Magazin

Buchtitel gezeichnet von M.S. Bastian
Lektionen in fünf Liedern

Der italienische Zeichner Gipi hat im letzten Jahr mit seinem Album "Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte" viel Aufmerksamkeit erregt und zudem in Angoulême den Preis für das beste Album erhalten. "Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte" war eine in einem fiktiven Krieg im Italien der Gegenwart angesiedelte Teenagergeschichte mit existenzialistischen Zügen. Seine zuvor erschienenen Kurzgeschichten "Nachtaufnahmen" hatten ebenfalls diesen düster-existenzialistischen Zug. Gipis neues Album "5 Songs" ist nun deutlicher in der Wirklichkeit, wie wir sie kennen, angesiedelt. Vier Jungs aus einer italienischen Kleinstadt am Meer spielen in einer Band. Die Musik ist das verbindende Element. Ansonsten sind die Teenager recht verschieden: Der erste versucht sich gegen seinen übermächtigen Vater zu behaupten, während der zweite unter der Schwäche des Vaters leidet. Der dritte hat gar keinen mehr und spielt dafür mit Nazisymbolen, der vierte erlebt seine erste Liebe. Gemeinsam versuchen sie, etwas Sinnvolles in ihrem Leben auf die Beine zu stellen. In ihrem Fall heisst das vor allem: ihre Musik an ein Publikum zu bringen. Dabei sind allerlei Hürden zu nehmen und einige Lektionen zu lernen: Mädchen, Macht und Moral – alles Themen, mit denen sich die Jungs auseinandersetzen müssen, um an ihnen zu wachsen. Gipi setzt einen schnellen, kantigen Strich ein, der allerdings durch die meist erdfarbenen Aquarelltöne aufgeweicht wird. "5 Songs" ist mit der Darstellung einer kurzen, sehr typischen Episode im Leben von vier Jugendlichen eine Art kleiner Bildungsroman. Die Geschichte hat zwar nicht die Schwere früherer Alben, erlangt aber auch nicht ganz deren Tiefe. Die Nähe zum französischen Zeichner Baru wird mit dem neuen Album deutlicher als je zuvor. Thematisch liegt der Vergleich sowieso auf der Hand. Aber auch der kantige, expressive Zeichenstil und die weich darübergelegten Aquarellfarben erinnern an die Arbeiten des Franzosen, obschon Gipis Konturen zerfranster und die Farben verwaschener sind. Gipi und Baru – auf einmal scheinen sogar die zweisilbigen Pseudonyme der beiden Zeichner für deren künstlerische Verwandtschaft zu bürgen

Christian Meyer




Gipi: "5 Songs". avant-verlag, 128 Seiten, vierfarbig, Euro 17.95 / sFr. 32.30.-
Der King in Bildern

Dass Reinhard Kleist sich nach seiner preisgekrönten Cash-Biografie jetzt auch am King of Rock ’n’ Roll versucht, scheint zunächst wenig originell zu sein. Wer aber einen Abklatsch von "Cash – I See a Darkness" erwartet, liegt falsch, denn die Umsetzung des Elvis-Stoffes unterscheidet sich erheblich davon. Kleist tritt hier hauptsächlich als Texter in Erscheinung, wobei ihm Titus Ackermann, Gründer und Herausgeber des Comicmagazins Moga Mobo, zur Seite stand. Die beiden präsentieren zehn prägnante Episoden aus Elvis’ Leben, die von verschiedenen Künstlern gezeichnet wurden. Kleist selbst steuerte zwei Episoden bei, daneben wurden aber einige der zur Zeit bedeutendsten deutschen Zeichner verpflichtet, wodurch sehr unterschiedliche Stile nebeneinander zu stehen kommen: Søren Mosdal verwendet für Elvis’ frühe Lebensjahre eine leicht expressionistisch verzerrte Ligne Claire, Thomas von Kummant bildet den ersten Kontakt zu Colonel Parker beinahe fotorealistisch ab, bei Tim Dinter verlässt Priscilla den bereits von Medikamenten abhängigen Elvis in an Pop-Art angelehnten Bildern, und Uli Oesterle lässt den King in wackeligen Zeichnungen mit dunklen Schatten seinem Ende entgegen gehen. Interessant ist nicht nur die heterogene Mischung an sich, sondern auch, wie Elvis von jedem Zeichner etwas andere Züge verliehen werden. Isabel Kreitz war dabei am radikalsten, das Gesicht ihres Protagonisten besitzt kaum mehr Ähnlichkeit mit dem echten Elvis. Die Verschiedenheit der Darstellungen betont den künstlichen Charakter der Person Elvis. Im Gegensatz zu Johnny Cash war Elvis immer eine Kunstfigur, die aus diversen, durch die Medien vermittelten Versatzstücken konstruiert wurde. Kleist und Ackermann lassen mit ihrer Biografie ein Bild von Elvis entstehen, das sich wie ein Mosaik aus verschiedenen Einzelbildern zusammensetzt, was ihm wohl letzten Endes gerechter wird, als wenn sie versucht hätten, seine komplette Lebensgeschichte darzustellen. Die meist in düsteren Farben gehaltenen Episoden sind ausserdem nicht nur anspruchsvoll gestaltet, sondern auch äusserst spannend zu lesen. Abgerundet wird der Band durch ein Vorwort von Bela B., einer Kompetenz in Sachen Rock 'n' Roll und Comics, sowie einige Elvis-Porträts von Titus Ackermann, die zwischen den Geschichten eingeschoben wurden. Auch wer kein Elvis-Fan ist, dürfte an diesem facettenreichen Comic Gefallen finden. Vom schweinchenrosa Cover sollte man sich also nicht abschrecken lassen.achsam auf die Arbeitszeit „seiner“ Künstlerinnen und Künstler achtet...?

Jan Westerfeld




Reinhard Kleist / Titus Ackermann (Hg.): "Elvis – Die illustrierte Biografie". Ehapa, 126 Seiten, farbig, Hardcover, Euro 19.- / sFr. 34.-
Spazieren gehen in San Francisco

Da ist zunächst einmal dieser Name: Paul Madonna. Intuitiv verbindet man ihn mit Glamour, Showbusiness und Stars. Ein solcher Name, denkt man, ist wie geschaffen für einen, der Aufmerksamkeit erhaschen möchte. Doch Paul Madonna will nur eines: Comicstrips zeichnen. Und ziemlich unspektakuläre Strips dazu. Anfang 2004 begann Madonna, auf der Webseite SFGate.com und im San Francisco Chronicle seine Strips unter dem Titel "All Over Coffee" zu publizieren. Doch ist bemerkenswert, dass seine Geschichten überhaupt nicht lustig sind – was für viele Zeitungsverleger Grund genug ist, ihm einen Job abzuschlagen. Die Strips bestehen aus einem einzigen Bild in Panoramaformat, in denen keine Menschen vorkommen. Bild und Text haben nichts miteinander zu tun, von einer Geschichte oder einem Plot kann nicht die Rede sein. Was Madonna präsentiert, sind kontemplative Bilder San Franciscos. Silhouetten der Stadt wechseln sich mit Bildern einer Strassenecke und Innenaufnahmen menschenleerer Wohnungen oder Cafés ab. Seine grösste Sorgfalt gilt den Wohnhäusern, Geschäften und Kirchen, die er mit Pinsel und Tusche auf Papier bringt. Madonna ist ohne Zweifel eher Handwerker als Künstler, wenn es um seine Bilder geht. Dies beweist seine technische Bravour, dank der er unzählige Details auf kleinstem Raum festhält und das Bild dennoch übersichtlich gestaltet. Seine künstlerische Seite hingegen zeigt der US-Amerikaner in den Begleittexten zu den Bildern. Es sind Gedanken und frei erfundene Dialoge, die wirken, als hätte er sie während seiner langen Spaziergänge und seiner Zeichnungsarbeit vor Ort aufgeschnappt. Alltägliche Gedanken und Gespräche, die wegen ihrer Kürze, Prägnanz und wegen ihres Inhalts an japanische Haikus erinnern: "Extracting yourself from a conversation with him / is like pulling off / a tight / wet / T-shirt." In den Gedanken und Dialogen der abwesenden Erzählstimmen dringt oft ein Gefühl der Einsamkeit durch, das von den verlassenen Strassenschluchten und Innenräumen und nicht zuletzt vom monotonen Braunstich der Bilder verstärkt wird. Doch die Stimmung wird mittels kleiner Details in Farbe auch durchbrochen, wie zum Beispiel durch die gelben, grünen und roten Kleidungstücke, die an einer Wäscheleine, weit hinten auf der Terrasse eines vergammelten Hauses, zum Trocknen aufgehängt worden sind.

Giovanni Peduto




Paul Madonna: "All Over Coffee". City Lights Books, 173 Seiten, Hardcover, Euro 20.- / sFr. 44.90
Held des Surrealismus

Es ist zehn Jahre her, dass dieser adrett aber unscheinbar gekleidete Mann mit alterslosem Wasserkopf seinen ersten Auftritt im STRAPAZIN Nr. 48 hatte: Bardín, der Superrealist. Begleitet von einem andalusischen Hund irrte er durch einen desolaten Landstrich, in dessen Sand Schiffe, von phallischen Leuchttürmen irregeleitet, versanken. Mit Bardín schuf der Katalane Max einen Mann ohne Eigenschaften, der durch bizarre Landschaften streift und sich den grossen und kleinen Fragen des irdischen Daseins stellt, ohne je eine befriedigende Antwort zu finden. Existenziell ist das, hochphilosophisch und metaphysisch, aber auch von trister Alltäglichkeit. Und natürlich ist die zentrale Gottheit der superrealistischen Kosmogonie eine Mickey Mouse mit drei Augen, gegen deren Macht sich Bardín vergeblich zu wehren versucht. Diese metaphysischen Abenteuer im surrealistischen Niemandsland schärft Max mit Humor und Ironie – die grossen Fragen lassen sich nur mit einem Lächeln verstehen und beantworten. Dabei muss man immer gefasst sein auf widersprüchliche oder gar widersinnige Antworten. Auch grafisch ist "Bardin der Superrealist" ein Juwel. Max setzt Bardíns skurrile Nicht-Abenteuer virtuos in wunderbare Bilder um. Ausserdem nimmt er seine Figur zum Anlass, sich nach einer über dreissigjährigen Karriere als erfolgreicher Comiczeichner und Illustrator vor seinen Quellen, Einflüssen und Vorbildern zu verneigen. Er zitiert nicht nur Surrealisten wie Buñuel, Dalí oder Max Ernst, sondern auch Heinrich Füsslis berühmtes Bild "Der Nachtmahr", den Totentanz der Luzerner Spreuerbrücke, die spanischen Comics der Fünfziger und Sechziger Jahre und flämische Maler wie Breughel und Bosch. Und nicht zuletzt bezieht er sich auch auf Hergés klare Linie, Chris Wares Erzähltechniken und Charlie Browns Neurosen. Dennoch schafft Max aus diesem beziehungsreichen Spiel mit Anspielungen und Zitaten einen sehr eigenständigen Kosmos, in welchem Bardín, der traurige Superheld des Surrealismus, auszieht, um seine Alb-, Wunsch- und anderen Träume zu zähmen.

Christian Gasser




Max: "Bardín der Superrealist". Reprodukt, 88 Seiten, farbig, Klappenbroschur, Euro 18.- / sFr. 32.40
Reisen mit Thor

Road" für Angehörige der Generation X. Aber die Unterschiede zu Kerouacs Buch sind augenfällig. Moriarty und Paradise verbrachten damals ein ganzes Jahr unterwegs, Thor aus "Red Eye" gerade einmal zwei Monate, denn wer hat heutzutage schon Zeit für sowas? "On the Road" erzählte, wie die beiden Protagonisten auf der Suche nach dem Sinn des Lebens in der Nachkriegsgesellschaft mit Drogen, Sex, Jazz und Poesie experimentieren. Jensens Suche hingegen ist eine viel weniger ambitionierte, oberflächlichere; eine, die möglichst vermeidet zu ergründen, was ein Leben in den USA nach 9/11 bedeuten könnte. In der Mitte des Buches führt der – offensichtlich autobiografische – Protagonist den folgenden Dialog mit einem anderen Buspassagier: Fremder Nr. 1: Wo zum Teufel fährst du denn hin? Thor: Zurück, woher ich kam.
Fremder Nr. 2: Scheisse, warum bist du nicht gleich dort geblieben? Thor: Tja, darauf weiss ich keine Antwort. Die Antwort besteht schliesslich aus einer Reihe vignettenartiger Geschichten, die sich an verschiedenen Orten der Reise von New York nach New York zutragen, in Boston, Cleveland, Minneapolis, Seattle, Las Vegas und Atlanta. Jensen ist ein junger Zeichner, der eben erst seinen Stil gefunden hat. An Comicmessen der unabhängigen Comic-Szene fiel er in den letzten Jahren durch seinen scharfen Witz, seine ständige Jagd nach Mini-Comics und manchmal durch sein übermütiges Benehmen auf. Was an "Red Eye, Black Eye" auffällt, sind weniger die Zeichnungen im Cute-Brut-Stil, den viele der jungen amerikanischen Zeichner pflegen, sondern vielmehr seine Art des Erzählens, wie er die Geschichte vorantreibt, auch wenn nicht viel passiert. Leider aber gewährt uns Jensen kaum einen Einblick in die Gedankenwelt seines einsamen Reisenden, was umso bedauernswerter ist, als seine Hauptfigur nicht wirklich liebenswert erscheint: Thor ist vor allem mit sich selber beschäftigt, unreif, kurz: ein Clown, der oft als einziger über seine Witze lacht. Was einem von "Red Eye" am ehesten in Erinnerung bleibt, sind die Geschichten der Leute, die Thor unterwegs trifft. Das Album lebt von den Dialogen. Jensen hat ein sehr gutes Gespür für Stimmen, Timing und den Rhythmus anekdotischer Geschichten. Es sind Geschichten über Sex, Drogen, unheimliche Bettgenossen und Arbeitskollegen, von Leuten eben, wie man sie im Laufe eines Lebens da und dort trifft und deren abstruse Erzählungen man nie mehr vergisst. Einmal gelangt Thor nach Kansas City und lernt dort die unglückliche Buchhändlerin Sally kennen, die sich lyrisch darüber auslässt, wie unser Sein unser Bewusstsein ebenso prägt, wie der Ort, an dem wir leben. Thor, der gerade einen Bissen Grillfleisch kaut, kommentiert Sallys Ergüsse bloss mit einem Nicken. Diese Szene, übrigens eine der besten im Album, illustriert sehr schön, was möglich gewesen wäre, hätte sich der Erzähler etwas mehr den Weisheiten der Leute geöffnet, die er traf. Obwohl das Buch als Ganzes unfertig wirkt, sind es Szenen wie diese, die es doch lesenswert machen. Wenn das vorliegende Album Jensens "Odyssee" sein soll, so überzeugt er darin zwar mit den Schilderungen der Zwischenhalte, nicht aber mit dem Zweck der Reise. Trotzdem ist "Red Eye, Black Eye" ein solider Versuch und gibt uns vielleicht eine Ahnung, was wir vom Autor noch erwarten dürfen. Dass Jensen selber von seinem Werk nicht allzu überzeugt ist, ahnt man, als er seinen Protagonisten einmal sagen lässt: "In all the books, you travel and you have these grand epiphanies about your life and your place in the world... but none seem to be forthcoming."

Mark Nevins (Übersetzung: Christoph Schuler)




K. Thor Jensen: "Red Eye, Black Eye". Alternative Comics, 304 Seiten, s/w, $ 19.95
Liebe und Geister

Ein bisschen Prahlerei, räumt Ibn Al Rabin im Begleitschreiben zu "L'autre fin du monde" ein, gehöre schon dazu, wenn man einen über 1000 Seiten langen Comic in Angriff nehme. Das lässt sich nicht bestreiten. Ein bisschen Angeberei, ein Quäntchen Grössenwahn, eine Dosis Besessenheit - und vor allem eine ungeheuerliche Fabulierlust, um nicht nur selber 1120 Seiten lang durchzuhalten, sondern auch den Leser bei Laune zu halten. "L'autre fin du monde" ist ein bizarres Epos. Ein schwerer, schwarzweisser, zeichnerisch ebenso minimalistischer wie erzählerisch ausschweifender Schwarten, in welchem die lebenden Figuren schwarz ausgemalt sind wie die Schatten im chinesischen Schattentheater und die Toten als fragile Umrisse durch die Atmosphäre schweben. Womit auch schon ein wesentlicher Hinweis auf den Inhalt gegeben ist: Ibn Al Rabin, der 1975 als Mathieu Baillif geborene Genfer Comicautor, taucht einmal mehr ein in seine Lieblingsthemen "das Leben nach dem Tod", "Wiedergänger" und "Geister". Die Geschichte beginnt mit einem Mann, dessen tote Liebste ihn immer wieder besucht, ohne aber mit ihm zu reden. Er sucht einen Arzt auf, dann einen Psychiater, alles vergeblich. Sogar ein falsches Medium bietet ihm seine Dienste an. Da entpuppen sich die Erscheinungen plötzlich als ansteckend. Während die tote Liebste mit einem vor langer Zeit abgestürzten Piloten die Umgebung erkundet, tauchen immer mehr Gespenster in der Stadt auf und versetzen die Bevölkerung in Panik. Ibn Al Rabin lässt sich Zeit und Raum – 1120 Seiten lassen sich nicht einfach in einer halben Stunde wegputzen! -, um die verschiedenen Plots und Nebenschauplätze zu verknüpfen, zu verwirren und wieder zu entknäueln. Er entpuppt sich dabei als derart formidabler Erzähler, dass man seiner ungewöhnlichen, gleichermassen komischen wie berührenden Geschichte mit grösstem Vergnügen bis zur allerletzten Seite folgt. Chapeau!

Christian Gasser




Ibn Al Rabin: "L'autre fin du monde". Atrabile, 1120 Seiten, s/w, Euro 42.- / sFr. 62.-
Blexbolex' Private Eyes

Für die Nummer 21 der Ignatz-Reihe wurde mit Zak Sally einer der zur Zeit wohl interessantesten Independent-Künstler verpflichtet. 2006 für zwei Eisner-Awards nominiert, ist er mit La Mano 21 auch verlegerisch tätig. Mit dem ersten Teil von "Sammy the Mouse" beginnt Sally eine Reihe, die acht bis zehn Bände einnehmen wird und mit der er sich die nächsten fünf Jahre beschäftigen will, wie er auf der Webseite von La Mano verlauten lässt. Die Welt von "Sammy the Mouse" ist bevölkert von anthropomorphen Tiergestalten. Am Anfang der Geschichte sitzt Sammy alleine zu Hause, dann brechen nach und nach andere Figuren in die Handlung ein. Sammys bester Freund ist Puppy Boy, ein Hund, der unter epileptischen Anfällen leidet. Ein weiterer vertrauter, aber eher ungeliebter, Bekannter ist eine heruntergekommene, cholerische und egozentrische Ente in Frack und Zylinder namens H. G. Feekes, die ständig besoffen, pleite und auf der Suche nach alkoholischem Nachschub ist. Zusammen ziehen die drei durch eine surreal wirkende Stadt, um sich schliesslich in einer Bar in Form eines gigantischen Babys zu betrinken. Der Band endet damit, dass Sammy und Puppy Boy eine wahnwitzig lange Treppe erklimmen, was zu einem seltsamen, fantastischen und offenen Schluss führt. Abgesehen von der absurden Handlung wirkt die Geschichte wie eine böse Parodie auf einen Funny-Animals-Comic. Die Hauptfiguren sind Zerrbilder von Disney- und anderen klassischen Comic-Charakteren, die skurrile Umgebung wirkt wie ein düsteres Gegenstück zu Entenhausen. Faszinierend ist dabei vor allem Sallys Zwei-Farben-Technik, die die Bilder dennoch bunt wirken lässt. Die Hintergründe sind meist weich schraffiert und bilden ein Gegengewicht zu den Figuren, die sich mit ihren dicken Outlines stark absetzen. Oft setzt Sally auch filmische Gestaltungsmittel ein wie Perspektivenwechsel, Zwischenschnitte oder Zeitlupe, was seinen Bildern viel Lebendigkeit und Unmittelbarkeit verleiht. Sicherlich bekommt man mit diesem Band nur eine ungefähre Ahnung von der gesamten Geschichte. Der Schluss etwa führt komplett vom vorhergehenden Szenario weg und könnte der Auftakt zu allem Möglichen sein. Aber schon in diesen ersten 32 Seiten stecken so viel Humor und Ideenreichtum, dass man ständig zwischen Lachen und Staunen hin-und-herwechselt. Die geniale zeichnerische Umsetzung ist gleichermassen kunstvoll wie faszinierend. Man darf also gespannt sein, ob Sally in den nächsten Bänden halten kann, was dieser grandiose Auftakt verspricht.

Jan Westerfeld




Zak Sally: "Sammy the Mouse #1". Fantagraphics Books/Coconino Press, 32 Seiten, zweifarbig, Softcover, $ 7.95
Im Dienste der Wirklichkeit

Was führt einen libanesischen Textilienhändler aus New York in eine unbedeutende Modeboutique in Paris? Weshalb fährt er einen schwarzen Mercedes mit deutschem Nummernschild? Warum ist sein Koffer mit einer stattlichen Summe Euro gefüllt? Für Pierre Dragon ist der Fall klar: Der Libanese unterstützt mit den Erträgen aus dem Kleiderschmuggel und den krummen Autogeschäften verschiedene Terrorzirkel im Libanon und Terrorausbildungslager in Syrien. Dragon ist Ermittler im Nachrichtendienst der französischen Polizei. Mit Unterstützung der amerikanischen Bundespolizei FBI kommen die Ermittlungen seiner Einheit rasch voran. Doch dann, kurz vor dem grossen Coup, ist plötzlich alles vorbei. Der Fall erhält eine politische Note; die Terrorbekämpfung des Innenministeriums schaltet sich ein und entzieht Dragons Einheit den Fall. Und zu allem Übel weiss auch Dragons Vorgesetzter nichts Gescheiteres zu sagen als: "Vergiss nicht, wir arbeiten nicht für die Bürger, wir arbeiten für die Politik...". Dragon ist frustriert. "Das wahre Leben eines Polizisten kann keine gute Geschichte ergeben", sinniert er, "eine gute Geschichte müsste ein gutes Ende haben." Zum Glück war der französische Comicautor Joann Sfar damit nicht einverstanden, als er in Paris den echten "Pierre Dragon" traf. Er führte den Pariser Polizisten mit dem Genfer Zeichner und Autor der preisgekrönten Comic-Autobiografie "Blaue Pillen", Frederik Peeters, zusammen. Herausgekommen ist dabei "RG. Riyad-sur-Seine", der erste Band einer Reihe, die den Lesern einen Einblick in die tägliche Arbeit der Polizei vermitteln will. Die ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen dem bulligen Polizisten und dem schelmischen Comiczeichner erweist sich als fruchtbar, weil beide den Berufsalltag der Nach- richtendienste möglichst ungeschminkt darstellen wollen. Das gelingt – auch dank dem künstlerischen Vermögen Peeters, der die journalistische Reportage geschickt mit Elementen des Thrillers durchsetzt und an passender Stelle auch metaphorische Panels einstreut. Zum Beispiel schmilzt Pierre Dragon zu einem kleinen Kind, als er erstmals auf die FBI-Agenten trifft. Raffiniert untermalt Peeters die jeweilige Stimmung mit wechselnden Farben. Meist überwiegen sanftes gelb, grün oder beige, unterbrochen von Passagen in mattem rot und schummrigem blau. Es mag spannendere Agenten-Thriller geben als "RG. Riyad-sur-Seine", doch die Rechnung geht auf, denn man kauft den beiden Autoren ab, dass eine verdeckte Ermittlung wirklich so abläuft, wie sie sie da schildern. Und ganz nebenbei lernt man auch das eine oder andere für sich, etwa Dragons Devise: "Man darf nie zuviel ausplaudern und muss selbst das Maximum aus den Aussagen anderer herausziehen."

Florian Meyer




Pierre Dragon / Frederik Peeters: "RG 1. Riyad-sur-Seine". Gallimard, 108 Seiten, Hardcover, farbig, Euro 15.- / sFr. 29.80 (Der zweite Band "RG 2. Bangkok-Belleville" ist in Vorbereitung.)
Zu den Wurzeln des Friedens

Heather Roberson, Studentin der kalifornischen Universität Berkeley, hat ein Ziel: Sie will beweisen, dass der Frieden keine Utopie ist, sondern mit den Mitteln des Rechtsstaats und der Demokratie überall auf der Welt erhalten werden kann. Nichts empört sie mehr, als wenn ein Professor doziert, der Krieg liege in der Natur des Menschen und sei somit unvermeidlich. Als Ruanda und Bosnien als Beispiele dafür genannt werden, dass internationale Friedensmissionen immer wirkungslos blieben, hält sie nichts mehr zurück. Heather reist nach Mazedonien, um dort den Nachweis zu erbringen, dass Krieg nicht zwingend notwendig ist. In Mazedonien schwelen zwar Konflikte zwischen der slawischen und der albanischen Bevölkerung, und die aussenpolitischen Beziehungen zu Serbien, Bulgarien und Griechenland sind nicht frei von Spannungen. Trotzdem ist – anders als in Kroatien und Bosnien – kein Krieg ausgebrochen. Anlass dazu hätte es gegeben: Staatsapparat und Gerichte waren Mitte der Neunziger Jahre korrupt und die damals ethnisch einseitig zusammengesetzte Polizei machte sich ungeahndet vieler Übergriffe schuldig. Anhand von Interviews mit Rechtsvertretern, Polizeikräften, OSZE-Mitarbeitenden, Künstlern und Universitätsleitern erfährt Heather, wie der mazedonische Staat und die internationalen Organisationen das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat, die Einhaltung demokratischer Verfahren und die Respektierung der Menschenrechte Schritt um Schritt wieder herstellen. Dass es noch viel braucht, bis in Mazedonien die Konflikte vor Gericht statt mit Waffengewalt ausgetragen werden, ist Heather klar – oder wie ihr ein Polizist sagt: "Die mazedonische Mentalität sieht in der Polizei eine Kraft des Staates, nicht eine Dienstleistung für die Bevölkerung." Heather Roberson existiert. Harvey Pekar, spätestens seit dem American-Splendor-Film auch in Europa als Pionier des amerikanischen Alltagscomics bekannt, traf die Friedensforscherin vor ihrer Abreise und überzeugte sie, dass eine Mazedonien-Reportage ein idealer Stoff für einen Comic ist. Als auch der Zeichner Ed Piskor zusagte, war der Weg frei für den Polit-Comic "Macedonia. What does it take to stop a war?" Dass dieser stark an Joe Saccos Bosnien-Reportage "Safe Area Gorazde" erinnert, liegt auf der Hand. Harvey Pekar selbst erklärt in einer kurzen Sequenz, dass er Saccos Comic über die vom Bürgerkrieg versehrten Balkan-Regionen mit einem Buch über Mazedonien ergänzen wollte, das aufzeigt, "dass der Frieden auch auf dem Balkan möglich ist." Auch wenn "Macedonia" insgesamt weniger lebensnah als Saccos "Safe Area Gorazde" erscheint und die schlüssige Antwort auf die Frage, was es braucht, um einen Krieg zu verhindern, ausbleibt, lohnt sich die Lektüre allemal – allein wegen des Kerngedankens, dass der Frieden nicht eine vorübergehende Abwesenheit von Krieg ist, sondern eine elegante Form der menschlichen Konfliktbewältigung.

Florian Meyer




Harvey Pekar, Heather Roberson, Ed Piskor: "Macedonia. What does it take to stop a war?". Villard, 161 Seiten, Softcover, s/w, $ 17.95.

www.macedoniathebook.com
Faszinierende Bildsprache

Wenn es in den letzten Jahren einen klaren Trend in der Comic-Welt gab, so sicherlich jenen hin zum autobiografischen Comic. Stilbildend für dieses Genre ist David B.'s mehrfach preisgekrönter Comic "L'Ascension du Haut Mal". Spuren dieses Werkes finden sich in Marjane Satrapis "Persepolis" ebenso wie in Jeff Thompsons "Blanquets". Nun ist der zweite Teil der längst überfälligen deutschen Übersetzung von David B.'s Meisterwerk erschienen. Im Zentrum von "Die Heilige Krankheit – Schatten" steht wie im ersten Band die Familie Beauchard, deren Existenz von der Epilepsie des Bruders von David B. zunehmend bestimmt wird. Die Odyssee der Familie geht auch auf diesen neuen zweihundert Seiten weiter. Spagyrische Alchemie, Homöopathie, Anthroposophie, Religion und Psychologie – nichts vermag der Epilepsie Jean-Christophes ein Ende zu setzen. Ganz im Gegenteil: Der Gipfel des "Haut Mal" scheint auch nach jeder Verschlimmerung der Krankheit immer noch nicht erreicht zu sein. Wiederum zeichnet David B. mit Akribie und in üppigen Bildern die Versuche, Jean-Christophe von der Epilepsie zu heilen. "Die heilige Krankheit" lässt sich so durchaus als Anthologie dessen lesen, was heute gemeinhin New Age genannt wird. Wichtiger aber ist die Beschreibung der Erlebniswelt Pierre-François', der sich später in einem Akt der Befreiung David zu nennen beginnt. Frei von Schuldzuweisungen, aber schonungslos erzählt er von Ängsten um die eigene Gesundheit genauso wie von Mordfantasien und Gemeinheiten, mit denen er auf die zunehmende Aggressivität seines Bruders reagiert. Zwar beschützen ihn Fabelwesen und Kämpfer aus seiner kriegerischen Fantasiewelt, doch auch diese können die Kollisionen mit dem richtigen Leben nicht verhindern. Erst als er auf Leute trifft, für die seine Zeichnungen nicht einfach martialische Ergüsse eines verwirrten Geistes sind, fühlt sich David B. ernst genommen. Ganz so, als hätte er über die lange Zeit hinweg mit dem Zeichnen eine Sprache gesucht, in der sein Inneres mit der Aussenwelt kommunizieren kann, findet eine Art der Aussöhnung mit der Welt statt. Mit keinem anderen Medium hätte David B. die symbiotische Beziehung seines Leben und seiner Bilder besser beschreiben können. Denn letztendlich ist es die herausragende Bildsprache, die seine Fantasien und Gefühle ebenso gut zu vermitteln vermag wie eine wissenschafliche Theorie und die wiederum die Faszination dieses zweiten Bandes ausmacht.

Tim Kongo




David B.: "Die heilige Krankheit – Schatten". Edition Moderne, 208 Seiten, s/w, Hardcover, Euro 22.- / sFr. 39.80
Autoren-Manga

Dass der Manga mehr zu bieten hat als Endlosserien für Teenager, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Wie weit das Feld noch ist, das sich dem Liebhaber von Entdeckungen aus Japan auftut, zeigen zwei Neuerscheinungen, die stilistisch wie thematisch kaum unterschiedlicher sein könnten. Nachdem bereits einige Bände von Jiro Taniguchi ("Die Stadt und das Mädchen") im deutschsprachigen Raum erschienen sind, ist Taniguchi hierzulande wohl einer der bekanntesten Vertreter des Autoren-Manga. Seine Arbeiten kennzeichnen ihn als reflektierenden Poeten der Stille. Anhand lapidarer Alltagsbeobachtungen entdeckt beispielsweise der Protagonist von "The Walking Man" (leider erst auf Englisch erschienen) sein neugierig-kindliches Inneres. In "Vertraute Fremde", das jetzt auf Deutsch erscheint, versetzt ein Zeitsprung den Protagonisten nun tatsächlich in seine Kindheit zurück. Ein Menschheitstraum, der Taniguchis Held allerlei Reflexionen über das Erwachsenwerden, Kindheitsträume und deren Verlust erlaubt. In die detaillierten Bildhintergründe der 400 Seiten starken Zeitreise kann man regelrecht versinken, während unser Held seine zweite Chance weise zu nutzen versteht. Einen ganz anderen Ton schlägt Hideo Azuma an. Das autobiografische Werk "Der Ausreisser" erzählt im Funny-Stil von periodisch wiederkehrenden Abstürzen, während denen er die Arbeit als Mangaka liegen lässt und als obdachloser Alkoholiker durch die Stadt streunt. Mit viel Selbstironie und Offenheit berichtet Azuma von seinen Fluchten aus der Gesellschaft, seinen Exzessen und oft demütigenden Begegnungen. Wir sehen ihn im Müll wühlen, das Nachtlager organisieren oder aus Abfällen fragwürdige Mahlzeiten zubereiten. Azuma kommentiert dabei lakonisch aus dem Off. Auf allzu viel Realismus in seinen kleinen Panels mit groben Zeichnungen verzichtet er, denn "zuviel Realismus", so Azuma, "hält der Mensch nicht aus."

Christian Meyer




Jiro Taniguchi: "Vertraute Fremde". Carlsen, 416 Seiten, s/w, Euro 19.90 / sFr. 34.70 Hideo Azuma: "Der Ausreißer". Shodoku, 192 Seiten, s/w, Euro 14.95 / sFr. 26.90