Magazin
"Es" ist nackt

Gleich zu Anfang steigert sich der in Kanada gelandete Franzose in die Frage hinein, was wohl mit dem Geschirr, das in der Spüle in Paris vor sich hin gammelt, während seiner Abwesenheit passieren mag. Der Schmutz und Dreck quillt auf, vermehrt sich, brodelt, lebt, wird zum abartigen Morast. Was in Paris wirklich geschieht – wer weiss das schon? In Kanada jedenfalls mutiert auch Killoffers Wesen selbst gemäss eben jener Fantasie: Es vermehrt sich, brodelt und wird zum abartigen Morast. Killofer rennt durch Strassen, sitzt in Cafés und geht in Clubs. Währenddessen lungern in seiner Wohnung immer mehr Alter Egos herum. Unzählige nackte Killoffers saufen, fressen, rauchen wie die Schlote und ficken, ein Ebenbild das andere. Zunehmend randalieren sie auch auf der Strasse und in den Etablissements der Stadt, in denen auch Killoffer verkehrt, zetteln Schlägereien an, belästigen Passanten und vergewaltigen. Killoffer kämpft in dem fast wortlosen Album mit sich, seinen Trieben, seinen Fantasien – alles garantiert von der widerwärtigsten Art. Das „Es“ lässt hier voll die Sau raus, und „Ich“ und „Über Ich“ werden kaum mehr Herr der Lage – bis das Killoffer-Ich zum grossen Gegenschlag ausholt und ein sagenhaftes Massaker anrichtet. Was dann allerdings nicht weniger übel aussieht als das Treiben der Alter Egos... Ein gemeines, kleines grosses Werk hat der französische Zeichner da geschaffen. Ein Ringen mit sich selbst, das virtuos inszeniert ist. Die Spaltung der Persönlichkeit erfasst Killoffer in ganzseitigen Panels, die kaum definierte Räume öffnen und imposant durch die Zeitachse gleiten. Und eben auch durch so etwas wie eine „Psychoachse“. Doch trotz allen Gewusels zeichnet Killoffer klare Linien und in starken, schwarzweissen Kontrasten, sodass man die splatterigen Wimmelbilder entgegen aller angewandten Mittel der Desorientierung entschlüsseln kann. Und so steigen vor dem Leser grossartige Schlachtengemälde auf, in denen der Autor eine wahrlich unzimperliche Selbstentblössung an den Tag legt.

Christian Meyer




Killoffer: „Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer“. Reprodukt, 48 Seiten, schwarzweiss, Klappenbroschur, Euro 12.00 / sFr. 22.-
Keine Autobiografie

Das erste ins Deutsche übersetzte Album von Paul Hornschemeier, „Komm zurück, Mutter“, entfaltet zu Beginn ein tückisches Verwirrspiel um die Autorenschaft. An Stelle von Hornschemeiers Geschichte um den siebenjährigen Thomas Tennant, der nach dem Krebstod der Mutter nicht nur mit diesem Schicksalsschlag, sondern auch mit dem zunehmend dramatischen psychischen Verfall seines Vaters zurecht kommen muss, findet man in diesem Album eine angebliche, in Comic-Form gehaltene Einführung des siebenjährigen Protagonisten zu Hornschemeiers Geschichte. Diese nimmt aber das komplette Buch ein. Die Einführung endet schliesslich mit „Erstes Kapitel – Wir sind alle erlöst“. Es folgt eine Danksagung von Hornschemeier. Ende des Buchs. Durch die vorangestellte Einführung verstärkt Hornschemeier das Gefühl, dass eine wahre Geschichte erzählt wird. Die das ganze Buch einnehmende „Einleitung“ scheint eine Autobiografie zu sein. Dabei ist zu sagen, dass in den Comics der letzten Jahre das Genre der Autobiografie längst keine Ausnahme mehr ist. Das Buch wäre also kaum etwas Besonderes, nicht einmal bei einem solch existentiellen Thema – man denke an „Mutter hat Krebs“ von Brian Fies oder Francois Peeters’ „Blaue Pillen“. Doch diese vermeintliche Autobiografie ist eben gar keine. Stattdessen erzählt Hornschemeier, versteckt hinter seinem kindlichen Protagonisten, eines der eindringlichsten, tragischsten und zugleich poetischsten Comic- Dramen seit langer Zeit. Grafisch ist er eindeutig vom grossen Chris Ware beeinflusst. Eine klare Linie, gleichförmige, farbige Flächen und wenig Hintergrunddetails charakterisieren die minimalistischen Zeichnungen. Die Dialoge fangen ebenso wie die Bilder knapp und präzise die vereiste Gefühlslage der Figuren ein. Doch Realismus ist nur ein Standbein der Geschichte. Die Flucht von Vater und Sohn vor der Wirklichkeit, dem Tod der Mutter, ist unprätentiös als Fantasiewelt in die Story eingewoben. So nennen sie das Grab der Mutter beispielsweise ihr „Versteck“. Auch der Leser gleitet ebenso unmerklich von einer Wirklichkeit in die andere. Das kennt man zwar auch von Chris Ware, man denke an „Jimmy Corrigan“. Aber Hornschemeier beweist dennoch Eigenständigkeit mit dieser einfühlsamen Erzählung aus der Sicht eines inzwischen erwachsenen Thomas, der sich durch den Nebel seiner Erinnerung wagt. Durch die Fiktionalität büsst sie im Übrigen nichts ihrer Qualitäten ein – im Gegenteil.

Christian Meyer




Paul Hornschemeier: „Komm zurück, Mutter“. Carlsen, 128 Seiten, farbig, Hardcover, Euro 16.- / sFr. 28.-<
Sex and Crime

Bevor Brian Azzarello und Eduardo Risso mit der ausserordentlich erfolgreichen Serie 100 Bullets begannen, hatten sie bereits 1998 die Miniserie Johnny Double geschaffen. Diese war nicht nur ihre erste Zusammenarbeit, sondern für Azzarello auch der Einstieg als Comic-Autor. Jetzt endlich ist das gemeinsame Debüt in einem Sammelband auf Deutsch erschienen. Johnny Double ist Privatdetektiv, lebt davon aber mehr schlecht als recht. Er haust in einer winzigen Absteige, ist von abgewrackten Gestalten umgeben und im Wachzustand öfter betrunken als nüchtern. Eines Tages erhält er den Auftrag, eine junge Frau zu suchen. Natürlich ist sie schön und sexy, und natürlich gerät er durch sie in Schwierigkeiten. So wird er in einen Raub verwickelt, der fatale Folgen hat und ihn immer tiefer in ein kriminelles Netz zieht, bis er irgendwann selbst nicht mehr genau zu wissen scheint, auf welcher Seite er steht. Gegen Ende verdichtet sich der Plot, der bis zuletzt immer wieder überraschende Wendungen liefert. Risso hat die Story in feinster Crime-noir- Manier umgesetzt, die den Lesern von 100 Bullets bereits vertraut sein dürfte. Vieles spielt sich im Schatten ab, ansonsten dominieren Orange-, Braun- und Grautöne. Die Bewegungen sind rasant, es gibt viele schnelle Schnitte und Perspektivenwechsel und oft überschneiden sich die Panels oder brechen auf, was der Geschichte ein hohes Tempo verleiht. Den zahlreichen brutalen Szenen wird (meist schwarzer) Humor entgegengesetzt. Genauso viel Spass macht die derbe Sprache, die erstaunlich gut ins Deutsche übertragen wurde. Obwohl Azzarello und Rizzo häufig mit Klischees aus der Hard-Boiled-Literatur spielen, erhält der Charakter des Titelhelden im Verlauf der Handlung durchaus Tiefgang. Johnny ist ein cooler, unnahbarer Typ, dem nichts und niemand etwas anhaben kann. Doch nach und nach erfährt man, dass er sich ein gewisses Mass an Gefühlen bewahrt hat. Dabei erinnert er ein wenig an die verlorenen Anti-Helden aus Frank Millers „Sin City“, und auch die Gesamtstimmung ist ähnlich. „Johnny Double“ bewegt sich jedoch auf einer realistischeren Ebene, ist nicht so radikal überzeichnet und besitzt weitaus mehr Humor. Das Erstlingswerk von Azzarello/Rizzo macht von vorne bis hinten Spass und lässt einen mühelos in die Handlung eintauchen. Atemlos wie der Titelheld hetzt man durch die Seiten und läuft dabei Gefahr, der meisterhaften Umsetzung zu wenig Beachtung zu schenken. „Johnny Double“ bewegt sich auf dem selben hohen Niveau wie 100 Bullets und ist somit alles andere als lediglich ein Vorläufer.

Jan Westenfelder




Brian Azzarello / Eduardo Risso: „Johnny Double”. Amigo Grafik, 100 Seiten, farbig, Hardcover, Euro 14.80 / sFr. 27.-
Der Zwergentanz und andere komische Seiten im Leben

Das Cover von Anna Sommers Album „Die Wahrheit und andere Erfindungen“ wirkt in seiner schlichten Aufmachung fast nostalgisch. Nun bedeutet Nostalgie nicht selten Wehmut über eine verflossene, glückliche Kindheit, und tatsächlich geht es auch um Kindheit in Anna Sommers erstem autobiografischen Comic. Allerdings erzählt Sommer nicht mit Wehmut, sondern mit Schalk, Witz und Ironie – schliesslich leben gute Anekdoten mehr von ihrer Pointe und weniger von ihrem Wahrheitsgehalt. Wie der Titel schon anklingen lässt, sucht Anna Sommer nicht die nüchterne, faktische Selbstdarstellung, sondern gestaltet das Selbsterlebte zu Geschichten. Sie gibt auch nur so viel Persönliches preis, dass weder sie noch ihre Freunde und Verwandten blossgestellt werden. Ihr Sinn für feinen Humor zeigt sich nicht zuletzt im Epilog. Dort nimmt sie verschmitzt und scherzhaft einige möglicherweise kritische Situationen vorweg, in die sie oder ihr Freund Yves Noyau hätten tappen können. „Die Wahrheit und andere Erfindungen“ beginnt, der Chronologie folgend, mit den frühen Kindheitserlebnissen der 1968 geborenen Anna Sommer. Zum Beispiel erfährt man, wie sie mit ihrem Bruder Kriegssoldat und Mutter spielte. Danach lernt man Annas kleine Jugendsünden kennen, etwa den missglückten Keksklau beim Dorfpfarrer oder den kurzen Flirt mit dem schönen Marco, der mit schrecklich viel Spucke küsst. Noch ein wenig intimer wird es dann während der Ausbildungszeit in einem Gra fikeratelier, wo die Liebe zum heutigen Lebenspartner Noyau keimt und über dessen „Zwergentanz“ man bestens ins Bild versetzt wird. Wie bei allen biografischen Comics freut man sich, wenn sich unversehens die fremden Erfahrungen mit den eigenen kreuzen. So wüsste auch der Verfasser dieser Zeilen ein Liedchen von den unverhofften Faust- und Fusstritten in überfüllten Schwimmbecken Zürcher Hallenbäder zu singen. Dann und wann mischt sich in das Schmunzeln > aber auch Reflexion: Was genau lässt einen männlichen Leser lächeln, wenn der jugendlichen Anna im Meer der Tampon davonschwimmt? Für STRAPAZIN-Leserinnen und -Leser im Übrigen nicht uninteressant sind Anna Sommers Einblicke in den Arbeitsalltag des STRAPAZIN-Ateliers: Ob Edition Moderne- Verleger David Basler tatsächlich so wachsam auf die Arbeitszeit „seiner“ Künstlerinnen und Künstler achtet...?

Florian Meyer




Anna Sommer: „Die Wahrheit und andere Erfindungen“. Edition Moderne, 64 Seiten, s/w, Halbleinenband, Euro 14.80 / sFr. 24.80
Ein Knutschfleck im Dickicht der Liebe

Den Anfang von Kati Rickenbachs Comic- Soap „Filmriss“ macht ein Birkenwald: Bild um Bild wächst dieser Wald aus dem Nichts und wird zu einem dichten Geflech aus Stämmen und Ästen, in dem man nicht weiss, wo man steht. Kein Pfad führt durch diesen Wald und keine Spur zu seinem Namen – und plötzlich klingelt ein Telefon und die Geschichte nimmt einen Lauf, der ähnlich verwinkelt ist wie das Dickicht des Waldes. Lela erwacht nach einer durchzechten, stürmischen Nacht und bemerkt einen Knutsch fleck auf ihrer rechten Schulter. Und sie weiss nicht, von wem er stammt! So sehr sie sich auch anstrengt, der leidenschaftliche Liebhaber bleibt aus ihrem Gedächtnis getilgt. Von der offensichtlichen Erinnerungslücke verunsichert, macht sich Lela auf die Suche nach dem unbekannten Täter. Doch die Wege zur Wahrheit bleiben zunächst verworren. Laufend tauchen neue Personen auf, und die Menschen, die sich eigentlich lieben, gehen auseinander, während die Menschen, die sich nicht wirklich lieben, zusammenkommen, und manch einem steht der Kopf nicht da, wo er sollte. Da ist beispielsweise ein eleganter Schnauzträger, der sich als Psychologe ausgibt, einen von der Liebe übermannten Jungen tröstet, bevor er sich selber als Psychiatriepatient entpuppt. Da sind Nina und Johannes, die sich an einer Singleparty kennen lernten, als er beim „Speedflirting“ einfach schwieg. Und da ist Jeorn, der – jung, schön und arglos – Nina und Lela die Augen verdreht, bis er selbst im Regen steht. Und da sind ein namenloser Brillenträger, der aus lauter Verschüchterung schamlos wird, und eine desillusionierte Sängerin. Sie alle sind auf ihre Weise Teil jener verlorenen Erinnerung, die Lela Stück um Stück wieder zusammenfügt. Der Leser braucht eine Weile, bis er durchschaut, wie all diese Personen und Handlungsstränge zueinander passen. Und doch liest sich „Filmriss“ in einem Atemzug, denn Rickenbach erweist sich als gewiefte Erzählerin: Gekonnt verknüpft sie den Realismus städtischer Alltagsreportagen mit der Ironie autobiografischer Comics und der Rasanz japanischer Mangas. Das macht aus „Filmriss“ eine schnelle, spannende und zugleich komische Lektüre über Liebe, Rausch und urbanen Lifestyle, aber auch über Einsamkeit und seelisches Leiden im Herzen der Stadt.

Christian Meyer




Kati Rickenbach: „Filmriss“. Edition Moderne, 80 Seiten, zweifarbig, Hardcover, Euro 14.80 / sFr. 24.80
Im Labyrinth der Grossstadt

Endlich entdecken auch die deutschsprachigen Verlage Jiro Taniguchi. Obwohl er weltweit als einer der berühmtesten Manga- Autoren gilt, ist „Die Stadt und das Mächen“ nach der Geschichtensammlung „Der Wanderer im Eis“ erst sein zweites Werk, das auf Deutsch erhältlich ist. Der Protagonist Shiga ist passionierter Bergsteiger, lebt zurückgezogen in den Bergen und hat Tokio seit Jahren nicht mehr betreten. Als er eines Tages erfährt, dass Megumi, die Tochter eines tragisch verunglückten Freundes, verschwunden ist, begibt er sich auf die Suche nach ihr. Er reist nach Tokio und beginnt, die labyrinthartige Stadt zu durchforsten. Dabei trifft er auf die verschiedensten Personen, die ihm manchmal helfen, ihn manchmal aber auch in die Irre führen. Bald entwickelt sich ein Kriminalfall, der dunkle Geheimnisse zu Tage trägt und in einem furiosen Finale endet. Die Handlung vollzieht sich jedoch nicht nur auf dieser äusseren, sondern auch auf einer inneren Ebene. So tritt Shiga wieder in engeren Kontakt mit Megumis Mutter Yoriko, eine ehemals sehr vertraute Freundin, und es werden immer mehr Details der Beziehung zwischen Shiga, seinem Freund und Yoriko aufgedeckt. Die Charaktere sind sehr realistisch und tiefgründig angelegt und erhalten im Verlauf der Handlung stetig weitere Facetten. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Rückblenden, die in Form von Erinnerungen Shigas die Vergangenheit der Figuren erhellen. Fast wie nebenbei bringt Taniguchi zwei weitere Themen ein, die einen traurigen Bezug zur Realität herstellen: Prostitution von Teenagern und Pädophilie. Dadurch hebt er sich positiv von der Masse an Manga ab, in denen kleine Schulmädchen als Lustobjekte dargestellt werden. Taniguchis Zeichnungen werden vor allem durch klare Linien bestimmt, die viel Ruhe ausstrahlen, mit denen er seinen Figuren aber auch zu einer ausgeprägten und dennoch realistischen Mimik verhilft. Besonders eindrücklich stellt er die Wirkung der Stadt auf Shiga dar: Die weichen Linien und leeren Bilder der Bergwelt stehen in krassem Kontrast zur überfüllten Grossstadt mit ihren harten und eckigen Formen. Die Verbindung beider Welten findet Shiga letztendlich im Wind, der sowohl durch die Berge als auch durch die Wolkenkratzer heult und für ihn zu einem Symbol der Freiheit wird. Überhaupt verwendet Taniguchi eine ausgeprägte Bildsprache, die oft sogar ganz ohne Text auskommt. Dadurch entsteht eine Intensität, die einen von Anfang an in ihren Bann zieht. In Verbindung mit der ständig an Spannung gewinnenden Handlung und der melancholischen Grundstimmung bringt sie einen dazu, das Buch nicht mehr aus der Hand legen zu wollen. Auch für Nicht-Manga- Fans dürfte „Die Stadt und das Mädchen“ ein faszinierendes Werk sein.

Jan Westenfelder




Jiro Taniguchi: „Die Stadt und das Mädchen“. Schreiber & Leser, 335 Seiten, s/w, Softcover, Euro 16.95 / sFr. 30.70
Luft- statt Sprechblasen

Unter Wasser hört dich keiner. Also machen Worte in einem Comic, das vorwiegend auf dem Meeresboden spielt, auch keinen Sinn. So erscheint in „Findrella“ des Hamburger Zeichners Calle Claus höchstens mal die eine oder andere Denkblase, während die Dialoge in Unterwasser-Sprache, also mit Mimik und Gestik geführt werden. Abgesehen davon benehmen sich die jungen Meerjungfauen und -männer aber nicht anders als ihre trockneren Altersgenossen an Land. Sie spielen Fussball, essen Eis und trinken Cola – nähme mich mal Wunder, wie das unter Wasser so schmeckt – als würden sie im Viertel nebenan wohnen. Und natürlich gehen sie sehr ungern zur Schule und haben Liebeskummer. Claus’ Erfahrung mit jungen Leuten zeigte sich bereits bei seinen Schanzen-Babes, die übrigens zur Zeit gerade einen Ausflug in Fils neuen Didi-und-Stulle-Band machen. In „Findrella“ benützt Claus helle, kühle Blautöne und erzählt routiniert eine Story, die den negativen Einfluss der Haute-Couture auf die Ich-Findung unter Berücksichtigung der Anwesenheit von Riesentintenfischen behandelt – eine Erfrischung in Comic-Form für heisse Tage.

Tim Kongo




Calle Claus: „Findrella”. Edition 52, 144 Seiten, Euro 14.- / sFr. 24.90
Pro Pop, aber Anti Warhol

Seit rund zehn Jahren bereits veröffentlichen der Zeichner Stefan Katz und der Schriftsteller Max Goldt Comic-Bände mit ungewöhnlichen Titeln wie „Das Malträtieren unvollkommener Automaten.“ Auch das neue Buch hört auf einen seltsamen Namen: „Der Globus ist unser Pony“. Und damit nicht genug der sonderbaren Dinge. Der Band hat auch einen eigenen Klingelton und ein eigenes Motto: „The duo who does, what duos should do“. So bescheuert das klingt, so treffend ist es auch. Das Zusammenspiel von unprätentiösem Zeichenstil und subtilem Text funktioniert hervorragend. Katz und Goldt ergänzen sich, als wären sie siamesische Zwillinge, die nur noch durch eine Operation zusammengefügt werden müssen. Zur Hauptsache besteht „Der Globus ist unser Pony“ aus den in der Zeit erschienenen Briefen Bolkos an dessen Freund Bronko. Was erst als starres Korsett erscheint, stellt sich allerdings bald als geschmeidiges Gewand heraus. Dies liegt unter anderem an der nicht leicht einzuordnenden Persönlichkeit Bolkos und seinem Gespür für die weniger wichtigen, deshalb aber nicht uninteressanteren Plätze dieser Welt. Seine Äusserungen zeugen von einer gemässigten Affinität zur Popkultur und von einem grossen Hang zur Gegegenwartsbewältigung mittels treffender, von der Umgebung aber oft unverstandener Kommentare. Sein Wertesystem ist durchaus beweglich, weshalb auch nie voraussehbar ist, was er nun für gut oder schlecht befinden wird. Pop in Form von John-Peel-Sessions befürwortet er etwa, in Form von Andy-Warhol-Drucken lehnt er ihn aber kategorisch und mit Imperativ ab. Bolkos Äusseres wiederum ist sowohl den Stimmungen seines Zeichners als auch der Handlung des Cartoons unterworfen. Zugegeben, von einer solchen spricht man normalerweise bei diesem Genre nicht. Bei Katz und Goldt ist dies jedoch angebracht. Die Pointe – wenn überhaupt vorhanden – ist nicht alleiniges Ziel und kann überall stehen. Oft wird sie kommentiert und manchmal zieht sie eine zeichnerische oder textliche Variation nach sich, die lustiger ist, als sie selbst. Diese gedankliche Extra- Meile ist es, die schon Goldts Texte weit über die Flut scheinbar lustiger Nörgelkolumnen erhebt und die auch „Der Globus ist unser Pony“ zu einer äusserst anregenden Lektüre macht. Denn als Leser beginnt man bald, auch selber auf die kleinen Ungereimtheiten des Alltags zu achten, auf Dinge mit seltsamen Namen und peinliche Stadtmarketing-Erzeugnisse wie den Slogan „Keep Chur“. Man beginnt, eine Lust am Paradoxen zu entwickeln und Missverständnissen mit einem Lächeln zu begegnen.

Tim Kongo




Max Goldt / Stefan Katz: „Der Globus ist unser Pony, der Kosmos unser richtiges Pferd“. Edition Moderne, 96 Seiten, Euro 19.80 / sFr. 35.-
Blexbolex' Private Eyes

Der Private Eye, der amerikanische Privatdetektiv, ist eine Erfindung der Hard-Boiled- Hefte. Aufgrund seiner Vielschichtigkeit und Ambivalenz ist er eine beliebte Figur des Film noir sowie der Comics, durch die er seine eigentliche Popularität erlangte. Da er seinen Glauben in das staatliche Rechtssystem verloren hat, greift er bei seinen Ermittlungen meist auf unlautere Mittel zurück. Der in Paris lebende Comic-Zeichner und Illustrator Blexbolex hat zwei Publikationen veröffentlicht, deren Protagonisten ein Private Eye ist, oder wie er im Französischem heisst: „oeil privé“. So lautet auch der Titel seines wunderbaren Comic-Bandes, der bei dem Verlag Inox erschienen ist. Die Story handelt von einem Detektiv, der sich im Auftrag eines Grossindustriellen auf die Suche nach einem gestohlenen Dokument und einer flüchtigen Laborantin macht. Doch nach und nach entpuppt sich der Auftraggeber als der eigentliche Kriminelle und der Auftrag als eine einzige Farce. In seiner Narration spielt Blexbolex virtuos mit den oben genannten Klischees der Hard-Boiled-Figur, die sich sowohl in den verführerischen Frauen und falsche Fährten finden als auch in dem Changieren der Figuren zwischen gut und böse. Aber es ist vor allem sein grafisches Können, das diesen Comic zu einem wahren Meisterstück macht. Die zeichnerischen Ursprünge des ehemaligen Dernier-Cri- und Cornelius-Siebdruckers sind mannigfaltig, sie reichen von der Ligne claire bis hin zu den Konstruktivisten der russischen Avantgarde der Zehnerjahre des letzten Jahrhunderts. So finden sich Verweise und Einflüsse von Lissitzky und Rodtschenko bis hin zu dem grandiosen Illustrator Lebedev. Und in den urbanen Szenarien spiegelt sich Otto Dix wider, während man in der Überzeichnung der Schurken Chester Goulds Dick Tracy erahnt. Blexbolex belässt es jedoch nicht bei einem simplen Zitieren und banalen Neuarrangement der Stile. Vielmehr leuchten sie unter der Patina des aufwendig gedruckten Comics hervor, so dass sich manch Unwissender beim erstmaligen Betrachten fragen wird, ob es sich bei dieser Publikation um ein antiquarisches oder aktuelles Buch handelt. Gekonnt komponiert Blexbolex aus abstrakt geometrischen Formen und einer meisterlichen Farbtrennung seinen retrofuturistischen Stil, der jedem Einzelbild eine grafische Eigenständigkeit verleiht und sie bei dem „oeil privé“ regelrecht in Konkurrenz treten lässt. Bei dem weitaus aufwendiger produzierten Siebdruckbuch „Crimechien“ ist dies dagegen nicht der Fall. Text und Bild sind strikt voneinander getrennt und jede Zeichnung kommt auf einer Einzelseite zu ihrer vollsten Geltung. Dies verleiht dem grafisch weitaus abstrakter gehaltenen Comic-Buch über die heimliche Weltherrschaft der Hunde eine gewisse Ruhe und Intensität, die zu einer ausgiebigen Betrachtung der Illustrationen einlädt. Beide Publikationen zeichnen Blexbolex als einen der aktuell interessantesten und spannendsten Illustratoren aus. Zu dieser Erkenntnis werden selbst Leser gelangen, die des Französischen nicht mächtig sind. Wer dennoch auf die erste deutschsprachige Publikation von Blexbolex warten möchte, sollte im Herbst 2007 unbedingt nach Armin Abmeiers Reihe Die tollen Hefte Ausschau halten.

Matthias Schneider




Blexbolex: „L’oeil privé“. Les Requins Marteaux, Albi 2007, 60 Seiten, farbig, Euro 18.- / ca. sFr. 30.-
Blexbolex: „Crimechien“. Pipifax Verlag, Siebdruck, 20 Seiten, farbig, Euro 30.- / sFr. 40.-
Aktuelle englischsprachige Anthologien

Der Markt für Comic-Anthologien ist ein hartes Pflaster. Brett Warnock, Herausgeber von Top Shelf Books, sagt: „Mir ist völlig schleierhaft, wieso sich in Nordamerika Comic- Anthologien so schlecht verkaufen. Ich habe das Thema ziemlich satt und kann mir nicht vorstellen, in naher Zukunft weitere Anthologien zu veröffentlichen. Vielleicht handelt es sich ja um ein globales Problem: Schliesslich ist sogar in Frankreich A Suivre eingegangen.“ Nicht alle Anthologien sind also erfolgreich. Tatsächlich sind einige von Klein- oder Eigenverlagen produzierte Sammlungen sogar ziemlich erbärmlich. Doch mit verlagstechnischem Weitblick kann eine Anthologie brillieren. Darum will ich auf ein paar kürzlich erschienene Anthologien im englischsprachigen Raum hinweisen, die einer Lektüre wert sind. C‘est Bon Anthology ist eine hochintellektuelle Publikation aus Schweden. In selbst auferlegter Mission will der Verlag „anspruchsvolle Comics unterstützen und verbreiten“. Die frühen Bücher widmen sich hauptsächlich skandinavischen Künstlern, darunter vier der Begründer: Oskar Aspman, Kilas Asker, Susanne Johansson und Mattias Elftorp. In neueren Ausgaben ist die Liste der Autoren internationaler geworden, während die Qualität der eingereichten Arbeiten generell stetig angestiegen ist. C‘est Bon erinnert an zwei grosse Comic- Anthologien der neunziger Jahre: Le cheval sans tête und Frigobox. Wie diese unterstützt C‘est Bon experimentelle Erzählformen und eine grosse Vielfalt gewagter künstlerischer Ansätze. Die letzte Ausgabe vereint – nebst alten C’est Bon-Favoriten wie Danijel Zezelj und Marko Turunen – eindrucksvolles Material unbekannter Künstler wie Jessica Khane, Pedro Nora und Vincent Stall. Ebenfalls in der neusten Ausgabe befindet sich ein scharfsinniges Essay über britische Comics des Experten Paul Gravett, der anhand einer Bestandesaufnahme kürzlich stattgefundener Comic-Ausstellungen in Museen festhält, dass die besten Comics weder der Tradition der bildenden Kunst noch der des Romans unterworfen sind. Eine zweite Anthologie intellektuellen Inhalts ist Fantagraphics‘ MOME. Der Verlag verfolgt dabei den Ansatz einer literarischen Anthologie, konzentriert sich aber auch darauf, stets interessante „neue Stimmen“ und aufkommende Talente des englischsprachigen Comic-Schaffens zu entdecken. Die aktuelle Ausgabe beinhaltet Arbeiten von MOME-Favoriten wie Gabrielle Bell, Andrice Arp, Paul Hornschemeier und Anders Nilsen, aber natürlich auch ein paar Überraschungen: eine brillante Kurzgeschichte der begabten Illustratorin Eleanor Davis, die eben erst die Welt der Comics entdeckt hat, eine Serie von entzückenden, verstörenden Illustrationen von Al Columbia, der leider viel zu selten veröffentlicht, und schliesslich der zweite Teil von Lewis Trondheims faszinierenden Memoiren über sein Leben als Comic-Wesen in „At Loose Ends“. Eine weitere nennenswerte Anthologie ist Project: Romantic, das sich selbst als „Anthologie über Liebe und Liebeskram“ bezeichnet. Project: Romantic ist die dritte in einer Trilogie von Anthologien, die von AdHouse-Herausgeber Chris Pitzer erdacht wurde. Sie schliesst an das frühere Project: Telstar an, die auf Sci-Fi und Roboter fokussiert, und an Project: Superior, die dem Thema „Superhelden“ gewidmet ist. Jede einzelne Anthologie ist ein überaus schön produziertes Buch in Farbe, das eine weite Spanne hauptsächlich amerikanischer Kleinverlags-Zeichner versammelt, deren Stil weniger einem intellektuellen, sondern eher der traditionellen Cartoon-Erzählung nahe kommt und oft eine humorvolle Note enthält. Project: Romantic beginnt mit einem kurzen, aber scharfsinnigen Essay über die Geschichte der Liebes-Comics, welche in der US-amerikanischen Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs ihren Höhepunkt erreichten. Danach folgt eine komplette und umfassende Palette von Comics in allen möglichen Stilen und Themen. Meine Favoriten sind unter anderen Joel Priddys witzigironisches „Sweetie and Me“ oder Randall Christophers surreale und mit trockenem Humor erzählte Geschichte „Even Monkeys Know About Love After A Hundred Years“. Mit ihren 250 Seiten und fast 40 verschiedenen Beiträgen trotzt diese Sammlung einer kurzen Zusammenfassung. Der Gesamteindruck ist – wie bei den anderen beiden Project-Folgen – absolut bezaubernd. Project: Romantic ist der schlagende Beweis dafür, dass gute Comic-Anthologien nicht nur für ein intellektuelles Publikum sein müssen. Wie auch immer ihr Schicksal aussehen mag, Comic-Anthologien bieten neuen Künstlern eine wunderbare Plattform, um Verbreitung und Anerkennung zu finden, während sie bewährten Künstlern Raum geben für Experimente. Neue Comic-Leser können sich also sehr gut mittels einiger guten Anthologien in die Geschichte des Comics einlesen. Und ich – ein alteingesessener Leser – hoffe, dass wenigstens eine handvoll Herausgeber weiterhin ihr wirtschaftliches Wohlergehen aufs Spiel setzt und ihren Glauben an Anthologien nicht verliert.

Mark David Nevins




C‘est Bon Anthology, Vol. 2. Euro 11.50
Mome #7. Fantagraphics, $ 14.95