Magazin

Buchtitel gezeichnet von Alex Baladi

Trinkfeste Fans

Die beiden erklärten Gulbransson-Fans Lars Fiske und Steffen Kverneland machen sich in ihrer Hommage «Olaf G.» auf, dem grossen Idol nach-
zuspüren, das 1902 nach München ging, um fortan für das populäre Satiremagazin Simplicissimus zu zeichnen. Also reisen auch Fiske und Kverneland nach München, besuchen das Olaf-Gulbransson-Museum
am Tegernsee, treffen die Enkelin im Schererhof, dem Refugium und Alterssitz des Idols, und besuchen dessen Lieblingsgasthäuser. Vor allem diese Gasthaus-Besuche machen die Biografie der beiden trinkfesten Norweger zu einer wilden Odyssee. Chaotische Fress- und Sauforgien wechseln sich ab mit hysterischen Lobreden über das Genie Gulbransson. Da die beiden sich selber in keinem Moment ernst nehmen, lässt sich das
ziemlich gut hinnehmen.
Die Hysterie und das Chaos zeigen sich nicht nur in der launischen und sprunghaften Erzählung, sondern auch in der Grafik. Die Panels werden mal von Fiskes verzerrtem, flächig koloriertem Hyperkubismus, mal von Kvernelands aquarellierten Karikaturen gefüllt. Doch damit nicht genug: Fiske und Kverneland haben beide ihren eigenen Stil, wie sie historische Ereignisse aus Gulbranssons Leben in Schwarzweiss-zeichnungen wiedergeben. Zudem wird die Stilcollage um einige Fotos von ihrer Forschungsreise ergänzt. Und neben einigen anderen Dokumenten sind auch zahlreiche in die Erzählungen integrierte Originalzeichnungen von Gulbransson zu sehen.
«Olaf G.» ist eine überzeichnete Hommage an ein urtümliches Künstler-original, das in freier Natur und meist nur mit einer leichten Schürze bekleidet einem exzentrischen Leben frönte. Sie geht aber glücklicher-weise nicht so weit, dass sie Gulbranssons unangenehmen Opportunismus während des Nationalsozialismus ausblendet. Und trotz ihrer Liebe zu
Bier und Schweinshaxen können Fiske und Kverneland ihr Befremden über die bayerische Kultur nicht verbergen.

Christian Meyer



Lars Fiske & Steffen Kverneland «Olaf G.». avant-verlag, 184 Seiten, Hardcover, farbig, Euro 24.95 / sFr. 44.90
Schnell und gepflegt

François Ayroles, der sich seit den frühen Neunziger Jahren im Dunstkreis von L‘Association bewegt, gewisse seiner Bücher aber auch bei Gross-verlagen wie Casterman unterbringt, versammelt in «Travail rapide et soigné» rund dreissig Kurzgeschichten, die zwischen 1994 und heute in Lapin, dem Magazin der Association, erschienen sind.
Sie sind brillant, diese Kurzgeschichten, und ihre eigentlichen Qualitäten lassen sich kaum im Rahmen einer knappen Rezension wiedergeben,
da Ayroles einen ganz eigenen Humor entwickelt hat. Seine generöse Abstrusität gemahnt bisweilen an den grossen Roland Topor, die trockene Lakonie an den nicht minder grossen Buster Keaton (dem Ayroles einst
ein Buch gewidmet hat), der verwirrende und doch entlarvende Nonsense an die gigantischen Goossens und Masse. Ob er von einem Dorf erzählt,
in welchem alle Männer Jean und alle Frauen Jeanne heissen, von einem Supermarkt-Aufseher, der vom Wilden Westen träumt, von einem geköpften Mordopfer auf der Suche nach seinem Kopf oder ob er die Karriere
der populären humoristischen Gesangstruppe Les Frères Jacques nach-zuerzählen vorgibt: seine kurzen Moritaten über die alltägliche Menschen-feindlichkeit sind immer verschroben, absurd, unsinnig, melancholisch
und hochkomisch. Und nicht selten durchsetzt Ayroles, der durchtriebenste aller Oubapiens (siehe STRAPAZIN Nr. 83) seine hintersinnigen und
- fotzigen Abschweifungen mit experimentellen Falltüren.
Auf den ersten Blick wirken viele dieser Kurzgeschichten unscheinbar
– bei genauerer Lektüre entpuppen sie sich als brillant.

Christian Gasser



François Ayroles «Travail rapide et soigné». L‘Association, 88 Seiten, zweifarbig, Softcover,
Euro 16.– / ca. sFr. 28.–

Böse Nazis, steife Schniepel

Wie ich von einem Priester missbraucht wurde, wie ich vor den Nazis aufs Land flüchtete, wie ich als Tochter eines Schwulen lesbisch wurde: Betroffenheit und Kitsch haben den Comic erreicht. Die Verlage reissen sich um bekenntnishafte Dramen, das Feuilleton feiert sie ab; Hauptsache, Comics sind «zeitgeschichtlich relevant». Doch die Frage nach der Qualität wird ausgeklammert.
«Warum ich Pater Pierre getötet habe» ist das beste Beispiel für diese Auswüchse im Bereich der Non-Fiction-Comics. Olivier, Sohn einer aufgeschlossenen, antiklerikalen Familie, schliesst Freundschaft mit dem jungen, aufgeschlossenen Priester Pierre – und dieser missbraucht sein Vertrauen während eines christlichen Sommerlagers. Kein Zweifel: Der sexuelle Missbrauch in der Kirche ist ein grosses Thema. Niemand wird bestreiten, dass es traumatisierend ist, den steifen Schniepel eines dicken, vollbärtigen Priesters anfassen zu müssen. Und diese Erfahrungen liessen sich gewiss zu einer wichtigen Geschichte verarbeiten.
Doch Olivier Ka, der betroffene Autor, vergibt diese Chance: kein Tiefgang, kaum Reflexion, keine echte Auseinandersetzung, kein Kontext. Ka stolpert erschreckend unbeteiligt durch seine Vergangenheit (die der Zeichner Alfred unübersehbar in Anlehnung an David B. illustrierte). Seine wieder-holten, eklig larmoyanten Beteuerungen, wie schlimm das alles gewesen sei, verstärken nicht nur den Eindruck erzählerischer Hilflosigkeit, sondern nähren gar den Verdacht, da missbrauche jemand den Missbrauch, um sich zu profilieren.
Dabei begann alles so vielversprechend. Im Sog von Art Spiegelmans «Maus» entdeckte der Comic sein Potenzial, auch ernsthafte, persönliche und zeitgeschichtliche Stoffe umzusetzen. Joe Saccos Reportagen, David B.‘s «Die heilige Krankheit», Marjane Satrapis «Persepolis» oder Craig Thompsons «Blankets» weckten dank ihrer inhaltlichen Relevanz und künstlerischen Qualitäten nicht nur das Interesse des Feuilletons, sondern erschlossen dem Comic auch eine neue Leserschaft. Ihr kommerzieller Erfolg zog aber auch Trittbrettfahrer an. Nun hämmern die Verlage einen Non-Fiction-Comic nach dem anderen heraus; worunter die Qualität leidet und mittelfristig auch der Respekt, den sich die Comics in den letzten Jahren erarbeitet haben. Denn ein gutes Thema allein macht noch keinen David B. oder Art Spiegelman.

Das gilt leider auch für Miriam Katin. In «Allein unter allen» schildert sie, wie sie als kleines jüdisches Mädchen mit ihrer Mutter vor den Nazis aus Budapest aufs Land flüchtet. Sie werden von guten Landleuten aufgenommen und von schlechten ausgenutzt und vertrieben. Sie hungern und frieren, die Mutter wird von einem Nazi-Offizier geschwängert – und nach dem Krieg treffen sie den Vater wieder und wandern gemeinsam in die USA aus. That‘s it.
Von einer Autorin, die sechzig Jahre später mit der Reife und der Erfahrung eines ganzen Lebens auf diese Ereignisse zurückschaut, darf erwartet werden, dass sie ihr persönliches Schicksal zu einer Geschichte von eini-germassen universaler Bedeutung zu verarbeiten vermag und nicht in
der anekdotischen Schilderung eines ungarischen Winters stecken bleibt. «Allein unter allen» mag eine berührende Geschichte geworden sein,
mehr aber auch nicht. Und dies entspricht zweifellos nicht den berechtigten Ansprüchen an diesen Stoff.

Im Gegensatz zu Katin erzählt Alison Bechdel in «Fun Home» eine ver-hältnismässig bescheidene Geschichte: Sie setzt sich mit ihrem Vater und ihrem Coming-Out auseinander. Der Vater war schwul, ohne es je zuzugeben, ausserdem frustriert und verklemmt und deshalb ein Tyrann. Einmal stand er gar wegen Verdachts auf Verführung von Minderjährigen vor Gericht. Kurz nach Alisons Coming-Out wurde er dann von einem Lastwagen überfahren (War es ein Unfall? Selbstmord?). Diesen privaten Stoff umkreist Alison Bechdel, Autorin des hierzulande unterschätzten Lesben-Strips «Dykes To Watch Out For», hartnäckig und mit dem ernst-haften Bemühen, den Vater nachträglich zu verstehen. Sie findet zwar keine abschliessenden
Antworten, schafft aber eine vielschichtige Reflexion über Homosexualität, verlogene Familienidyllen, provinzielle Enge, Literatur als Realitätsersatz und abgewürgte Träume; was weit über das persönliche Drama hinausführt und deshalb auch für Aussenstehende interessant wird.
«Fun Home» ist ein sehr literarischer Comic – zu literarisch vielleicht. Der intellektuell dichte Text reduziert die (zeichnerisch nicht besonders attrak-tiven) Bilder zu Illustrationen, die man nicht selten leicht übersieht. In diesem Sinne hatte das Time Magazin vielleicht nicht ganz Unrecht, «Fun Home» zum besten Buch des Jahres 2006 zu küren – der beste Comic
war «Fun Home» ganz gewiss nicht.

Christian Gasser



Olivier Ka (Text), Alfred (Zeichnungen) «Warum ich Pater Pierre getötet habe». Carlsen, 112 Seiten, Hardcover, farbig,
Euro 16.– / sFr. 28.–


Miriam Katin «Allein unter allen». Carlsen, 136 Seiten, Hardcover, schwarzweiss/farbig, Euro 19.90 / ca. sFr. 35.90


Alison Bechdel «Fun Home».
Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten, Hardcover, schwarzweiss,
Euro 19.95 / ca. sFr. 34.90

Komplexer Trickser

Alex Robinson, der sich mit seinem grossen Werk «Box Office Poison»
viele Freunde gemacht hat und verschiedene Preise erhielt, legt mit «Ausgetrickst» ein nicht minder faszinierendes Werk vor. Dass er bei Will Eisner, dem «Erfinder» der Graphic Novel, studiert hat, merkt man
seinen Geschichten an. Sie sind nicht nur ausladend wie Romane – «Box Office Poison» war über 600 Seiten dick, «Ausgetrickst» kommt immerhin noch auf 350 Seiten –, sondern auch perfekt komponiert.
«Ausgetrickst» erzählt die Geschichte von sechs Menschen, deren Wege sich am Ende kreuzen: der gefeierte Popstar in einer Schaffenskrise, die von einer Beziehungskatastrophe zur nächsten stolpernde Kellnerin, der sich in einer Lebenslüge verstrickende Familienvater, der misanthropische Nerd und schliesslich ein Teenager auf der Suche nach dem Vater. Schnell wird klar, dass das alles auf ein grosses Finale zusteuert. Und eine Weile fühlt man sich dem Autor etwas überlegen, weil man das Ende zu erahnen glaubt – was aber höchstens zur Hälfte stimmt, denn Robinson hat am Schluss noch einige unerwartete Trümpfe im Ärmel.
Was seine Geschichte nebst aller erzählerischen Raffinesse herausragend macht – und da kommt Will Eisner wieder ins Spiel –, ist seine Fähigkeit,
die Figuren lebendig zu machen. Er fängt ihre Charaktere in wenigen Bildern und knappen Handlungsmomenten derart komplex ein, dass sie einem sofort vertraut erscheinen. Darüber hinaus gesteht er seinen
Figuren eine Charakterentwicklung zu, die sich auch uneingeschränkt nachvollziehen lässt. Robinson erschafft keine Helden oder stereotype Loser, sondern alltägliche Menschen im ständigen Wandel der Gefühle.
Robinsons Stil ist ebenso von Eisner wie von den Hernandez Bros. («Love & Rockets») beeinflusst. Er hat nicht nur deren Kunst der Alltagsbeobach-tung geerbt, sondern auch den schnellen Zeichenstil. Seine von starken Kontrasten geprägten Schwarzweisszeichnungen sind einzeln betrachtet sicher keine Meisterwerke des Details; das müssen sie aber auch nicht.
Sie stehen im Dienste einer schnell erzählten, spannenden Geschichte über die Widerstände, aber auch Chancen und Hoffnungen des Lebens. Bei Robinson verschmelzen Bild, Text und Handlungsebene zu einem grossen Ganzen. Und genau so sollten Comics doch sein!

Christian Meyer




Alex Robinson «Ausgetrickst».
Edition 52, 360 Seiten, Softcover, s/w,
Euro 22.– / sFr. 39.90
Paradiesische Propaganda

Guy Delisle hat mit «Louis fährt Ski» vor nicht allzu langer Zeit einen überaus hübschen Comic gemacht. Für «Pjöngjang» trifft diese Umschrei-bung nicht zu. In meist düsteren Grautönen beschreibt Delisle eine Stadt,
in der nachts keine Strassenlampe brennt und in der tagsüber meist eine freudlose Atmosphäre herrscht.
Im Vorgänger «Shenzen» schilderte Delisle seinen Aufenthalt in der gleich-namigen chinesischen Freihandelszone und beschrieb dabei ausführlich den Zusammenprall des asiatischen Kommunismus mit dem Kapitalismus westlicher Prägung. Nun reiste der 42-jährige Frankokanadier für ein französisches Trickfilmstudio in die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang, um dort eine Produktion zu überwachen. Während der zwei Monate des Aufenthalts erlebte er die Schattenseiten des selbsternannten «Paradies auf Erden»: Propaganda, Korruption, Manipulation und Ausbeutung.
Delisle erzählt nüchtern und in einfachen Bildern. Frei von Häme und gleichzeitig überwältigt von der schieren Masse an täglichem Wahnsinn liefert er damit tiefe und überraschende Einblicke in eine verbotene Stadt.

Tom Meister

 


Guy Delisle «Pjöngjang». Reprodukt, 184 Seiten, Softcover, s/w, Euro 18.– / sFr. 32.40
Kommentierte Kulleraugen

«Still Not Famous #1» ist kein Comicband im eigentlichen Sinne, sondern eher ein Bildband und gleichzeitig eine Werkschau der in Berlin lebenden Künstlerin, Musikerin und Labelbetreiberin Evelin Höhne. Zu sehen
waren ihre Bilder bislang nur in Comicmagazinen wie Basalt oder Renate sowie auf Ausstellungen, einigen Plattencovers und Tourplakaten. In «Still Not Famous #1» bekommt man jetzt einen Überblick über ihre sämtlichen Werke, einschliesslich ihrer ersten und bislang einzigen Comic-Story.
Evelins Bilder sind Comic- und besonders Manga-beeinflusste Porträts, die hauptsächlich kleine Kinder, seltener auch junge Frauen zeigen. Die mit dickem Strich gezeichneten und knallbunt kolorierten Figuren sind bewusst kindlich naiv gehalten und erinnern damit eher an die japanische Heidi
als an moderne Manga, die grossen Kulleraugen und die ovalen Gesichts-formen in Verbindung mit der minimalen Mimik und der starren Gestik stellenweise auch an Playmobil-Figuren.
Das Besondere an Evelins Bildern sind die Leitsprüche, Parolen und Bonmots, mit denen ein Grossteil der Zeichnungen versehen ist. So lässt sie ihre kleinen, süssen Kinder freudig Dinge wie «Punkrock!», «Live young, die fast» oder «Sting ist doof» ausrufen. Dazwischen schleichen sich gelegentlich melancholische Untertöne wie die zerlaufene Schminke eines Mädchens in «After the disco» oder der ernst und viel zu erwachsen dreinblickende Junge in «Here I am another beaten man». Auch die Kunst selbst wird immer wieder thematisiert, wenn beispielsweise ein kleiner Junge dem Betrachter ein Schild mit dem Wort «Leinwandspiesser» entgegenhält; oder wenn ein Mädchen auf eine Schultafel zeigt, auf der «Kunstkrise» steht, wobei vom letzten Buchstaben die Farbe in eine schwarze Pfütze tropft. So entstehen zusätzliche, oft ironische Ebenen, die im Kontrast zu den niedlichen Kinderfiguren stehen.
Immer wieder greift Evelin in ihren Werken auch ihre künstlerischen Einflüsse auf. Die Knalligkeit der Farben lässt an Pop-Art denken, was in einigen Bildern mit Slogans wie «Rock Art» oder «Forget Andy Warhol» kommentiert wird. Den Comic-Einfluss wiederum legt sie offen,
indem Figuren wie Micky Maus, HelloKitty oder Sponge Bob am Rande auftauchen. In «Fresh» treffen ihre Figuren auf die kubistischen Comic-Gestalten von Jim Avignon.
Evelins Bilder faszinieren durch ihren Ideenreichtum und berühren trotz oder gerade wegen der Niedlichkeit ihrer Geschöpfe, die einen mit
grossen, schwarzen Augen direkt anzublicken scheinen. Und besonders der Comic Strip, der im Gegensatz zu ihren Bildern in schwarz-weiss gehalten ist, macht Lust auf mehr.

Jan Westenfelder



Evelin «Still Not Famous #1».
Ventil Verlag, 128 Seiten, Softcover, farbig, Euro 24.90 / sFr. 44.90
Pompöser Niedergang

Er ist Comiczeichner, Maler und Sänger der Band «Valium et les Dépressifs». Seine Publikationen heissen «Primitive Crétin» oder «1000 Rectums»; die natürliche Umgebung seiner Charaktere sind in der Regel Müll, Schlamm und Körperflüssigkeiten.
Rund ein Vierteljahrhundert ist es her, seit der frankokanadische Comic-zeichner Patrick Henley alias Henriette Valium seinen ersten Comic veröffentlichte und damit ein breites Publikum schockierte. Seither zeichnet der 48-Jährige unverdrossen weiter an einer Welt, die vorwiegend aus Körperteilen, Obsessionen und Perversitäten besteht. Seine Strips sind oft ganzseitige infernale Tableaus, eine Mischung aus Hieronymus-Bosch-Kosmos und Punk-Ästhetik. Von der kanadischen Kunstszene als zu sexis-tisch und brutal befunden, reissen sich indessen die Fanzines und Underground-Gazetten der ganzen Welt seit Jahren um den Künstler.
L’Association bringt nun mit «Ab bédex compilato» die erste Valium-Antho-logie heraus. Man bräuchte Wochen, um sich jedem Detail zu widmen,
das in dem grossformatigen Band enthalten ist. Valium zeichnet bisweilen monatelang an einer Seite und beschreibt wild und präzise die tiefen Abgründe der menschlichen Existenz und die Heuchelei, mit der man sie im Allgemeinen zu überdecken versucht.
Es gibt wohl niemanden, der nicht hin und wieder von den Bildern Valiums schockiert wäre. Doch Valium zeichnet das Böse und Perverse nicht aus reiner Lust am Ekel, sondern versucht sich davon zu befreien. Er tut dies mit schneidendem Witz und beissendem Spott, die vor nichts halt machen, auch nicht vor ihm selbst. In einer Geschichte macht er sich im Stile eines religiösen Traktats über die eigene Rolle als besessenen Comiczeichner
lustig und beschreibt dabei gnadenlos seinen charakterlichen und seelischen Niedergang. Als Leser kann man sich nur wünschen, dass dieser noch lange anhält!

Tim Kongo



Henriette Valium «Ab bédex compilato». L’Association, Paris 2007, 224 Seiten, z.T. farbig, Klappenbroschur,
Euro 32.– / sFr. 63.10
Internet-Bibel

Nicholas Gurewitch ging noch auf die Universität, als er 2001 den ersten Comic Strip veröffentlichte. Der Grund dafür waren die schlechten Comics in der Studentenzeitung. Dass seine mehr taugten, bewies er erst auf Papier und dann zunehmend im Internet.
Auf seiner Website, die nach einer Bibelgemeinschaft «The Perry Bible Fellowship» benannt ist, veröffentlicht Gurewitch jede Woche einen Strip.
Im Stil äusserst variabel, von naiv kindlich bis schematisch kühl,
vemag er in drei bis vier Bildern alles – vom Mini-Märchen bis zur Science-Fiction-Story – zu erzählen und mit einer überraschenden Pointe
treffsicher abzuschliessen. Mitunter bedient sich der 36-jährige New Yorker Zeichner und Filmemacher eines durchaus komplexen Plots, sodass
es eines zweiten Blicks bedarf, bis sich einem seine surreale Welt ganz erschliesst.
«The Perry Bible Fellowship» wurde bereits mit mehreren Preisen ausge-zeichnet, darunter alleine zweimal mit dem Ignatz-Award für herausragende Webcomics. Auf ein gänzlich unbekanntes Pferd setzte der Verlag Dark Horse also nicht, als er Gurewitch unter Vertrag nahm. Ein wenig überrascht war man dann allerdings schon, als der erste Band in den Bestsellerlisten von Amazon auftauchte, obwohl er noch gar nicht erhältlich war und
der überwiegende Teil davon ohnehin schon auf Gurewitchs Homepage veröffentlicht worden war. Kommerzieller Erfolg ist nicht unbedingt ein Hinweis auf künstlerische Qualität. Hier ist er es aber definitiv.

Tom Meister



Nicholas Gurewitch «The Trial of Colonel Sweeto and Other Stories».
Dark Horse Comics, Milwaukie 2007, Hardcover, farbig,
Euro 11.– / sFr. 26.90
Differenzierendes Hosenrunter

Mit zum Teil peinlich berührender Offenheit lässt uns der Zeichner und Autor Joe Matt an seinem Leben teilhaben. Wir erfahren in seinem autobiografischen Comic «Peepshow» nicht nur, dass er notorisch pleite ist, sondern auch, dass er regelmässig Pornos konsumiert und ausgiebig seiner Onanie-Manie frönt; die Klopapierrolle liegt stets griffbereit neben dem Bett. Anstatt Comics zu zeichnen, flüchtet sich Matt lieber in sexuelle Traumfantasien. Seine Freundin Trish lässt er links liegen; er interessiert sich nicht für sie, lügt sie an und weigert sich, Sex mit ihr zu haben. Als
sie sich dann von ihm trennt, entflammt sein Interesse wieder.
Auch wenn sich in Joes Leben scheinbar alles nur um das eine dreht, so handelt «Peepshow» nicht einzig von pubertären Wunschträumen.
Joe Matt ist Woody Allens Stadtneurotiker in Comicform; ein klein bisschen verrückt, absolut bindungsunfähig und dennoch sympathisch spleenig, kurz: ein Loser, der sich permanent selbst im Weg steht. Während
Joe seiner Umwelt den arbeitsamen und erfolgreichen Lebenskünstler vorgaukelt, ist er einzig seinen besten Freunden Seth und Chester Brown gegenüber ehrlich und offen. Doch ihren gutgemeinten Rat schlägt er regelmässig in den Wind und geht unbeirrt seinen Weg.
Es ist vor allem Matts Selbstironie, die «Peepshow» so vielschichtig und unterhaltsam macht. Aus drei wechselnden Perspektiven wird sein «wahres» Leben erzählt: wie es Matt seinem Umfeld gegenüber darstellt, wie es seine Fans anhand der Comics sehen und schliesslich die ernüchternde Realität. Gewollt oder ungewollt, konterkariert Joe Matt den Wahrheitsgehalt autobiografischer Comics, denn letztendlich dient die Autobiografie dem Autor wie auch dem Rezipienten einzig als Projektionsfläche. Die gegenseitige Abhängigkeit von Exhibitionismus und Voyeurismus ist ihm durchaus bewusst. Nicht umsonst trägt Matts Comic den bezeichnenden Titel «Peepshow».

Von Matthias Schneider




Joe Matt «Peepshow».
Edition 52, 168 Seiten, Softcover, schwarzweiss,
Euro 17.— / sFr. 29.80
Blondinen und Japaner

Der in Brooklyn lebende Adrian Tomine arbeitet seit 1994 als Comicautor und hat sich mit der Serie Optic Nerve und seinen Illustrationen für den New Yorker oder Rolling Stone einen Namen gemacht. Dem Amerikaner mit japanischen Wurzeln wurde allerdings auch schon vorgeworfen, in den halb autobiografischen Geschichten seine Abstammung verbergen zu wollen.
Als möchte er diese Kritik widerlegen, handelt Tomines neues Buch «Halbe Wahrheiten» unter anderem von Rassenstereotypen. Sein Protagonist
Ben Tanaka ist 30 und lebt mit seiner Freundin Miko in Kalifornien.
Als ewiger Pessimist und Zyniker ohne jegliche Karriereansprüche – er
arbeitet als Filmvorführer in einem kleinen Kino – lebt er in ständiger Unzufriedenheit. Von Tanakas allgemeinem Unmut wird auch seine Liebesbeziehung
nicht verschont; seine Schwäche für Blondinen tut ein übriges. Auch die Freundschaft mit der lesbischen Alice, die sich mit ihren autoritären, homophoben Eltern streitet, interessiert ihn immer weniger.
Die Darstellung des Miesepeters Tanaka ist dank Tomines eleganten und gleichzeitig karg-kühlen Strichs (der auch seine offensichtliche Anlehnung an Daniel Clowes zu verlieren scheint) äusserst passend. Wie im Originaltitel «Shortcomings» angedeutet, handelt Tomines Comic von Unzulänglichkeiten, menschlichen Schwächen und nicht zuletzt von Rassendiskriminierung. Im Vordergrund stehen aber die Schwächen des Protagonisten, der sich mit hartnäckiger Passivität in eine emotionale Sackgasse verrennt.
Ben Tanaka mag anfangs dem liebenswerten Versager ähneln, wie man ihn aus dem amerikanischen Independent-Kino kennt. Mit Fortschreiten
der Geschichte verliert er aber jegliche Sympathie und jedes Identi-fikationspotenzial – nicht zuletzt wegen seiner (vielleicht unbewussten) rassistischen und stereotypischen Ansichten. Im Gegensatz zu seinem Protagonisten verfällt Adrian Tomine aber glücklicherweise nie in schematische Darstellungen.

Giovanni Peduto




Adrian Tomine «Halbe Wahrheiten». Reprodukt Verlag, 104 Seiten, Klappenbroschur, schwarzweiss,
Euro 13.– / sFr. 24.–

Notizen aus Fernost

«Moresukine» war ursprünglich ein Internetprojekt, an dem der Wahl-Berliner Dirk Schwieger während eines längeren Tokyo-Aufenthaltes arbeitete. Um seine Eindrücke festzuhalten, richtete er einen Comic-Blog ein, den er in Anlehnung an die bekannten Moleskine-Notizbücher «Moresukine» (japanische Schreibweise für Moleskine) nannte. Per Internet konnten ihm Leute aus der ganzen Welt Aufgaben stellen, die
er in der Reihenfolge ihres Eintreffens abarbeitete.
Die eingesandten Wünsche und Fragen führten ihn in Museen und Restaurants, ins Tokyoter Nachtleben oder auch auf eine Achterbahn auf dem Dach eines Einkaufszentrums. Seine Erlebnisse verarbeitete er zu kurzen Episoden, die er Woche für Woche in seinem Blog veröffentlichte.
Insgesamt 24 solcher Aufträge hat Dirk Schwieger ausgeführt und in «Moresukine» dokumentiert. Seine Auseinandersetzungen mit der japanischen Kultur sind nicht nur hochspannend, sondern oft auch sehr amüsant: zum einen, wenn er über skurrile Begebenheiten berichtet,
zum anderen, weil seine Erzählweise kaum origineller sein könnte. So spielt Schwieger immer wieder mit dem Medium Comic selbst. Die
Panels der Kapselhotel-Episode besitzen allesamt die Form einer von vorne betrachteten Schlafkapsel. Die Panels der Achterbahn-Geschichte dagegen sind so durcheinander geschüttelt, dass man sich beim Lesen fühlt, als hätte man selbst einige Loopings gedreht. Und bei der Episode zum Umgang mit den Geschlechtern müssen die Seiten nach oben hin aufgeklappt werden, so dass man ein zusammenhängendes Bild zu sehen bekommt, in dem mehrere Beobachtungen zueinander in Beziehung gesetzt werden; wobei man sich beim Betrachten ständig verzettelt, sodass man die Verwirrung des Zeichners nachempfinden kann. Der Leser wird durch diese Kunstgriffe immer wieder direkt in die Handlungen hineingezogen und hat unmittelbar Anteil an den Eindrücken Schwiegers.
Als Bonus sind am Ende zehn kurze Episoden verschiedener internationaler Künstler angefügt, denen Dirk Schwieger seinerseits einen Auftrag erteilt hat: zum Beispiel in der eigenen Stadt einen Japaner treffen und mit diesem ein Gespräch führen. Dabei ist eine extrem vielseitige Ansammlung skurriler Geschichten herausgekommen wie etwa diejenigen von Monsieur Le Chien aus Paris, Ryan North aus Toronto oder Leo Leowald aus Köln.
Was bei «Moresukine» als erstes ins Auge sticht, ist die originelle Auf-machung des Bandes. Er sieht nämlich tatsächlich aus wie ein Moleskine-Notizbuch. Zu bemängeln ist höchstens, dass sich die oben beschriebene Ausfalt-Episode kaum handhaben lässt, ohne dass man die Seiten beschädigt. Aber ein Moleskine ist ja auch zum Arbeiten da und darf ruhig etwas abgenutzt aussehen!

Jan Westenfelder



Dirk Schwieger
«Moresukine. Wöchentlich aus Tokyo».
Reprodukt, 160 Seiten, Softcover, s/w,
Euro 16.– / sFr. 29.50

Der Charme der Familiengeschichten

Die Geschichte der eigenen Familie ist meist eine verzwickte Angelegen-heit. Denn nur wenig liegt einem so nahe und ist zugleich so unvertraut
wie die eigene Familie. Um die unzähligen, immer und immer wieder erzählten Anekdoten ranken sich nicht minder die unausge-sprochenen Ereignisse und die Mutmassungen darüber.
Das ist in der Familie der deutschen Illustratorin Line Hoven aus Hamburg nicht anders. Von ihren Grosseltern Irmgard und Erich Hoven ist bekannt, dass sie sich in einem Sommerlager der Hitlerjugend verliebten. Darüber hinaus ist der Nationalsozialismus aber eines der striktesten Tabus in
der Familie Hoven. Anders die amerikanischen Grosseltern, Catherine und Harold Lorey. Von ihnen wissen alle, wie romantisch sie sich auf der Eisbahn kennen lernten, als sie stürzte und er ihr darauf galant seine Hand anbot. 1968 verknüpften sich schliesslich die beiden Familiengeschichten, als die Literaturstudentin Charlotte Lorey nach Bonn flog, wo sie im Mediziner Reinhard Hoven den Mann ihres Lebens fand. Doch die kulturellen Differenzen blieben unüberbrückbar. Weder mochten sich die Väter Erich und Harold noch fand sich Reinhard in den USA zurecht. So kam es, dass Line in Bonn aufwuchs.
Im Grunde ist das bereits die halbe Geschichte. Als Erzählerin wahrt Line Hoven gegenüber dem allzu Intimen genauso Zurückhaltung, wie sie
als Illustratorin die Intensität des Augenblicks festhält, ohne je voyeuristisch zu wirken. «Liebe schaut weg» fügt sich damit nahtlos in den Trend ein,
von dem die deutschsprachige Literatur gegenwärtig gekennzeichnet ist: die Entdeckung der Familiengeschichte als Horizont der Orientierung für ein mittelständisches Leben ohne Höhepunkte und Tiefschläge. Niemand in der Familie Hoven ist mehr als ein Mitläufer im Strom der Geschichte. Und so lebt die Familienchronik ganz vom Charme des Gewöhnlichen und von den subtilen Andeutungen, die Hoven in Form von Fotografien und Requisiten wie Flugtickets, Rechnungen oder einem Ausweis der Hitlerjugend zwischen die Kapitel einstreut. Alles in allem gefällt «Liebe schaut weg» als ein stilles, sanftes Porträt einer Familie, die auch die eigene sein könnte – und weckt so, im besten Fall, auch die Liebe zur eigenen Familie.

Florian Meyer




Line Hoven «Liebe schaut weg».
Reprodukt, 96 Seiten, Softcover, s/w,
Euro 14.– / sFr. 22.–