Magazin

Buchtitel gezeichnet von Sascha Hommer


Beschnittene Jugend

Kein Zweifel: Sattouf ist einer der witzigsten Comic-Autoren seiner Generation. Sein Humor jedoch ist selten harmlos, wie zwei aktuelle Bücher beweisen.«La vie secrète des jeunes» («Das geheime Leben der Jugend») ist ein verstörendes Buch. Einerseits ist es komisch wie kaum ein anderes in den letzten Jahren, andererseits löst es Gefühle aus, die man lieber verdrängen würde. Sattouf ist ein Beobachter, ein Belauscher, kurz: ein Voyeur. Drei Jahre lang verarbeitete er Woche für Woche aufge-schnappte Gespräche, Monolog-Fetzen und bizarre Situationen zu One-Pagern für das Satiremagazin Charlie-Hebdo und entwarf dabei ein erschreckendes Porträt der französischen Jugend. Ob arm oder reich, ob aus dem Zentrum oder aus den Vororten, ob Arbeitslose, Studenten oder Berufstätige, ob gepierct, verdrogt, rassistisch, idealistisch, verklemmt oder bieder – Sattouf entlarvt Dummheit, Heuchelei, Ignoranz und viel Unangenehmes mehr. Sein Spott stellt allerdings nicht nur seine unfreiwilligen jugendlichen Protagonisten bloss, sondern auch den erwachsenen Leser, der sich dabei ertappt, diese Jugendlichen plötzlich mehr zu verabscheuen, als ihm lieb sein sollte.Sattouf ist weit davon entfernt, ein besonders begnadeter Stilist zu sein. Sein skizzenhafter Strich aber passt zur Aussage, sein Sinn für die Körpersprache ist untrüglich. Das macht aus «La vie secrète des jeunes» ein aberwitziges und superfi eses Sittengemälde, das in seiner Dichtheit schier unerträglich ist. Am besten liest man die Strips, als erschienen sie in einer Zeitschrift: einen pro Woche.

«Ma circoncision» («Meine Beschneidung»), ursprünglich 2004 in der von Joann Sfar herausgegebenen Reihe Bréal Jeunesse erschienen, ist eher ein Bilderbuch als ein Comic. Der 1978 in Paris geborene, aber in Algerien und Syrien aufgewachsene Riad Sattouf schildert, wie er als achtjähriger Junge beschnitten wird. Das Warten auf die Zeremonie, die Angst vor der Operation ohne Narkose, Unverständnis und ausbleibende Erklärungen, die Autorität religiöser Dogmen, der Druck von Familie und Gesellschaft und nicht zuletzt das (nicht eingehaltene) Versprechen seines Vaters, er würde ihm danach eine grosse «Goldorak»-Figur schenken – all das erzählt Sattouf derart packend und nachvollziehbar, dass nicht nur die männlichen Leser den Schmerz geradezu mitfühlen können. Gleichzeitig hat man dank Sattoufs schonungslosem Galgenhumor den Eindruck, selten ein so komisches Buch gelesen zu haben. Die Wahrhaftigkeit des autobiografischen Werks führte übrigens dazu, dass gewisse Organisationen Riad Sattouf wegen ethnischer Vorurteile, Antisemitismus oder wegen seines negativen Vaterbilds vor Gericht ziehen wollten…!

Christian Gasser



Riad Sattouf, «Ma circoncision»
L'Association, Paris, 2008
100 Seiten, Farbe, Softcover, Euro 18.–

Riad Sattouf, «La vie secrète des jeunes»
L'Association, Paris, 2007,160 Seiten schwarzweiss, Softcover, Euro 19.–

 

Nachhallende Ballade

Als «Storeyville» 1995 erstmals erschien – im Tabloid-Format und auf Zeitungspapier gedruckt – fiel es zwischen Stuhl und Bank. Von den
10'000 Exemplaren wurden gerade mal 1000 verkauft, die restlichen gratis in Bars, Kinos und Buchhandlungen verteilt. Frank Santoro gab das
Comic-Zeichnen zugunsten der Malerei auf, doch das vermeintlich vergessene «Storeyville» entwickelte sich langsam, nicht zuletzt dank
Chris Wares Fürsprache, zum heimlichen Klassiker der Neunzigerjahre.
Nun liegt es wieder vor, in einem geradezu luxuriösen, wunderbar gedruckten, grossformatigen Hardcover-Band. «Storeyville» erzählt die Geschichte des jungen Vagabunden Will, der während der grossen Depression auf der Suche nach seinem Mentor, dem schwarzen Hobo Reverend Rudy, von Pittsburgh nach Montreal trampt. Als er nach langer Suche seinen alten Freund trifft, schickt ihn dieser allerdings zum Teufel – es sei an der Zeit, dass Will auf seinen eigenen Füssen stehe.
Diese knappe Zusammen-fassung des Plots lässt auf einen etwas platten Entwicklungsroman schliessen, doch machen Erzählweise und Zeichnungen aus Wills ödipaler Odyssee auf der Suche zu sich selbst eine aussergewöhnliche, lange nachhallende Ballade voll leiser Dissonanzen. Bilder und Text sind fiebrig und skizzenhaft, sie deuten mehr an, als sie offenlegen, und verwirren den Leser stellenweise durch unerwartete Perspektivwechsel. Das Seitenraster ist zwar starr (meistens 5x3 Panels pro Seite), im Kontrast dazu wirken die kleinen Bilder, mit Bleistift und Tinte gezeichnet, schnell hingeworfen, unfertig und gerade deshalb ausgesprochen lebendig und von hoher Dringlichkeit.
Sehr raffi niert und stimmig ist auch die Kolorierung von Santoros damaliger Lebensgefährtin Katie Glicksberg: Die gelb-ocker-braunen Farbtöne tau-chen den bewegten Roadcomic in eine herbstlich melancholische Stimmung und verleihen ihm gefühls- und stimmungsmässig eine gewisse Ruhe. In seinem Vorwort nennt Chris Ware «Storeyville» einen «Wendepunkt in der Entwicklung der Comics». Das ist vielleicht etwas übertrieben – aber eine aussergewöhnlich schöne Geschichte ist es allemal.

Christian Gasser



Frank Santoro: «Storeyville».
Picturebox, New York 2007
52 Seiten, Hardcover, farbig, $ 24.95

Unterhaltendes Verwirrspiel

Leichte Verwirrung ist vorprogrammiert. Das kann aber kaum verwundern, denn der Protagonist in Matthias Gnehms neuem Comic «Das Selbst-
experiment» ist selbst ziemlich verwirrt.
Als der Wissenschaftler Frank Karrer nach dreimonatiger Forschungs-
tätigkeit aus seiner Enklave zurückkehren will, weiss er zwar immer noch nicht, wie Bewusstsein entsteht. Wenigstens ist ihm aber klar geworden, dass er seiner Freundin endlich einen Heiratsantrag machen sollte. Auf dem Heimweg trifft er eine Frau, die «Geist», einen Comic von Peter Röller, ausdrucken möchte. Karrer bietet an, den Ausdruck in seinem Labor zu erledigen. Dabei hat er die Gelegenheit, den Comic zu lesen, der – welch Zufall – die Entstehung von Bewusstsein untersucht. Danach ist Karrer wie verwandelt… Als schliesslich Röllers Atelier explodiert, übernimmt Kommissar Drechsler den Fall.
Dass Matthias Gnehm seinen neuen Comic nicht farbig gestaltet hat wie seinen regelrecht gemalten Erstling «Tod eines Bankiers», ist bedauerlich. Bei einem über 300-seitigen Werk ist der Verzicht auf Farbe allerdings schon aus rein ökonomischer Sicht verständlich. Ausserdem nimmt die hoch komplexe Story den Leser sowieso komplett in Beschlag. Bereits
beim Verständnis des Comics im Comic kann man leicht ins Trudeln geraten. Da hülfen auch Kenntnisse von Lacans Theorie des Spiegel-stadiums nur wenig.
Doch darum geht es wohl nur bedingt. Denn die Protagonisten weisen ebenso pathologische Züge auf wie die von ihnen ausgebreiteten Theorien – seien es nun Karrers Forschungen über die Eifersucht und das Bewusstsein oder die Verschwörungstheorien des Kommissars. Gnehm mischt nachvollziehbare Theorien mit fantastischen Elementen und reichert das Ganze mit absurdem Humor an. «Das Selbstexperiment» ist ein kluges und unterhaltendes Verwirrspiel, das nicht nur mit dem «falschen» Leinenumschlag von Röllers Comic «Geist» überrascht.

Christian Meyer



Matthias Gnehm: «Das Selbstexperiment». Edition Moderne
336 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag s/w, Euro 25.- / sFr. 39.80

Deutscher Spion in Japan

In Ozamu Tezukas Manga «Adolf» ist er einem bereits als Nebenfigur begegnet: Richard Sorge, der deutsche Spion der Russen in Japan. Über seine historische Relevanz und sein Schicksal erfährt man nun viel Neues in Isabel Kreitz’ Comic «Die Sache mit Sorge». Dieser trägt – dank eines Umfangs von knapp 250 Seiten und grosses dramatischen Gehalts – zu Recht den Stempel Graphic Novel.
Richard Sorge arbeitet Anfang der Vierzigerjahre als Journalist in der deutschen Botschaft in Tokio. Dort lektoriert er offi ziell das hauseigene Magazin. Vor allem gelingt es ihm aber, aufgrund seiner Freundschaft zu hochrangigen Botschaftsangestellten an geheime Informationen zu gelangen. Als er von Hitlers Plänen erfährt, trotz des Nichtangriffspaktes Russland zu überfallen, ist er erschüttert. Der Antifaschist Sorge will Hitler aufhalten, Stalin muss unbedingt gewarnt werden. Das gelingt, doch die Russen wollen Richard Sorges Informationen einfach nicht glauben.
Isabel Kreitz hat in ihren bisherigen Alben bewiesen, dass sie ein gutes Gespür für realistische Szenarien hat, auch wenn es dort immer wieder fantastische Momente gab. Mit «Die Sache mit Sorge» begibt sie sich nun auf historisch fundiertem Grund. Dem Comic liegt eine ausgiebige Recherche zugrunde. Das merkt man der Story an, man sieht es aber auch an dem in weichen Kohlezeichnungen dargestellten Geschehen. Die Ausstattung der Geschichte – Mode, Architektur, Strassenleben und damalige Umgangsformen – sind glaubwürdig und kleinteilig dargestellt und vermögen den Leser zu fangen. Ebenso detailliert zeigt Kreitz im Übrigen auch die Charaktere. Vor allem Sorge als zwischen politischem Idealismus, verletzter Eitelkeit und egozentrischem Lebenswandel zerrissener Mensch wird lebensnah dargestellt. Kreitz’ Sympathie für den Spion kommt dabei deutlich zum Ausdruck.

Christian Meyer



Isabel Kreitz, «Die Sache mit Sorge»
Carlsen
256 Sei-ten, Hardcover, s/w
Euro 19.90 / sFr 34.70

Beängstigend hermetisch

Der Meister des Schabkartons ist zurück. Thomas Ott, der bislang seine düsteren Fantasien in Kurzgeschichten und Einzelbildern ausgelebt hat, legt mit «The Number 73304-23-4153-6-96-8» seine erste lange Erzählung vor. Wesentliches hat sich dadurch aber nicht geändert.
Otts Werk ist in den Kurzgeschichtensammlungen «Tales of Terror», «Greetings from Hellville» und «Dead End» umfangreich dokumentiert.
Die Titel sprechen für sich: Thomas Ott vermag auf wenigen Seiten ein Panoptikum des Grauens zu entwickeln. «Cinema Panoptikum» ist denn auch der bezeichnende Titel seines letzten Bandes aus dem Jahre 2005.
In der nun vorliegenden Erzählung werden Otts im wahrsten Sinne des Wortes grauenvolle Kurzgeschichten erstmals von einer Rahmenhandlung zusammengehalten.
Am minimalistischen Prinzip seiner Erzählungen hat sich durch das längere Format aber nichts geändert. «The Number» kommt komplett ohne Text aus. Die Seiten sind in ein, drei oder vier Panels aufgeteilt. Die Zeichnungen auf Schabkarton weisen mit den nervösen, an Stiche erinnernden Strichen eine für Otts Werk charakteristische Unruhe aus, während die detailreichen Zeichnungen und die Strenge der Gliederung angespannte Ruhe suggerieren. Durchnummerierte Kapitel unterteilen die Geschichte um einen Henker, dessen Schicksal sich schlagartig ändert, als er unter dem elektrischen Stuhl einen Zettel findet, den das letzte Hinrichtungsopfer hat fallen lassen. Die auf dem Zettel gedruckte Zahlenreihe bestimmt von nun an das Leben des Henkers. Zunächst bringen ihm die Zahlen ein kurzes Glück, doch dann wendet sich das Blatt und der Absturz folgt rasch und unaufhaltsam.Thomas Otts düstere, übersinnliche Geschichte erinnert an David Lynchs Erzählkunst und ist ebenso unauflösbar. Eine innere Logik ist der Geschichte eingeschrieben, das Werk bleibt aber beängstigend hermetisch.

Christian Meyer

 


Thomas Ott
«The Number 73304-23-4153-6-96-8»
Edition Moderne
144 Seiten, Halbleinenband, s/w
Euro 19.80 / sFr. 35.–

Meisterhafte Absichten

1952 zerstört eine verheerende Feuerbrunst nahezu die gesamte japanische Stadt Tottori. Als die grösste Brandkatastrophe nach dem Krieg geht das Ereignis in die Geschichte Japans ein.
Dieses historische Ereignis dient Jiro Taniguchi als Ausgangspunkt und Metapher für einen Comic über das Auseinanderbrechen einer Familie. «Die Sicht der Dinge» beginnt in der Gegenwart des Protagonisten Yoichi Yamashita. Der in Tokyo lebende Grafiker erfährt, dass sein Vater gestorben ist, und macht sich daher – erstmals nach über 15 Jahren – auf den Weg nach Tottori, seinem Heimatort. Sein schlechtes Gewissen gegenüber der Mutter und der zurückgebliebenen Schwester sowie der tiefe Groll, den er für seinen Vater hegt, haben ihn Kindheitserinnerungen verdrängen und vergessen lassen. Nun aber ist sein Vater, den er über all die langen Jahre nicht mehr gesehen, tot. Während der Totenwache lauscht Yoichi den Erzählungen der trauernden Familie und Verwandten und stellt fest, dass seine Sicht der Dinge ganz und gar nicht mit der Vergangenheit übereinstimmt. Zu dem Verlust und der Trauer über den Tod hat Yoichi zusätzlich mit der Erkenntnis zu kämpfen, dass er seinem Vater über all die Jahre Unrecht getan hat.«Die Sicht der Dinge» ist ein absolutes Meisterwerk. Es gelingt Taniguchi vortreffl ich, den Leser mit seiner dichten und spannenden Narration zu fesseln. Durch zahlreiche Rückblenden, welche er gewandt in die erzählerische Gegenwart einbettet, lässt er den Leser an dem inneren Konfl ikt und dem aufkommenden Zweifel des Protagonisten teilhaben. Unweigerlich wird der Leser dazu angetrieben, über die eigene subjektive Wahrnehmung von Ereignissen und den Blick auf die Vergangenheit nachzudenken. Taniguchis aussergewöhnlicher Manga ist darüber hinaus eine sensible Auseinandersetzung mit einer traumatisierten Kriegsgeneration, deren emotionale und kommunikative Fähigkeiten verloren gegangen sind, worunter vor allem die nachfol-
genden Kinder zu leiden haben.Taniguchi hat einen melancholischen und emotional berührenden Comic geschaffen, dessen einzigartige Aura in Taniguchis unabwendbaren Glauben an humanistische Ideale begründet liegt. Denn Tottori ist nicht nur der Geburtsort des Protagonisten, sondern auch derjenige von Taniguchi selbst. Und wie sein Protagonist kehrt auch Taniguchi nach über 15 Jahren dorthin zurück, um seine Eltern zu besuchen.

Matthias Schneider



Jiro Taniguchi, «Die Sicht der Dinge» Carlsen
278 Seiten, Softcover, s/w
Euro 14.– / sFr. 24.90
Carpe noctem

In Norwegen, der Heimat von Nemi-Zeichnerin Lise Myhre, ist das Gothic-Girl längst Kult. Seit sie 1997 ihren ersten Auftritt in Gary Larsons Far Side Magazine hatte, ist ihre Popularität ständig gewachsen. Mittlerweile erscheinen ihre Strips in Skandinavien, England und Schottland in über 75 Zeitungen. Im deutschen Sprachraum ist Nemi aber (noch) relativ unbekannt und war bislang lediglich im Szenemagazin Orkus sowie in einem ersten Sammelband von 2006 zu sehen. Jetzt erscheint Band 2, und auch dieser ist wieder randvoll mit den meist vier Panels langen, in Schwarzweiss und Grautönen gehaltenen Strips.
Wie gesagt ist Nemi ein Gothic-Mädchen. Sie kleidet sich ausschliesslich schwarz, hat lange schwarze Haare und blasse Haut, mag Drachen, Hexen, Herr der Ringe und Heavy Metal. Gleichzeitig tut sie aber auch Dinge, die viele junge Frauen tun: Sie raucht und trinkt, schlägt sich mit Männern herum, ist eher faul und auch ein bisschen schlampig. Überhaupt führt sie ihr toughes Äusseres immer wieder selbst ad absurdum, indem sie beispielsweise ihrer Leidenschaft für Schokolade freien Lauf lässt oder ver-sucht, in der Tiefkühltruhe einen Schneemann vor dem Tod zu bewahren. So lebt die Figur vor allem von ihren Gegensätzen. Kommt sie einerseits sexy und unnahbar daher, wirkt sie andererseits häufig auch mädchenhaft. Sie legt grossen Wert auf Styling, bringt es aber fertig, ihrer Date-Bekanntschaft vor die Füsse zu kotzen. So ist Nemi vor allem eines: sehr menschlich. Mit Horror-Kitsch, etwa im Stile von «Emily the Strange», hat sie definitiv nichts am Hut.
Ein grosser Teil der Pointen entsteht im Zusammenspiel mit Nemis bester Freundin Cyan, die die einzige ständig wiederkehrende Nebenfigur ist. Im Gegensatz zu Nemi ist Cyan ein Normalo-Mädchen mit geregeltem Job und unauffälligem Äusseren. So trifft die Nacht auf den Tag, schwarze Kleidung auf bunte, früh-schlafen-gehen auf nächtliche Friedhofsspaziergänge, Rationalismus auf Mittelalter-Phantasien. Doch nicht alle Geschichten basieren auf Nemis Szenezugehörigkeit. Nemi schlägt sich auch mit ganz gewöhnlichen Problemen herum wie Abwaschen, schlechten Fernsehserien oder der neuen Frau ihres Vaters.
Auffällig und extrem witzig sind Nemis stellenweise stark überzeichneten Gesichtszüge. Meistens zeigt sie keinerlei Gefühlsregungen und bleibt völlig cool. Daneben gibt es aber auch Panels, in denen sie von Ohr zu Ohr grinst, ihr die Kinnlade herunterklappt oder sich ihre Augen riesenhaft vergrössern. Hier werden dann in die ansonsten relativ «realistisch» und mit klaren Linien gezeichneten Figuren klassische Cartoon-Elemente eingebaut, die in ihrer Überzogenheit manchmal an Manga erinnern. Nicht nur Gruftis und Metal-Fans dürften an Nemi ihre helle, Verzeihung: dunkle Freude haben.

Jan Westenfelder



Lise Myhre, «Nemi. Band 2»
Ubooks
144 Seiten, Hardcover, s/w
Euro 19.95 / sFr. 35.90

Kurioses jagen, Unheimliches malen

Einer der interessanteren Comics, der es in letzter Zeit auf meinen Schreibtisch geschafft hat, ist «The Aviary» von Jamie Tanner, einem noch nicht allzu bekannten Autor, der bisher nur kurze Comics in diversen Anthologien publiziert hat. Chris Pitzer vom amerikanischen Verlag Adhouse gab Tanner die Chance, erstmals ein umfangreiches Buch zu veröffentlichen, ein Buch aus verwobenen Geschichten und Themavariationen, das nur schwer zu beschreiben ist. «The Aviary» ist ein ausuferndes Märchen, prallvoll mit Kuriositäten, Stripperinnen, Pornofi lmen, katzenköpfigen Menschen, unternehmerischen Affen, sprechenden Hunden, bizarren Vogelmenschen-Puppen, Amputationen, Scherzartikeln, exotischen Reisen und Kino. Aber das wäre erst der Anfang einer Beschreibung… Regelmässig auftauchende Themen wie die Entstehung von (nicht zwingend sexuellen) Obsessionen, das Zusammenspiel von Kunst und Kommerz, die Bedeutung von Gedächtnis, Kunst und Tod sowie die verblüffenden Effekte der Wiederholung sind der Stoff, den Tanner so ernsthaft wie spielerisch zu einem grossen Ganzen verwebt.Tanners erzählerischer Geist, die Schwerpunkte seiner Geschichten, aber auch seine sauberen Schwarzweisszeichnungen erinnern den Leser an Ware, Kim Deitch, Rich Geary, und – wo es bizarr und ungemütlich wird – an Renée French. Oder vielleicht auch an die wunderbaren Comics, die Brian Biggs verfasste, bevor er sich auf Illustrationen und Kinderbücher verlegte. Alles Namen jedenfalls, die einem jungen Comic-Künstler als Vorbilder gut anstehen.
«The Aviary» ist ein ehrgeiziges Buch, das vielleicht nicht ganz perfekt ist, das aber, wie eine der in ihm spielenden Figuren sagen könnte, die Sinne erfreut und das Hirn verblüfft.

Merkwürdige Themen und ein Interesse am frühen 20. Jahrhundert haben auch Nick Bertozzi umgetrieben, als er «The Salon» verfasste. Der Titel verweist auf die legendären ausgelassenen Zusammenkünfte von Künstlern und Intellektuellen, die einst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der Pariser Wohnung von Gertrude Stein und ihrem Bruder Leo stattfanden. Bertozzi meint, er habe eigentlich einen Comic über die Entstehung des Modernismus zeichnen wollen, sei dann aber zur Erkenntnis gekommen, seitenweise Malern und Schriftstellern beim Debattieren in Ateliers und Cafés zuzusehen, könnte eventuell langweilen. Anstatt eine geradlinige Geschichtslektion zu liefern, drapiert Bertozzi seine Entwicklungsgeschichte des Modernismus um einen mysteriösen Mordfall: Jemand scheint die Vertreter der neuen Generation von Avantgarde-Künstlern einen nach dem anderen töten zu wollen, weshalb sich einige von ihnen zusammentun, um den Killer aufzuspüren.
Bertozzi zeigt Reife und beeindruckt als Zeichner und Erzähler. «The Salon» ist ein gescheites, trotz-dem nie pedantisches Werk, lehrreich, aber auch vergnüglich und witzig. Sollte einem die Geschichte hie und da etwas unglaubwürdig erscheinen, kann man sich stets an die Kunstge-schichtslektion halten, die sich nahtlos mit der Detektivarbeit verbindet. So unangestrengt kommt die Geschichte daher, dass auch eher fantastische Elemente wie z.B. der blaue Absinth, der dem Trinker erlaubt, physisch in Bilder einzudringen und deren Welten zu erforschen, überhaupt nicht fehl am Platz wirken.
Bertozzis erzählt seine perfekt ausgeklügelte Geschichte mit einer selten anzutreffenden narrativen Perfektion. Doch letztlich sind es die Zeich-nungen, die «The Salon» zu einer Glanzleistung machen. Bertozzis zeichnerisches Können erreicht in «The Salon» locker das Niveau europäischer Zeichner wie Sfar, Blain oder Larcenet. Seine Bilder sind schlichtweg grossartig – geschmeidig und voller Energie, grosszügig in wunderbare schwarze Tinte getaucht. Und erst die Farbe! Durch sie wirkt das Buch wie eine Hausbar voll exotischer Liköre, mit von innen leuchtendem Limonengrün, dynami-schem Purpur, brennendem Orange und schockierend intensivem Neonblau.
Zum Abschluss noch eine Spitzfindigkeit: Die wunderschönen Seiten und Panels verdienten eigentlich eine grössere Bühne als dieses eher kleinformatige Buch. Zudem ist die Schrift – eine an sich clevere Anlehnung an die Art Nouveau – vor allem für ältere Leser manchmal nur sehr schwierig zu entziffern.

Mark Nevins



Jamie Tanner, «The Aviary»
Adhouse Books, 2007
312 Seiten, s/w, $ 12.95


Nick Bertozzi, «The Salon»
St. Martin’s Press, 2007
184 Seiten, farbig, $ 19.95

Schlechte Luft
Eine Mutter ist nicht da und die Tante wird es langsam müde, die Witze des Dorfes über sich ergehen zu lassen. Für den Vater jedoch ist das tierhafte Aussehen seines Sohnes nichts als normal. Wortlos erträgt er die ständigen Sticheleien der Arbeitskollegen in der Fabrik, in welcher Essbesteck hergestellt wird. Mit Essen hat schliesslich auch die Kata-strophe zu tun, in die «Bar Miki» von Michelangelo Setola mündet.
Setola, der den letztjährigen Wettbewerb am Luzerner Comic-Festival Fumetto gewann und dank dieser Unterstützung den nun vorliegenden Band realisieren konnte, stammt aus dem Umfeld des in Bologna produzierten Magazins Canicola (siehe dazu STRAPAZIN Nr. 86). Es fördert innovative Comics, die in der Regel durch einen unkonventionellen Erzähl- und Zeichenstil auffallen. So ist auch der Strich Setolas nicht alltäglich. Seine Zeichnungen haben etwas Unstetes und Fleckiges. Doch was auf den ersten Blick dilettantisch wirken mag, dient in Wirklichkeit der Atmosphäre seiner eindringlichen Geschichte. Man scheint den Metallgeruch und die schlechte Luft der Industriezone förmlich durch die grauen Schleier zu riechen, die sich manchmal über die Panels legen. Setola erreicht damit eine selten gesehene Einheit zwischen Text und Bild und schafft mit «Bar Miki» ein melancholisches, aber nie sentimentales Sozialdrama.

Tim Kongo



Michelangelo Setola, «Bar Miki»
Edition Moderne/Fumetto
52 Seiten, Softcover, s/w
Euro 20.–/ sFr. 30.–
Lachen mit Stil
Die Erscheinungsformen des Berliner Comiczeichners Nettmann sind vielfältig. Mal taucht er als DJ im «Erdbeer» auf, mal als strenger Waldmeister wie in der letzten, sehr gelungenen «Renate»-Box. Seit bald zwanzig Jahren führt er ausserdem ein zweites Leben als Comicfigur, und zwar in kleinen Heftchen, die es bisher geschafft haben, emsig durch die Maschen des Marktes zu schlüpfen – was sie mittlerweile zu gefragten Sammlerobjekten gemacht hat.
Die Comicfigur Nettmann ist ein maskierter Superheld von kleiner Gestalt, der ausser seiner Schlagfertigkeit über keine weiteren Superkräfte verfügt. Seine Dreistigkeit verpackt er in Liebenswürdigkeit, womit er das Absurde von Alltagssituationen und Redensarten zu Tage fördert. So geschieht es auch in seinem neuesten Heft «Bomben und Rosinen», wo es Superheld Nettmann unter anderem mit Schönheitschirurgen, Heiligen, Exhibitionisten und Neonazis zu tun bekommt.
Der Zeichner verwendet für seine Einbild-Geschichten Kopien ikonenhafter Charaktere aus der Geschichte des Zeitschriften-Comics; Figuren, die einem vorwiegend aus jenen Kindertagen bekannt sind, als man im Friseursalon auf einen unerwünschten Haarschnitt warten musste. Hinzu kommt ein wahres Arsenal hübscher Details, die den Büchern Nettmanns etwas fast Liebevolles verleihen und deren genaue Betrachtung sie zu einem Vergnügen der ganz besonderen Art machen.

Tim Kongo




Nettmann, «Bomben und Rosinen»
Edition 52
56 Seiten, Softcover, s/w
Euro 4.– / sFr. 8.90

Landflucht
«Fernanda's Fabulous Live» heisst das neue Album der Hamburger Comiczeichnerin Jule K., die dem geneigten STRAPAZIN-Leser seit geraumer Zeit ein Begriff ist. Wie in «Strange-Girls» und «Cherry Blossom Girl» sind auch in dieser schönen Som-mergeschichte die Hauptfiguren junge Frauen, die ihre Träume gegen die Begehrlichkeiten der Aussenwelt verteidigen.In «Fernanda›s Fabulous Live» besteht die Aussen-welt im Wesentlichen aus einem spiessigen Nest namens Grasfeld. Dorthin führt ein Stipendium die bisher erfolglose Künstlerin Fernanda. Die Kühe, die sie bei der Ankunft begrüssen, scheinen noch die umgänglichsten Wesen zu sein, und alles sähe ziemlich bitter aus, wäre da nicht der hübsche Ex-Grasfelder Mickey und Lin, die nette Verkäuferin, mit der Fernanda eine Band gründet.Vor schönem und manchmal retromässig anmu-tendem Hintergrund erzählt Jule K. von den Wirren junggebliebener Frauen, oft in lakonischer Art und Weise und mit dem ihr eigenen, sympathischen Humor. Jule K. ist ihrem Stil, der die Kunstschule überlebt hat, ohne dabei seine Unschuld zu verlie-ren und bei dem Ästhetik bisweilen wichtiger ist als Physik, treu geblieben und schafft somit eine Welt, die zuweilen besser ist als die unsrige.

Tim Kongo



Jule K., «Fernanda‘s Fabulous Life»
Edition 52
60 Seiten, farbig, Softcover
Euro 12.– / sFr. 22.30

Kafka als Comic
Übertragungen von literarischen Werken in die Kunstform des Comics sind immer ein heikles Unterfangen. Die Darstellung in Bildern droht die Erzählung zu verflachen, weil die besondere Sprache des Autors verloren geht. David Zane Mairowitz hat sich dieser Gefahr jedoch bereits mehrmals erfolgreich ausgesetzt und nun, gemeinsam mit Robert Crumb, auch Kafka einen Band gewidmet. Darüber hinaus hat Mairowitz den «Prozess» als Theaterstück bearbeitet und dürfte somit der ideale Kandidat für die Comic-Adaption gewesen sein. Mit der Französin Chantal Montellier stand ihm dabei eine Künstlerin zur Seite, die schon auf mehrere erfolgreiche Graphic Novels zurückblicken darf. Zuletzt sind von ihr «Tschernobyl, mon amour» und «Sorcières, mes sœurs» erschienen.
«Der Prozess» erzählt die Geschichte von Joseph K., der verhaftet wird, ohne den Grund dafür zu kennen, und sich daraufhin in ein albtraumhaftes Labyrinth der Bürokratie begibt. Doch nie gelangt er bis zur höchsten Instanz, und bis zum bitterbösen Ende wird er nie erfahren, worin seine Schuld besteht. Die beklemmende und erdrückende Atmosphäre der Vorlage hat Montellier in düsteren Schwarzweiss-Zeichnungen umgesetzt, die grösstenteils realistisch gehalten sind. Besonders die Hintergründe sind oft detailreich. Gleichzeitig brechen immer wieder surrealistische Elemente und solche des Film Noir in die Bilder ein, die K.'s Gefühls- und Gedankenwelt oder die Atmosphäre einer bestimmten Situation trefflich abbilden. So tanzt beispielsweise immer wieder ein kleines Skelett durch die Bilder und lässt einen dadurch das unheilvolle Ende erahnen.
Montelliers Erzählweise ist lebendig und intensiv. Panels werden aufgebrochen und überlappen sich. Mitten hinein wird auch mal ein Zoom auf Bilddetails montiert. Die Darstellung K.'s ist am Porträt Kafkas orientiert. Dies ist sicher legitim, da der «Prozess» starke autobiografi sche Züge trägt. K.'s Kopf wirkt dabei stellenweise wie ausgeschnitten und auf den Körper gesetzt, was an Trickfilmsequenzen der alten Monty-Python's-Filme erinnert.
Muss man sich anfangs noch etwas im ungewöhnlichen Erzählstil zurechtfi nden (was nicht zuletzt auch an der literarischen Vorlage liegt), so wird man nach und nach immer stärker in die Geschichte hineingesogen. «The Trial» ist ein faszinierender Ritt durch die ebenso skurrile wie erschreckende Gedankenwelt Kafkas. Somit ist hier eine mehr als gelungene Adaption entstanden, die dem Original durchaus gerecht wird. Die Lektüre sei allerdings nicht vor dem Einschlafen empfohlen – die bedrückenden Bilder könnten durchaus Albträume verursachen.

Jan Westenfelder




Chantal Montellier / David Zane Mairowitz, «Franz Kafka’s The Trial»
SelfMadeHero, London 2008
128 Seiten, s/w, Softcover, £ 12.99