Magazin
|
Beschnittene Jugend «Ma circoncision» («Meine Beschneidung»), ursprünglich 2004 in der von Joann Sfar herausgegebenen Reihe Bréal Jeunesse erschienen, ist eher ein Bilderbuch als ein Comic. Der 1978 in Paris geborene, aber in Algerien und Syrien aufgewachsene Riad Sattouf schildert, wie er als achtjähriger Junge beschnitten wird. Das Warten auf die Zeremonie, die Angst vor der Operation ohne Narkose, Unverständnis und ausbleibende Erklärungen, die Autorität religiöser Dogmen, der Druck von Familie und Gesellschaft und nicht zuletzt das (nicht eingehaltene) Versprechen seines Vaters, er würde ihm danach eine grosse «Goldorak»-Figur schenken – all das erzählt Sattouf derart packend und nachvollziehbar, dass nicht nur die männlichen Leser den Schmerz geradezu mitfühlen können. Gleichzeitig hat man dank Sattoufs schonungslosem Galgenhumor den Eindruck, selten ein so komisches Buch gelesen zu haben. Die Wahrhaftigkeit des autobiografischen Werks führte übrigens dazu, dass gewisse Organisationen Riad Sattouf wegen ethnischer Vorurteile, Antisemitismus oder wegen seines negativen Vaterbilds vor Gericht ziehen wollten…!
|
Riad Sattouf, «La vie secrète des jeunes»
|
Nachhallende Ballade Als «Storeyville» 1995 erstmals erschien – im Tabloid-Format und auf Zeitungspapier gedruckt – fiel es zwischen Stuhl und Bank. Von den |
|
Unterhaltendes Verwirrspiel
|
|
Deutscher Spion in Japan
In Ozamu Tezukas Manga «Adolf» ist er einem bereits als Nebenfigur begegnet: Richard Sorge, der deutsche Spion der Russen in Japan. Über seine historische Relevanz und sein Schicksal erfährt man nun viel Neues in Isabel Kreitz’ Comic «Die Sache mit Sorge». Dieser trägt – dank eines Umfangs von knapp 250 Seiten und grosses dramatischen Gehalts – zu Recht den Stempel Graphic Novel.
|
Isabel Kreitz, «Die Sache mit Sorge» Carlsen 256 Sei-ten, Hardcover, s/w Euro 19.90 / sFr 34.70 |
Beängstigend hermetisch
| Thomas Ott «The Number 73304-23-4153-6-96-8» Edition Moderne 144 Seiten, Halbleinenband, s/w Euro 19.80 / sFr. 35.– |
Meisterhafte Absichten
|
Jiro Taniguchi, «Die Sicht der Dinge» Carlsen 278 Seiten, Softcover, s/w Euro 14.– / sFr. 24.90 |
Carpe noctem In Norwegen, der Heimat von Nemi-Zeichnerin Lise Myhre, ist das Gothic-Girl längst Kult. Seit sie 1997 ihren ersten Auftritt in Gary Larsons Far Side Magazine hatte, ist ihre Popularität ständig gewachsen. Mittlerweile erscheinen ihre Strips in Skandinavien, England und Schottland in über 75 Zeitungen. Im deutschen Sprachraum ist Nemi aber (noch) relativ unbekannt und war bislang lediglich im Szenemagazin Orkus sowie in einem ersten Sammelband von 2006 zu sehen. Jetzt erscheint Band 2, und auch dieser ist wieder randvoll mit den meist vier Panels langen, in Schwarzweiss und Grautönen gehaltenen Strips. Wie gesagt ist Nemi ein Gothic-Mädchen. Sie kleidet sich ausschliesslich schwarz, hat lange schwarze Haare und blasse Haut, mag Drachen, Hexen, Herr der Ringe und Heavy Metal. Gleichzeitig tut sie aber auch Dinge, die viele junge Frauen tun: Sie raucht und trinkt, schlägt sich mit Männern herum, ist eher faul und auch ein bisschen schlampig. Überhaupt führt sie ihr toughes Äusseres immer wieder selbst ad absurdum, indem sie beispielsweise ihrer Leidenschaft für Schokolade freien Lauf lässt oder ver-sucht, in der Tiefkühltruhe einen Schneemann vor dem Tod zu bewahren. So lebt die Figur vor allem von ihren Gegensätzen. Kommt sie einerseits sexy und unnahbar daher, wirkt sie andererseits häufig auch mädchenhaft. Sie legt grossen Wert auf Styling, bringt es aber fertig, ihrer Date-Bekanntschaft vor die Füsse zu kotzen. So ist Nemi vor allem eines: sehr menschlich. Mit Horror-Kitsch, etwa im Stile von «Emily the Strange», hat sie definitiv nichts am Hut. Ein grosser Teil der Pointen entsteht im Zusammenspiel mit Nemis bester Freundin Cyan, die die einzige ständig wiederkehrende Nebenfigur ist. Im Gegensatz zu Nemi ist Cyan ein Normalo-Mädchen mit geregeltem Job und unauffälligem Äusseren. So trifft die Nacht auf den Tag, schwarze Kleidung auf bunte, früh-schlafen-gehen auf nächtliche Friedhofsspaziergänge, Rationalismus auf Mittelalter-Phantasien. Doch nicht alle Geschichten basieren auf Nemis Szenezugehörigkeit. Nemi schlägt sich auch mit ganz gewöhnlichen Problemen herum wie Abwaschen, schlechten Fernsehserien oder der neuen Frau ihres Vaters. Auffällig und extrem witzig sind Nemis stellenweise stark überzeichneten Gesichtszüge. Meistens zeigt sie keinerlei Gefühlsregungen und bleibt völlig cool. Daneben gibt es aber auch Panels, in denen sie von Ohr zu Ohr grinst, ihr die Kinnlade herunterklappt oder sich ihre Augen riesenhaft vergrössern. Hier werden dann in die ansonsten relativ «realistisch» und mit klaren Linien gezeichneten Figuren klassische Cartoon-Elemente eingebaut, die in ihrer Überzogenheit manchmal an Manga erinnern. Nicht nur Gruftis und Metal-Fans dürften an Nemi ihre helle, Verzeihung: dunkle Freude haben. Jan Westenfelder
| Lise Myhre, «Nemi. Band 2» Ubooks 144 Seiten, Hardcover, s/w Euro 19.95 / sFr. 35.90 |
Kurioses jagen, Unheimliches malen Merkwürdige Themen und ein Interesse am frühen 20. Jahrhundert haben auch Nick Bertozzi umgetrieben, als er «The Salon» verfasste. Der Titel verweist auf die legendären ausgelassenen Zusammenkünfte von Künstlern und Intellektuellen, die einst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der Pariser Wohnung von Gertrude Stein und ihrem Bruder Leo stattfanden. Bertozzi meint, er habe eigentlich einen Comic über die Entstehung des Modernismus zeichnen wollen, sei dann aber zur Erkenntnis gekommen, seitenweise Malern und Schriftstellern beim Debattieren in Ateliers und Cafés zuzusehen, könnte eventuell langweilen. Anstatt eine geradlinige Geschichtslektion zu liefern, drapiert Bertozzi seine Entwicklungsgeschichte des Modernismus um einen mysteriösen Mordfall: Jemand scheint die Vertreter der neuen Generation von Avantgarde-Künstlern einen nach dem anderen töten zu wollen, weshalb sich einige von ihnen zusammentun, um den Killer aufzuspüren.
|
|
Schlechte Luft
| Michelangelo Setola, «Bar Miki» Edition Moderne/Fumetto 52 Seiten, Softcover, s/w Euro 20.–/ sFr. 30.– |
Lachen mit Stil Die Erscheinungsformen des Berliner Comiczeichners Nettmann sind vielfältig. Mal taucht er als DJ im «Erdbeer» auf, mal als strenger Waldmeister wie in der letzten, sehr gelungenen «Renate»-Box. Seit bald zwanzig Jahren führt er ausserdem ein zweites Leben als Comicfigur, und zwar in kleinen Heftchen, die es bisher geschafft haben, emsig durch die Maschen des Marktes zu schlüpfen – was sie mittlerweile zu gefragten Sammlerobjekten gemacht hat. Die Comicfigur Nettmann ist ein maskierter Superheld von kleiner Gestalt, der ausser seiner Schlagfertigkeit über keine weiteren Superkräfte verfügt. Seine Dreistigkeit verpackt er in Liebenswürdigkeit, womit er das Absurde von Alltagssituationen und Redensarten zu Tage fördert. So geschieht es auch in seinem neuesten Heft «Bomben und Rosinen», wo es Superheld Nettmann unter anderem mit Schönheitschirurgen, Heiligen, Exhibitionisten und Neonazis zu tun bekommt. Der Zeichner verwendet für seine Einbild-Geschichten Kopien ikonenhafter Charaktere aus der Geschichte des Zeitschriften-Comics; Figuren, die einem vorwiegend aus jenen Kindertagen bekannt sind, als man im Friseursalon auf einen unerwünschten Haarschnitt warten musste. Hinzu kommt ein wahres Arsenal hübscher Details, die den Büchern Nettmanns etwas fast Liebevolles verleihen und deren genaue Betrachtung sie zu einem Vergnügen der ganz besonderen Art machen. Tim Kongo
| Nettmann, «Bomben und Rosinen» |
Landflucht Tim Kongo | Jule K., «Fernanda‘s Fabulous Life» Edition 52 60 Seiten, farbig, Softcover Euro 12.– / sFr. 22.30 |
Kafka als Comic |
Chantal Montellier / David Zane Mairowitz, «Franz Kafka’s The Trial» |