hatte vielleicht Angst, dass sie enttäuscht von mir gewesen wären. Und dass sie gefunden hätten, ich sei schlampig gewesen. Ich habe oft daran gedacht, wie traurig es war, dass der Brief verschwand. Ich habe mit den Jahren einiges verloren, ohne es sonderlich zu vermissen. Es wäre auch nicht dasselbe gewesen, wenn ich Tove Jansson noch einmal geschrieben hätte, um einen neuen Brief zu bekommen. Im Jahr 2000 starben meine beiden Eltern im Zeitraum von acht Monaten. Mein Bruder und ich räumten gemeinsam ihre Wohnung aus. Begraben unter anderen Papieren lag in einer Schreibtischschublade der Brief von Tove Jansson. Er hatte die ganze Zeit über dort gelegen. 25 Jahre lang hatte ich geglaubt, der Brief sei bei meinem Auszug von zu Hause verloren gegangen. Vielleicht hatte mein Vater vor langer Zeit beschlossen, der Brief solle an einem sicheren Ort verwahrt werden. An einem so sicheren Ort, dass er selbst vergaß, wo er sich befand. Der Brief tauchte in einer Phase meines Lebens wieder auf, in der ich ihn wirklich brauchte.

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Tove Jansson. "Vem ska trösta knyttet?", 1960  
Miroslav Sasek, der Weltenbummler

von Atak

Mit der erfolgreichen Rückkehr des "60er-Jahre Retro-Stils" einer neuen Generation von Illustratoren und Künstlern wie Otto Seibold, Gary Baseman oder Tim Biskup feiern auch die Sasek-Bücher ihr Comeback. Seit einigen Jahren werden seine zu Klassikern avancierten Städte- und Länderbücher wieder neu aufgelegt, während man für die Originalausgaben in Antiquariaten teilweise utopische Preise zahlen muss. In den 60er-Jahren war der am 16. November 1916 in Prag geborene Tscheche Miroslav Sasek wohl einer der populärsten Illustratoren seiner Zeit. Sein humorvoller, lockerer und doch künstlerischer Zeichenstrich wurde von vielen seiner Kollegen kopiert oder nachempfunden. Doch seine Bildgestaltung hebt sich stark von der seiner zahlreichen Epigonen ab. Seine Zeichnungen wirken auch nach über 30 Jahren noch frisch und lebendig und haben nichts von ihrem Charme verloren.

Saseks Erfolg beruht auf seiner Buchreihe über bekannte Großstädte und Länder der Welt. Die Serie war gleichermaßen für Kinder wie Erwachsene gedacht. 1959 hat er mit einem Buch über Paris ("This is Paris") begonnen. Seine visuellen Eindrücke von der französischen Metropole werden mit Informationen und Anekdoten verknüpft. In einem von ihm gestalteten, bis heute modernen Layout wechseln sich ironische Strassen- und Alltagsszenen mit wundervoll detailreichen Architekturzeichnungen von historischen Gebäuden und Sehenswürdigkeiten ab. Schon dieser Prototyp jener Reihe zeigt Gestaltungsideen, die in den nachfolgenden Bänden noch weiter ausgebaut wurden. So betritt auf der ersten Seite immer der Autor mit einer Zeichenmappe unterm Arm die Stadt; am Ende verlässt er das Buch wieder, mit einem Souvenir versorgt.
Zunächst war das ganze Projekt nur für drei Bücher geplant – Paris, Rom und London. Nach dem überraschenden Erfolg des zweiten Bandes über London, der mehrere Preise erhielt, wurde das Konzept beibehalten. Fortan reiste Sasek ständig umher: Mit nur zwei Koffern und einer Handvoll Künstler-Utensilien wie Ölfarben und Pinseln umrundete er die Welt. Alles, was ihm auffiel und ihn interessierte, hielt er in Skizzenbüchern fest. Später im Hotel entstanden aus seinen sorgsam beschrifteten Blättern die fertigen Buchzeichnungen, und der Text wurde formuliert. Er arbeitete dabei konzentriert von vier Uhr früh bis Mitternacht. Nach ungefähr zwei Monaten war das Buch fertig und ging ohne großartige Korrekturen in Druck. Insgesamt 18 Bände sind so entstanden, u.a. über New York, Griechenland und Israel. Sie erschienen in zehn Sprachen, auch auf Deutsch und Italienisch. Zu seinen eigenen Favoriten erklärte Sasek Edinburgh (1961), Venedig (1961) und Hong Kong (1965).

Paris, wo alles begonnen hatte, war und blieb seine Lieblingsstadt. Hier hatte er an der Ecole des Beaux Arts studiert. Da seine Eltern nicht wollten, dass er Kunstmaler wird, schrieb er sich für Architektur ein. Später arbeitete er als Gebrauchszeichner und Illustrator bei einem großen tschechischen Verlag. 1948 siedelte er nach München über, wo er 1980 starb. Der bayerischen Landeshauptstadt widmete er übrigens auch ein Buch in seiner Reihe. Im Vergleich zu den anderen wirkt es leider weniger originell. Lag es an der ungenügenden Distanz zum Wohnort oder an München selbst? Sasek schuf aber nicht nur jene großartige Serie über die Städte und Länder dieser Welt. Sehr empfehlenswert ist beispielsweise auch "Mike and the Modelmakers" (1970). In diesem Auftragsbuch für die Spielzeugauto-Firma Matchbox beschreibt er in liebevollen, detailreichen Bildern und unterhaltsamen Kommentaren die Entwicklung und anschließende Produktion eines kleinen Spielzeugautos in den riesigen Fabrikhallen von England. So ernst und wichtig die Konstrukteure von Matchbox die Planung eines simplen Spielzeugautos für Kinder nehmen, so gewissenhaft war auch Sasek bei seiner Arbeit – von der ersten Idee bis zum fertigen Buch. Herausgekommen ist eine Reihe der schönsten Kinderbücher der Welt für Jung und Alt.

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Miroslav Sasek. "This is Australia". W. H.. Allen & Co., 1970 
Trnka, der Name zu den Bildern

von Anke Feuchtenberger

Der Name zu den Bildern, der kam erst viel später, als ich lernte, dass es zu den wunderbaren Bilderfindungen in meinen Büchern auch eine Autorenschaft gab. Es war einmal ein Moment von unsäglicher Süße. Mitte der sechziger Jahre. Ich sitze auf dem Schoß meines Vaters, mich quält schlimmer Husten. Wir schauen uns ein Buch mit Zeichnungen von Jirí Trnka an. Ich bin fasziniert von dem Bild einer Meise, die breitbeinig und sinister schauend auf einem geöffneten Buch steht. Meine Mutter kommt herein mit einem Teelöffel voll Zucker, ein paar Tropfen Hustensaft obenauf. Die Süße des krümelnden Zuckers, der bittere Geschmack, die merkwürdige Meise wurden für mich zum Bild der Ambivalenz der Kindheit überhaupt. Nicht der Kunstunterricht öffnete mir die Türen zur Kunstgeschichte. Es war Trnka, der mit seinen Bilderbüchern gemacht hatte, dass ich Jahre später vor chinesischer Tuschemalerei oder dem italienischen Manierismus der Renaissance dachte: Das kenne ich irgendwoher, das sieht ja aus wie in meinen Bilderbüchern. Ich hatte viele davon. Und die wichtigste Potenz der Bilder von Trnka bestand in ihrer Ambivalenz: Süße und düsteres Geheimnis, Genauigkeit und nebulöse Andeutung, Paradies und Albtraum. Ich kann bis heute lange auf ein Bild von Trnka schauen, ohne das Interesse zu verlieren. Weil sie nicht flach geworden sind oder dumme Lügen erzählen wie andere Bücher. Da ist er wieder: der Liebreiz und der Schrecken.

Ein kleines, süßes Mädchen mit Schleifen im Haar ist in einem zu grossen, roten Sessel eingeschlafen. Über ihr schweben Gestalten, ohne Gesichter oder mit Händen anstelle der Füße. Im Orchestergraben sitzen musizierende Bonbons, der Dirigent ist ein spinnenhaftes Wesen, halb erstickt in einer Tüte. Alle sind in sich gekehrt und verrichten, wozu sie verdammt sind. Kinder sind eben einsam bei Trnka. Sie sind düsteren Treppenhäusern ausgeliefert, begegnen, allein in Schneenächten, Kobolden, die nur mit Blau gezeichnet sind und Rosenstöcke zerhacken; halbnackte Riesen sind in ihren verrenkten, überzeichneten, fast babyhaften, grauen Körpern gefangen. Sie haben mein Mitleid erregt. Wie kann man sie nur erlösen? Sie waren wie ich. Trnka hat dem Schrecken ein Bild gegeben.

Es gibt eine zweite Art von Ambivalenz in den Bildern Trnkas. Wie eine heimliche Botschaft, die ich vielleicht besser für mich behalten sollte? Der Mann mit dem Fischernetz im Boot, der sich so ängstlich zu seinem Herrn am Ufer umwendet, die Tasche in seinem Boot ist verfärbt: hat er etwa eingepinkelt vor Angst? Und die Frau, die heimlich aus den Kornsäcken schöpft, ihr Haar ist so wild gewachsen, dass es aussieht, als würde es auch aus ihrem Gesicht sprießen. Ist sie etwa noch heimlich ein Affe? Hier fängt die Geschichte unter der Geschichte an. "Spalicek", mein Lieblingsbuch, mein erstes überhaupt. "Spalicek" (es fehlen auf meiner Tastatur die lustigen Krönchen über dem S und dem c), heute eine Ruine von einem Buch, las ich selbstverständlich durch seine Bilder. Als ich dann anfing, endlich selber zu buchstabieren, ergab das keinen Sinn; es war auf Tschechisch geschrieben. Also war alles, was mein Vater mir vorgelesen hatte, nur ausgedacht? Die Bilder geben das her. Die Kinder haben oft knallrote Wangen; war die Luft im Prag der fünfziger Jahre einfach gesünder? Oder kam das durch die Trennung der Farben mit dem Pinsel? (Ich will gar nicht erst zu schwärmen beginnen von Trnkas Meisterschaft im Farbentrennen!) Die Kinder sehen dadurch schuldbewusst aus oder als hätten sie Fieber, aber immer sind sie süß, ohne jedoch die Penetranz der disneyschen Figuren.

Weiß er etwa auch, wie sie, von dem Geheimnis? Dass Kinder sich sehr schmutzig machen können und finstere Gedanken haben? Wie der kleine Junge, dessen schwarze Flecken im Gesicht Trnka offensichtlich mit seinem Finger getupft hat und damit unfreiwillig und unverwechselbar signiert. Oder wie das merkwürdige Kind, das sich seinen Spaziergang durch Flötenspiel versüßt. Nur dass die Flöte seinen Kopf durchstößt und als Zipfel seiner Baskenmütze am Hinterkopf wieder austritt.

Trnka hat so verschiedene Stile gezeichnet, dass ich erst lange gar nicht wusste, dass die Bücher von ein und demselben Zeichner illustriert sind. Und ich habe noch nicht mal seine Puppenfilme gesehen. "Fimfarum", zum Beispiel, ist ein Buch mit Märchen für Erwachsene, was mich damals, in der Zeit vor der Schriftsprache, umso mehr gereizt hat, es noch bis ins kleinste Detail zu betrachten. Ich vermute, es ist Schabkarton, gedruckt in einem immer noch nicht verblichenen, satten Schwarz, und schwarz sind die Bilder. Prägend auch die Gestaltung: Hier kann ich jetzt nachschauen, wenn ich wirklich typografisch und buchbinderisch gut gemachte Bücher ansehen möchte. Die Zeichnungen sind meisterhaft in ihrer Schraffur, die Figuren in ihrem sehr körperlichen Dasein als verzweifelte und groteske Gestalten Gewalt ausgeliefert und trotzdem wehrhaft. Auf der Rückseite des Buches "Fimfarum" ist die einzige Darstellung vom Angesicht des Meisters selber, die ich kenne: Adolf Hoffmeister hat einen fetten Mann dargestellt, mit einer kleinen Narbe im Gesicht, fettigen, langen Haaren, einem vierfachen Doppelkinn, einer Zigarette im Mund, aber mit beiden Händen zeichnend. Er muss ein Vielarbeiter gewesen sein, denn schon mit 57 Jahren vollendete er seinen Lebenslauf. Im Internet fand ich, dass er zwanzig Jahre lang jedes Jahr einen Trickfilm machte; von den vielen illustrierten Büchern ist gar nicht die Rede. Er wird im Internet auch als zweiter Walt Disney bezeichnet, was ich unsinnig finde: Ich kannte keine Disney-Filme in meiner Kindheit, bin aber noch heute reich beschenkt, weil ich Jiri Trnkas "Königreich der Poesie" (so Jean Cocteau) durchquert habe.

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Jirí Trnka, Hans Christian Andersen: Märchen, ARTIA, 1960 
Erinnerungen an Edward Gorey

von Steven Appleby

Es ist Herbst 1998 und ich versuche, Edward Gorey anzurufen. Ich stelle mir vor, wie das Telefon schrillt in seinem altersschwachen Haus aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Vielleicht öffnet eine seiner zahlreichen Katzen für einen Moment ein Auge und mustert gelangweilt die irritierende Störung. Ich weiß, wie sein Telefon tönt, weil ich Gorey 1991 besucht habe, als er 64 Jahre alt war. Ich bin ein großer, regelrecht besessener Fan seiner Arbeit, seitdem ich damals in der Bibliothek der Kunstschule auf "Amphigorey" stieß. Darin sind fünfzehn seiner frühen Bücher versammelt, viele davon bei seinem eigenen Verlag Fantor Press in den 50er- und 60er-Jahren verlegt. Diese Bücher – wunderbar gestaltet, exquisit gezeichnet und penibel handgelettert – sind poetisch, surreal, verstörend und sehr unterhaltsam. Bleichgesichtige, viktorianische Gestalten in veralteter Kleidung erwarten gefasst ihre vielerlei Schicksale, ob auf Zuggleisen, in lilien- mordenden Teichen oder unter herabstürzenden Felsen. Unglückliche Kinder, die gelähmt von ihrer Schwermut sind, werden von ihren Vätern überfahren oder gekidnappt und dem Insektengott geopfert. All die Bücher kreieren eine einzigartige Welt voller makaberer Momente und grausigem Humor, dass sie indirekt auch zum Verständnis unserer eigenen Lebenswelt beitragen. "Amphigorey" ist, einfach gesagt, ein Meisterwerk.

In einer Zeit, als ich mich damit abmühte, einen eigenen Stil zu entwickeln, kam "Amphigorey" einer Offenbarung gleich. Damals waren die britischen Comics und illustrierten Bücher generell für Kinder. Bis Gorey diese dunklen und verstörenden kleinen Bücher veröffentlichte, die aussahen wie für Kinder – mit ihren 32 Seiten, links der Text, rechts die Zeichnungen, zum Teil in Versform verfasst – aber sie waren es nicht. Rückblickend hat mir Gorey einen der kreativsten Pfade gezeigt, dem ich je gefolgt bin. Er offenbarte mir, dass sowohl Bücher als auch Comics nicht linear erzählt sein müssen, vielmehr nicht sollten; erzähl einfach eine Story, die keinen ersichtlichen Sinn hat, so lange, bis sie in ihrer Ganzheit einen poetischen Sinn erlangt. Ohne Gorey wären die Welten meiner Figuren "Captain Star" und meines Zeitungsstrips "Small birds singing" nicht das, was sie sind.


Lasst uns zurückkehren zu den kalten Wintertag 1991.
Ich sitze mit meinem Bruder im Auto, der mich nach Cape Cod fährt. Ich bin nervös, als er mich bei Goreys Haus rauslässt, weil ich einen meiner großen Helden treffen werde, aber auch, weil ich nicht enttäuscht werden will. Ich will, dass Gorey ebenso exzentrisch ist wie seine Arbeit. Was ist, wenn herauskommt, dass er ein ganz normaler Mensch ist, wie ich oder du? Als ich die properen Familienhäuser mit ihren grünen Vorgärten mustere, befürchte ich das Schlimmste. Sie haben sehr ungoreyesk gestutzte Hecken und gepflegte Rasen. Ich kann keinen einzigen kaputten Regenschirm sehen, der in den Ästen hängt und sich im Wind wie ein schwarzer Vogel bewegt, noch ist ein Grabstein in Sicht. Dann erblicke ich ein großes, graues, holzverschaltes Haus, das sich zum Teil hinter üppiger Vegetation verbirgt. Auf der Straße steht ein altersschwacher VW-Käfer mit dem Nummernschild "Ogdred". Eines der vielen Anagramm-Pseudonyme Goreys ist "Ogdred Weary". Mir ist klar, dass ich angekommen bin. Um zur grauen Eingangstür durchzukommen, muss ich ein paar Büsche zur Seite stoßen. Ich klopfe, aber alles bleibt still. Ich gehe um das Haus und höre das entfernte Klacken einer Schreibmaschine. Ich klopfe erneut und das Tippen hört abrupt auf. Kurz darauf erscheint ein leicht gekrümmter Mann, begleitet von zahlreichen Katzen. Er ist sehr groß, sein kahler Kopf wird von einem riesigen weißen Bart ausbalanciert, der die untere Hälfte des Gesichts bedeckt. Aus seinem braunen löchrigen Pullover stehen von Katzen herausgepulte Fäden ab. Seine Füße stecken in ehemals weißen, jetzt verdreckten Sneakers, und in seinen Ohren und an seinen Fingern hat er riesige orna mentreiche Ringe. "Hallo, ich bin Edward Gorey", sagt er, überflüssigerweise.

Wir steigen in den Käfer und fahren zum Essen zu Jack’s Outback, wo Gorey jeden Tag frühstückt und zu Mittag isst. Es ist ein Diner im ländlichen Stil, wo Stammgäste ihre eigenen Tassen haben und jeder jeden kennt. Ein älterer Mann, nennen wir ihn Jack, kommt hinter der Theke hervor und zieht mich zur Seite. "Man will nicht mit ihm gesehen werden", murmelt er melodramatisch, während Gorey noch überlegt, was er essen soll und schließlich nimmt, was er immer isst. Als wir gehen, betätigt Gorey die Kasse, gibt die Preise ein und sich das Wechselgeld heraus und ruft zu Jack: "Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!" Als wir beim Haus ankommen, belegt ein bronzefarbener Cadillac Goreys Parkplatz. "Oh nein", seufzt er in seiner weltschmerz-geübten Sing-Sang-Stimme, "meine Putzfrauen sind da." Nachdem ich gewarnt wurde, auf keinem der Sofas Platz zu nehmen, "die Katzen haben überall draufgepisst", findet er einen Holzstuhl für mich. Gorey nimmt mir gegenüber Platz, eine Katze springt auf seinen Schoß und legt sich um seine Hüfte, eine andere klettert auf seine Schultern und schmiegt sich wie eine Pelzstola um seinen Hals. Mit den Geräuschen der Putzfrauen im Hintergrund beginnen wir, uns über sein Leben zu unterhalten.

Edward Gorey wurde 1925 geboren, in Chicago, Illinois. Als er drei Jahre alt ist, bringt er sich selbst das Lesen bei; seine frühesten Zeichnungen fertigt er bereits im Alter von 1 1/2 Jahren an. Nach der Highschool ist Gorey ein Semester am Art Institute of Chicago, dann wird er 1943 eingezogen. Nach der Armee geht er nach Harvard. 1953 zieht er nach New York, wo er mit gleichgesinnten Poeten und Schriftstellern den französischen Surrealismus, japanisches Theater und europäische Romane ergründet. Er ist Mitbegründer des "Poets’ Theatre", für das er Kostüme und Kulissen entwirft, und er beginnt, als Buchdesigner für Doubleday zu arbeiten. Bis spät nachts bleibt er in dem Verlag, um an seinen eigenen Büchern zu arbeiten und seine subversiven Imitationen von Kinderbüchern zu entwickeln. Berühmt wird er für das Design des animierten Titels der Fernsehserie Mystery Theatre und für das Setdesign und die Kostüme für den Broadway-Hit "Dracula" von 1978, wofür er mehrmals ausgezeichnet wird.

Lasst uns jetzt ins Jahr 1998 springen,
als ich Gorey endlich am Telefon habe, um
ihn zu seiner Arbeit zu interviewen.

"Ich habe ein imaginäres Bild von deiner Kindheit", sage ich, "allein sitzend, mit seltsamem Spielzeug spielend, in einer Ecke eines gewaltigen Raumes in einem riesigen alten Haus. Bücher sind deine einzigen Freunde, und du beginnst, für dich zu schreiben und zu zeichnen. Du bist ein einsames Kind…"
"War ich überhaupt nicht!" schreit er, "und wir lebten in einer Mietwohnung. Ich war ein Einzelkind. Ich würde gerne glauben, dass ich ein sensibles, einsames Kind gewesen wäre voller Schwermut. Aber das war überhaupt nicht so. Ich war wirklich sehr gesellig." – Wie enttäuschend, er hatte keine traumatische Kindheit, sondern erinnert sich an eine glückliche...
Auf seine Einflüsse angesprochen, führt Gorey Lewis Carrol an ("Die ersten Bücher, die ich gelesen zu haben mich erinnere, waren ›Alice im Wunderland‹ und ›Alice im Spiegelreich‹ – ich habe sie immer und immer wieder gelesen."), Matisse ("Ich habe Matisse so oft betrachtet, dass ich sicher bin, es gibt etwas, das mich beeinflusst hat, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, was es sein könnte.") und den Holzdruck des 19. Jahrhunderts ("Es ist rein die Technik. Das Empfinden meiner Arbeit ist ein anderes.") Ich frage Gorey nach Ronald Searle, dessen Arbeit ich verehre, und er gerät sofort ins Schwärmen: "Ich liebe ›St. Trinian‹. Ich beneide die Lebendigkeit seiner Zeichnungen. Heutzutage ist allein der Gedanke an komplizierte Zeichnungen für mich eine wahre Plackerei."
Goreys Freund Andreas Brown, der Besitzer des Gotham Book Mart – die Anlaufstelle für alles, was Gorey betrifft – sagt, dass Gorey gerne das Gerücht verbreite, nichts anderes zu tun als "Junkfernsehen anzusehen, in schlechte Kinofilme zu gehen und schlechte Literatur zu lesen." In Wahrheit ist Gorey sehr belesen. Seine Bibliothek ist voller Literatur der französischen Symbolisten, alter chinesischer und japanischer wie auch aktueller europäischer Literatur. Zu seinen Favoriten zählen Dickens, Ronald Firbank, Evelyn Waugh, Ivy Compton-Burnett und Jane Austen. Seit den 90er-Jahren interessiert sich Gorey mehr und mehr für das Theater. "Er schreibt bis zu zwei Theaterstücke im Jahr", sagt Andreas Brown, "und ›English Soup‹ ist wunderschön, fast schon dadaistisch."

Edward Gorey starb im April 2000. Ich hatte nach dem Telefonat nie wieder mit ihm gesprochen. Sein Haus – Elephant House – ist heute ein Museum. Es ist aber ein wunderbares Fotobuch erhältlich, das es in dem Zustand zeigt, als Gorey noch dort lebte und ich ihn besucht habe: Chaos, Katzenkratzspuren, verfallend, vollkommen.

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Edward Gorey. "The willowdale handcar". 1962 
Die Ligne Trier des Walter Trier

von Matthias Schneider

Sie sind absolute Klassiker der Kinderbuchliteratur: "Emil und die Detektive" sowie "Pünktchen und Anton", von Erich Kästner geschrieben und von Walter Trier illustriert. Wer hat in seiner Kindheit diese Bücher nicht unzählige Male verschlungen und ergriffen betrachtet? Angesichts seiner vielfältigen Tätigkeiten kam für Walter Trier dieser großartige Erfolg nahezu einem Stigma gleich, da er selbst in Nachschlagewerken auf Maler, Illustrator und Karikaturist reduziert wird. Doch Trier war äußerst umtriebig: Er hat Bühnenbilder und Kostüme für Varietés und Opern entwor-fen, produzierte Animationsfilme und war auch selbst Autor von Kinderbüchern. Überdies war er ein passionierter Sammler historischen Spielzeugs. 1922 gab er mit dem Landesmuseum für Sächsische Volkskunst in Dresden ein Buch heraus, in dem Kinderspielzeug erstmals als künstlerisch wertvoll behandelt wird. Eine Publikation, die Produkt ihrer Zeit war, galt doch in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts der Erziehung und Psychologie des Kindes ein besonderes Interesse. Zudem wurde die Kindheit als Zustand der Unverdorbenheit verstanden, gar von manchen Vertretern als Modell des idealen Menschen idealisiert.

1890 in Prag geboren, wuchs Trier in einem deutschsprachigen Elternhaus auf, in dem Spielzeug und das Spielen stets präsent waren. Das Elternhaus war voller Trödel, Bücher, Marionetten, Puppentheater, Sportgeräte, alter Münzen und Mineralien, die nicht in Vitrinen gehütet, sondern für die Kinder frei zugänglich im Raum verteilt waren. Ungewöhnlich war ebenfalls, dass die Kinder in dem Haus herrschten, unter begeisterter und wohlwollender Zustimmung der Eltern. Bereits im Alter von 15 Jahren beginnt Trier an der Kunstakademie in Prag zu studieren und immatrikuliert sich 1908 an der Münchner Akademie, in der Klasse von Franz von Stuck, dem bedeutenden Vertreter des Jugendstils und Mitbegründer der Sezession. Zu dieser Zeit sind Triers Zeichnungen größtenteils noch vom Jugendstil geprägt und mit einer manieristischen Textur ausgestattet. Bei seinen Karikaturen bedient er sich dagegen der expressionistischen Verzerrung. Noch in München beginnt er, erste Zeichnungen in der politischen Satirezeitschrift Simplicissimus zu veröffentlichen, bis ihn 1910 lukrative Angebote nach Berlin locken, wo er bis zu seiner Emigration 1936 leben wird. Die Berliner Jahre gehören zu den wichtigsten Abschnitten in Triers privatem und künstlerischem Leben. In der Metropole heiratet er die aus Polen stammende Helene Mathews und sie bekommen 1914 ihre Tochter Margarete. Trier arbeitet als Pressezeichner für die Lustigen Blätter und veröffentlicht regelmäßig in der Berliner Illustrirte Zeitung, später auch in Uhu und Die Dame. Ferner zeichnet er Sammelbilder für die Zigarettenfirma Bergmann und illustriert erste Kinderbücher. Ab 1917 nimmt er an Ausstellungen der Künstlervereinigung "Berliner Secession" teil, der er 1925 beitritt. In den Arbeiten für die Lustigen Blätter beginnt sich allmählich sein charakteristischer Stil herauszubilden; sein Strich wird reduzierter und erste monochrome Flächen, die unter anderem in knalligem Gelb gehalten sind, tauchen auf. Zu Triers folgenreichsten Berliner Ereignissen gehört die Begegnung mit dem damals noch als Journalist tätigen Erich Kästner, der auf der Suche nach einem Illustrator für sein literarisches Debüt ist. Aus dieser Zusammenarbeit geht das bedeutendste Autoren- und Illustratorengespann der deutschsprachigen Kinderbuchliteratur hervor, deren Publikationen Glanzstücke des Zusammenwirkens von Text und Illustration sind.

Der Erfolg der Kästner-Bücher ist gewiss auch den Umschlagbildern Triers zuzuschreiben, die längst zu den Ikonen der Kinderbuchillustration gehören. Selbst nach Jahrzehnten hat die Strahlkraft der Zeichnungen nicht nachgelassen und sie prägen sich auch heute noch unauslöschlich in das visuelle Gedächtnis der Betrachter ein. Die kongeniale Harmonie zwischen Autor und Zeichner, zwischen Text und Illustration, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso auf die Inhalte der Geschichten zurückzuführen. Denn auch Kästner charakterisiert Jugendliche als moralische Instanz, die die Welt der Erwachsenen wieder ins Lot bringen, ob sie nun Familien wiedervereinen oder als Detektive Kriminelle jagen.

Zwangsläufig drängt sich hier der Vergleich mit einem der wichtigsten jugendlichen Protagonisten der europäischen Comic-Kultur auf, mit Hergés "Tintin". Zufälligerweise feiert er ebenso im Jahr 1929 sein Debüt wie Kästners und Triers "Emil". Auch Tim, wie der Name des Jungen mit Tolle und Knickerbockerhosen später ins Deutsche übersetzt wird, ist mit allen nur erdenklichen positiven Charakterzügen ausgestattet und meistert manches Abenteuer, indem er Erwachsene mit seinem jugendlichen Alter täuscht. Die Jagd nach Delinquenten steht diametral entgegengesetzt zu den Hard-Boiled-Krimis eines Chandlers oder Hammetts, den Pulps oder den ersten Abenteuercomics, die zur selben Zeit in den USA populär sind. Die europäischen Erzählformen erinnern dagegen an Jungsabenteuer und Räuber-und-Gendarm-Spiele, die mit einer gehörigen Portion Pfadfindermoral ausgestattet sind. So verwundert es nicht, dass Hergé seinen Tintin-Vorläufer "Totor – Sippenführer der Maikäfer-Sippe" zuerst in der Pfadfinderzeitschrift Le Boy-Scout belge veröffentlicht hat. Das Tintin-Debüt "Au pays des Soviets" lässt Hergés späteres charakteristisches Markenzeichen noch vermissen, die Ligne claire. Zur selben Zeit hat Walter Trier bereits seine klare Linie gefunden, mit definierten Konturen und einer flächigen Kolorierung. Und im Gegensatz zu Hergés überperfektioniertem Zeichenstil, der mit seinem Alter zunehmend steriler und steifer wird, zeichnet Triers Illustrationen eine immerwährend faszinierend spielerische Leichtigkeit aus. Die "Ligne Trier" scheint zu leben, mit ihren dynamischen Schwüngen und Rundungen, ihren liebenswerten Schrägen und Schlängelungen. Im direkten Vergleich mit Triers Arbeiten erinnern Hergés Bilder an die kontrollierte Fantasie eines Erwachsenen, wie sie Kindern gerne als "pädagogisch wertvoll" aufgebürdet werden. Dagegen hat sich Trier seinen verspielten und kindlichen Charakter stets bewahrt. Sogar als er für die englische Presse Karikaturen über Hitler und die Nazigefolgschaft anfertigt, wird sein Zeichenstil nicht härter. Und dies obwohl er am eigenen Leib zu spüren bekommt, was es bedeutet, als Jude unter den Repressalien der Nazis zu leiden, weshalb er 1936 mit seiner Familie nach Großbritannien emigriert.

In London wird Trier ab 1937 von dem Monatsmagazin Lilliput für die Gestaltung des Covers engagiert. Mit der Fortführung seines "Pünktchen und Anton"-Motivs, einem Pärchen mit Hund, prägt er von nun an das Erscheinungsbild des "Pocket Magazine for every-one". Über den Zeitraum von 12 Jahren und für mehr als 150 Titel inszeniert er seine drei Hauptfiguren jedes Mal anders, jedes Mal neu. Trier schreibt dazu: "Es gab meinerseits viel Skizziererei, bevor mein Vorschlag akzeptiert wurde, ganz einfach ein Pärchen mit Hund ständig auf dem Titelblatt erscheinen zu lassen: das Pärchen etwa als Verkörperung von etwas ewig Amüsantem – Jugend, Liebe – und der kleine Scotchterrier als Denkmal für meine langjährigen Begleiter Zottel und Maggy. Man sieht das Pärchen mal jung, mal älter, mal naturalistisch, mal stilisiert, in allen möglichen Kostümen in den verschiedensten Zeitperioden. Ich habe diesen Umschlägen nie eine aktuelle politische Note gegeben. Selbst in den tollen Kriegsjahren blieb es bei dem puren ‚Lob der Zweisamkeit’. Aus vielen Soldatenbriefen erfuhren wir, wie dankbar man uns dafür war, daß wir so ›weit vom Krieg‹ in diesen Titelblättern waren."

Nur ein halbes Jahr nachdem das Ehepaar Trier 1947 die britische Staatsbürgerschaft erhält, folgen sie ihrer Tochter und wandern nach Kanada aus. Auch in Übersee fasst Trier mit seinem Zeichenstil schnell Fuß; zu seinen ersten Auftragsgebern gehört einer der größten Lebensmittelkonzerne des Landes. Trier arbeitet weiterhin für europäische Auftraggeber und führt sein bereits in London begonnenes Buchprojekt "Crazy People" weiter, mit den Folgetiteln "Quite Crazy" und "Crazy Costumes". Dabei greift er die Tradition der Verwandlungsbücher auf, um gängige Rollenklischees und nationale Merkmale der Völker spielerisch und unterhaltsam darzustellen. Die Ringbücher mit den dreigeteilten Figuren, deren Partien – Kopf, Rumpf und Beine – individuell zusammengestellt werden können, versinnbildlichen Triers humanistische Weltanschauung. Trier stellt nicht nur die Vielfalt der Rassen und Kulturen mit all ihren Besonderheiten und Eigenarten dar. Er fordert uns regelrecht auf, all diese Eigenheiten im Spiel durcheinander zu wirbeln und miteinander zu verquicken, um eine schönere, eine buntere Welt zu schaffen, sie durch die Augen eines Kindes zu betrachten. Als er 1951 in seinem Atelier verstarb, hat uns Walter Trier eine wunderbare Vision der Welt hinterlassen.

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Walter Trier. "Lilliput"
Me, myself and Ronald Searle

von Steven Appleby

Ich wuchs auf dem Lande auf, in einem alten, weitläufigen Haus voller Hunde und Kinder. Glücklicherweise gab es dort Zimmer in Hülle und Fülle, wohin ich mich gerne zurückzog. In einem dieser Räume, dem "morning room", befand sich ein eingebauter Bücherschrank, in dem ich im Alter von zehn oder elf Jahren Ronald Searle entdeckte. Beim Stöbern stieß ich auf ein Jubiläumsalbum des New Yorker, wo ich erstmals die Zeichnungen von Charles Adams erblickte, einige Jahresausgaben des "Pick of Punch" – und zu guter Letzt "The female approach" von Ronald Searle. Ich fühlte mich sofort verbunden mit Searles schwarzem und verwerflichem Humor. Jahre darauf sollte ich versuchen, seinem wun-dervollen Strich und seinen meisterhaften Schwarzweißzeichnungen nachzueifern. Aber damals ergötzte ich mich noch an seinen furchterregenden Schulmädchen. Ein jedes der imaginären "St. Trinian"-Schule war der absolute Albtraum. Wer war der Schöpfer des wüsten Spektakels?

Ronald Searle wird 1920 in Cambridge geboren und wächst in relativ armen Verhältnissen auf. Das Geld für sein Zeichenmaterial verdient er sich als Sänger in einem Kirchenchor. Im Alter von fünfzehn Jahren wird Searle von der Lokalzeitung engagiert, wöchentlich einen Cartoon anzufertigen. Ferner besucht er Kunstkurse in der Abendschule und ist Mitglied einer Amateurtheatergruppe. Im Juni 1938 erhält er ein Stipendium für die Technische Zeichenschule Cambridge, doch mit Beginn des Zweiten Weltkriegs ist sein Studium schnell beendet. Kaum ist Searle der Armee beigetreten, kauft er sich ein Buch über George Grosz. "Es hat meine künstlerische Entwicklung komplett verändert", sagt er später. "Grosz enthüllt die Verdorbenheit des Militärs; den Schmutz des Krieges und den Gestank, den er verbreitet." Als Searle in Kirkcudbright in Schottland stationiert ist, lernt er eine Familie kennen, deren Tochter eine moderne Schule besucht, die St. Trinnean’s heißt. Zur Unterhaltung des Mädchens fertigt Searle Karikaturen an, die ihre progressive Schule als Nährboden für zukünftige Delinquenten darstellt. "St. Trinian" ist geboren. Diese Cartoons schickt Searle an verschiedene Magazine in London, unter anderem an Lilliput. Von deren Abdruck erfährt Searle nur durch Zufall, als er bereits in Singapur stationiert ist. Kaum ist er dort angekommen, werden die Briten von den Japanern überwältigt. Währenddessen findet Searle auf der Straße eine zerfledderte Lilliput-Ausgabe mit seinem ersten veröffentlichten "St. Trinian"-Cartoon. Als Searle in Kriegsgefangenschaft gerät, zeichnet er, von den japanischen Aufpassern unbeobachtet, auf jeden Fetzen Papier, der ihm unter die Finger kommt. Um die zweijährige Gefangenschaft zu überstehen, beginnt er, das Leben und Sterben der Inhaftierten zu dokumentieren.

Als Searle nach dem Krieg wieder nach London zurückkehrt, beginnt er unter anderem für das Magazin Punch zu arbeiten. Und er verliebt sich in die Lilliput-Mitarbeiterin Kaye Webb. Er heiratet sie 1948 und bekommt mit ihr ein Kind. Neben Cartoons und Magazincovers illustriert Searle Bücher, Werbeannoncen und Reportagen. Trotz des Erfolges hat er "St. Trinian" nie gemocht und beendet die Serie 1952. Im Anschluss illustriert er "Down with skool" von Geoffrey Willans, eine Buchreihe über die Tagebücher des Internatsschülers Nigel Molesworth. In den späten 50er-Jahren leidet Searle unter der Last der kommerziellen Aufträge, die er annehmen muss, um seine Familie zu ernähren. Eines Tages packt er im September 1961 einen Koffer, hinterlässt seiner Frau eine Nachricht und nimmt ein Flugzeug nach Paris. In Frankreich produziert Searle immens viel, von Gemälden, Lithografien, politischen Cartoons bis hin zu Münzen. Nach England wird er nie wieder zurückkehren. Als ich 1965 auf dem Boden des "morning room" sitze und "St. Trinian" zum ersten Mal verschlinge, ist Ronald Searle bereits weit weg. Und die Molesworth-Bücher lese ich erstmals, als ich selbst im Internat bin, weshalb sie für mich besonders wichtig werden. Obwohl ich all seine Arbeiten liebe, berührt mich nichts so sehr wie seine frühen "St. Trinian"-Zeichnungen und die Molesworth-Bücher. In diesen Zeichnungen gelingt es ihm, komplette Welten zum Leben zu erwecken, und dies ist einer der Gründe, warum sie in meinem Herzen immer einen ganz besonderen Platz haben werden.

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Ronald Searle. "The terror of St. Trinians". Ryans Books, 1952 
Wie man es anstellen soll, weiss ich auch nicht

von Jakob Hein

Den Slogan "Kinder an die Macht" betrachte ich als eine typische Blüte des Gutmenschentums, bestenfalls unerträglich, schlimmstenfalls lebensgefährlich. Unerträglich ist der Spruch, wenn damit gesagt werden soll: "Die Kinder! Kann nicht wenigstens einmal auch jemand an die Kinder denken?" (Zitat Helen Lovejoy, "The Simpsons – Der mysteriöse Bierbaron"); lebensgefährlich würde er, wenn dahinter eine ernst gemeinte politische Absicht stünde. Denn Kinder und Macht sind eine sehr schlechte Kombination. Wer weiß, was passiert, wenn man zwei durchschnittlichen Kindern für eine Stunde die uneingeschränkte Macht über lediglich ein Zimmer einräumt, der weiß auch, dass Kinder an der Macht immer eine ziemliche Sauerei hinterlassen. Die Jungs würden alles mit Baggern und Planierraupen dem Erdboden gleichmachen, die Mädchen den Opfern Kleidchen anziehen und Zöpfe flechten. Aber es gibt schon so Momente, wo man sich wünschen würde, dass Kinder auch eine Meinung abgeben dürfen. Solche Momente häufen sich bei dem Thema "Kunst für Kinder". Denn leider haben hier besonders die kleinen Kinder überhaupt nichts zu sagen. Stattdessen regieren die Großeltern. Wenn man "Hörspiele für Kinder" hört, hat man bisweilen den Eindruck, während der Aufnahme habe eine große Helium-Wolke über dem Studio gelegen, so sehr quieken, quaken und jaulen die Sprecher mit bemühter Heiterkeit. In sogenannten "Kinderfilmen" muss man zu diesen Knallbonbon-Stimmen dann auch noch das wilde Grimassieren zweitklassiger Schauspieler ertragen. Die Geschichten sind harmlos, die Welt ist gut, Mama und Papa haben sich lieb.

Bei den Kinderbüchern sieht es kein bisschen besser aus. Der etwas freche, aber doch im Herzen reine Held geht frohgemut durch eine Welt voll hilfreicher Erwachsener und Gefahren, die man mit pfiffigen Ideen überwinden kann. Und das sind noch die besseren Bücher; in den anderen suhlen sich alle Figuren in der rosa Zuckerwatte der Unbeschwertheit, dass es eigentlich ein Fall für die Zahnärztekammer wäre. Und das sind nur die Geschichten. Ganz schlimm wird es bei den Illustrationen. Da dominieren die riesigen Augen, die den niedlichen Figürchen gleich aus ihren riesigen Strubbelköpfchen zu fallen drohen. Da lachen die Hunde und da tanzen die Schafe ironiefrei auf ihren Hinterbeinen. Sollte es in dieser guten Welt voller Sonnenschein mal kurz regnen, dann schlüpfen Fuchs, Hase, Katze und Maus zusammen unter einen kleinen Verschlag und warten eng aneinander gekuschelt darauf, dass wieder die liebe Sonne mit ihrem runden Gesicht über die rollenden Hügel lacht. Das Ganze ist so koloriert, dass der empfindlichere Mensch solche Bücher nur mit einer Sonnenbrille betrachten sollte. Schatten gibt es nirgendwo, unverdünnt leuchtet das Rot, grell strahlt das Gelb. So, erklären die Erwachsenen, wollen Kinder Bücher. Das erklären die Großeltern dem Buchhändler, der erklärt es dem Verlag und der Verlag erklärt es den Autoren. Die Autoren malen und schreiben schulterzuckend die geforderten Bücher, der Verlag druckt sie und die Großeltern kaufen sie. Die Kinder haben keine Wahl und lesen das, was da ist, denn gute Kinder brauchen dringend Bücher zum geraden Wachstum. Aber sobald sie ein paar Taler eigenen Taschengeldes haben, pfeifen sie auf die Oma-Bücher und kaufen sich Comics. Das müsste doch mal jemandem auffallen! Nur manchmal kommen, gewissermaßen versehentlich, vorbei an der strengen Aufsicht der Weltverschwörung von Großeltern und Großverlagen, Kinderbücher auf den Buchmarkt, die anders sind; Ausnahmen, die umso schmerzhafter an die Regeln erinnern. Diese Perlen im Sumpf lieben Kinder von Herzen, und diese Liebe währt nicht selten für immer und ewig. Ungeduldig warten die erwachsen gewordenen Kinder dann darauf, eigene Kinder zu haben. Nicht, um deren nächtliches Geschrei zu ertragen oder die stinkenden Windeln zu wechseln, sondern um endlich wieder die geliebten Kinderbücher lesen zu können. Diese Bücher überdauern sehr lange und werden von Generation zu Generation weitergegeben, während die lachenden Bonbonhunde nach immer nur ein paar Jahren eingeschläfert werden müssen.

"Wo die wilden Kerle wohnen" von Maurice Sendak ist zweifellos eines jener Bücher, für die es sich lohnt, Kinder zu kriegen. Denn "an dem Abend, als Max den Wolfspelz trug", passieren die unglaublichsten Dinge: Zwar verbannt ihn seine Mutter ohne Abendessen in sein Zimmer, aber da werden die Wände "so weit wie die ganze Welt", und Max segelt "wochenlang, fast ein ganzes Jahr" in die Welt hinaus, bis zu dem Ort, wo die wilden Kerle wohnen! Parallel zur Handlung werden auch die Illustrationen immer größer, bis sie schließlich in der Mitte des Buches allen Text von den Seiten verdrängt haben. Denn da machen Max und die wilden Kerle sechs Seiten lang Krach, und was soll es dazu schon zu sagen geben? Im Gegensatz zu Großeltern und Verlagen brauchen Kinder keine logischen Überleitungen, keinen psychologischen Realismus. Die Erzählweise der "Wilden Kerle" folgt der Fantasie und keinem anderen Stern. Nach ein paar Seiten ist in Max’ Zimmer ein Wald gewach-
sen; ein paar Seiten später wird er natürlich König der wilden Kerle und steht kurz darauf schon wieder in seinem Schiff, wo er "ein ganzes Jahr und viele Wochen lang" segelt, um am gleichen Tag wieder zu Hause anzukommen. Zwischen zwei Bildern und zwischen zwei Zeilen sind, wie in einem Comic, ganze Welten verborgen. Der Gedanke, dass es dieses Buch schon vierzig Jahre lang gibt, dass es also wohl schon lange Großeltern in Verlagen gibt, die es doch eigentlich besser wissen müssten, ist bedrückend. Aber wie man es anstellen soll – weiß ich leider auch nicht.

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Maurice Sendak. "Wo die wilden Kerle wohnen". Diogenes Verlag, 1967