Kurz und Gut
von Christian Meyer

Der Comic-Salon Erlangen hat wieder eine Menge Neuveröffentlichungen angeschwemmt. Die wohl spektakulärste dürfte die deutsche Ausgabe von «Lost Girls» sein. Das in 16 Jahren entstandene Werk von Melinda Gebbie und Alan Moore (der ausserdem in Erlangen für sein Lebenswerk ausge-
zeichnet wurde) bringt wie bereits Moores «League of Extraordinary Gentlemen» verschiedene literarische Gestalten zusammen. Alice («Alice im Wunderland»), Dorothy («Der Zauberer von Oz») und Wendy («Peter Pan») residieren kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im österreichischen Hotel Him-melreich und erzählen sich ihre sexuellen Abenteuer, werden dort aber auch gemeinsam aktiv.
Moore ergeht sich in zahlreichen Anspielungen, webt Historie ein und
spielt mit Perspektiven, während Gebbie auf der visuellen Ebene die
zeitgenössischen Kunstströmungen auferstehen lässt. Mit der Analyse des detailreichen, komplexen und liebevoll gestalteten Werks könnte man problemlos etliche kunsthistorische und literaturwissenschaftliche Seminare füllen.

Alan Moore / Melinda Gebbie, «Lost Girls»
Cross Cult, 336 Seiten, farbig, 3 Leinenbände in Schuber
Euro 75.– / sFr. 129.–

Nach dem Erfolg mit Marjane Satrapis «Persepolis» wagt sich die Edition Moderne mit «Der Fotograf» erneut in den Islam vor. Der Fotograf Didier Lefèvre reiste 1986 nach Afghanistan, um einen Einsatz von Ärzte ohne Grenzen zu dokumentieren.
Umgesetzt wurde das ungewöhnliche Thema jetzt ebenso ungewöhnlich von dem Autoren Emmanu-el Guibert und dem Zeichner Frédéric Lemercier. Denn neben Lemerciers Zeichnungen, die eine grobe, kontrastreiche Ligne Claire vertreten, sind immer wieder Originalfotos von Lefèvres Reise in die Erzählung eingebaut. Das hat zunächst einen irritierenden Effekt, liefert aber eine interessante, zweite Perspektive – wie in einem Spielfilm, der dokumentarisches Bildmaterial integriert.
Der autobiografische Comic ist auf drei Bände angelegt.

Guibert / Lefèvre / Lemercier, «Der Fotograf – Band 1: In den Bergen Afghanistans». Edition Moderne, 80 Seiten, farbig, Hardcover
Euro 24.– / sFr. 38.–

Schön, wenn von der momentanen Graphic-Novel-Welle auch Klassiker hochgespült werden. Carlsen veröffentlicht nämlich die nur ein Jahr nach Che Guevaras Tod entstandene Biografi e «La Vida del Che» von 1968.
Geschrieben wurde sie von Héctor Oesterheld, der 1978 während der Junta in Argentinien ermordet wurde. Die Arbeit an den Illustrationen haben sich Alberto Breccia und sein Sohn Enrique geteilt. Alberto schildert in einem expressiven, verschiedene Techniken vereinenden Stil das Leben von Che Guevara. Enrique Breccia erzählt in rauen, fast abstrakten Bildern von seinen letzten Tagen im Dschungelkrieg in Bolivien. Entstanden ist eine ebenso desillusionierte wie pathetische Hommage, deren Entstehungszeit stets spürbar ist.

Oesterheld / A. Breccia / E. Breccia, «Che»
Carlsen, 96 Seiten, s/w, Hardcover, Euro 16.90 / Euro 17.40

Christophe Blain, der zeitgleich an den Serien Isaak der Pirat, Gus und Donjon – Morgengrauen arbeitet, ist einer der produktivsten Comic-
Künstler. Mit «Das Getriebe» erscheint nun auf Deutsch ein knapp zehn Jahre alter Einzelband, der bereits alle Qualitäten Blains offenbart.Auf einem Kriegsschiff flüchten drei Matrosen vor der Seekrankheit in die ruhigeren Tiefen des Schiffsbauchs, wo ihnen ein kleines Missgeschick mit ernsten Konsequenzen unterläuft. So stolpern sie auf der Flucht benommen durch den warmen Schiffsbauch, während oben der Krieg droht. Auf eine traumhafte Art bleibt in diesem grafi sch gelungenen, von Melancholie durchzogenen Frühwerk aber dennoch (fast) alles folgenlos.

Christophe Blain, «Das Getriebe».
Reprodukt, 80 Seiten, farbig, Softcover
Euro 15.– / sFr. 27.50

Nicolas Mahler widmet sich in seinem neuen Band «Van Helsing macht blau» dem Horrorgenre. Das Figurenarsenal ist klassisch: Zorro, Werwölfe, Vampire, Mumien, der Unsichtbare und Frankensteins Monster bevölkern Mahlers minimalistische Welt des Grotesken, in der die Monster vornehmlich an den Kleinigkeiten des Alltags scheitern.Mahler ist auch einer von 14 Zeichner und Zeich-nerinnen, die in der österreichischen Anthologie «Perpetuum» ihre Geschichten präsentieren. Der Wälzer liefert eine erstaunliche Bandbreite – von Mahlers Minimalismus über klassischere Comicgeschichten zu konzeptuell und grafisch ungewöhn-
lichen Experimenten, z.B. die Gestaltung fiktiver Comic-Covers oder feministische Westerncomics. Der Band zeigt eine sehr lebendige österreichische Comicszene.

Nicolas Mahler, «Van Helsing macht blau»
Reprodukt, 112 Seiten, Klappenbroschur, s/w
Euro 10.– / sFr. 16.80

Hannes Schaidreiter (Hg.), «Perpetuum»
Luftschaft, 344 Seiten, Softcover, farbig und s/w
Euro 25.20 / sFr. 44.20

Im Selbstverlag erscheinen die Hefte der Hamburger Künstler diceindustries und Verena Braun. Dice führt immer noch Reste vom
Disney-Personal in seinen surrealistischen Collagen, deren Zitatenkatalog von Popart bis Manga reicht. In «Low Fre-quency», dem dreizehnten Heft seiner Reihe Qwert, ist die Stilbreite so gross wie nie zuvor.
Verena Braun legt mit «Die Station» ihr erstes Album vor. Die Hauptfigur, ein vermenschlichter weiblicher Krake, landet nach einer Busfahrt in einer verwaisten Endstation. Dort irrt sie durch ein leeres Gebäude und trifft auf seltsame Gestalten – surreale Szenarien, offensichtlich von Anke Feuchtenberger beeinflusst, die eine stimmige Story ergeben.Braun war auch bereits mehrfach im Hamburger Comicmagazin Orang vertreten, dessen aktuelle siebte Ausgabe «The End of the World» apokalyptische Werke u.a. von Arne Bellstorf, Moki, Kati Rickenbach oder eben Verena Braun enthält. Die sowohl grafi sche als auch erzählerische Bandbreite reicht von minimalistisch bis überladen, von märchenhaft bis abgründig, von klarer Linie bis Aquarell. Einzig der Abstraktionsgrad ist bei den meisten Arbeiten sehr hoch. Schlichten Realismus fi ndet man bei Orang selten, verschlungene Erzählungen und ausgefeilte grafische Ideen hingegen oft.

Diceindustries, «Qwert 13 – Low Frequency»
Eigenverlag, 48 Seiten, Softcover, Farbe
Euro 7.–
Zu beziehen bei: dice@chezlinda.de oder über www.reprodukt.com

Verena Braun, «Die Station»
Eigenverlag, 48 Seiten, Softcover, Farbe, Euro 8.-
Zu beziehen bei: http://diebiblyothek.eu

Sascha Hommer (Hg.): Orang 7 – The End Of The World
Reprodukt. 112 Seiten, Softcover, Farbe und s/w,
Euro 15.– / sFr. 27.40

Die Höhen und Tiefen des Elternwerdens zeichnet der Kölner Illustrator Leo Leowald in «Raues Sitten» nach. Wie schon bei seinem ersten Band «Elementartierchen» speisen sich die Cartoons von «Raues Sitten»
zum grössten Teil aus dem Zwarwald, seiner täglich auf der Internetsite zwarwald.de erscheinenden Cartoonserie.«Raues Sitten» ist ein Babybuch, das die Tücken von Babywitzbüchern kennt und gerne schlingernd im Slalom umschifft. Ähnlich bewegt sich der Humor. Lange und genau hingucken hilft meistens, aber nicht immer. Spontane Lachkrämpfe sind aber ebenso denkbar.

Leo Leowald, «Raues Sitten»
Reprodukt. 128 Seiten, farbig, Softcover
Euro 12.– / sFr. 19.80

Wie am besten all die komischen Freunde und Freundinnen, Affären oder Freundschaften, die man bislang hatte, verarbeiten? Claire Lenkova, bekannt unter anderem vom Hamburger Comicmagazin Spring, macht es vor: katalogisieren!«Alle meine Freunde» ist eine Sammlung von Kar-
teikarten, auf denen Merkmale wie Dialekt, Geruch oder bezeichnender Spruch verflossener Liebschaf-ten erinnert werden. Dazu gibt es eine Schautafel mit genaueren Angaben zu einigen Auserwählten, sorgsam als Gewinnermittlungstabelle ausgeführt. Ein grafi sch wie konzeptionell erstaunliches Werk – übrigens rein fiktional.

Claire Lenkova, «Alle meine Freunde»
Antje Kunstmann, 80 Seiten, farbig, Hardcover, mit Schautafel
Euro 16.– / sFr. 29.50